3. Platz

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Milseburg

In meiner Jugend habe ich
zum ersten Mal
Dich, schöner Berg,
erwandert und erstiegen.
Ich schaut‘ und schaute dazumal
und sah ringsum in großer Zahl
die Berge und die Dörfer liegen.

Ein Felsenberg, so schroff und
wie ein Sarkophag, in sanfter
Landschaft türmt er sich empor.
So manche Sage spann sich Jahr
und Tag, vom Riesen Mils,
der darin begraben lag.
Die Phantasie der Röhner
brachte das hervor.

Dann war ich viele Jahre nah
und doch so fern, denn eine
Grenze trennte unser Land.
Ich träumt hinüber, wäre doch so
gern gewandert unter meinem
guten Stern, hinauf zum Berg,
der mir so wohl bekannt.

Nun hat sich mir der Wunsch
erfüllt und Jahr für Jahr besteig
ich, schöner Berg dich wieder.
Ich wandre, dass sich meine
Sehnsucht stillt und mir der
frische Wind die Schläfen
kühlt und sing‘ mit
Kameraden frohe Lieder.

Gerda Quentel

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Damien

Früher war ich still. Ich habe nichts gesagt.
Ich habe alle Beleidigungen und Mobbingattacken stillschweigend über mich ergehen lassen. Ich habe alles einfach geschehen lassen.
Ich war sehr schüchtern.
Oft habe ich geweint. Oft hatte ich Angst. Angst vor dem nächsten Schultag.
Angst vor neuen Beleidigungen. Angst vor ihnen.
Ich wollte nicht dort hin.
Oft war ich traurig und habe mich allein gefühlt.
Ich vermisste etwas. Ich vermisste Jemanden.

Heute bin ich stärker als früher. Heute sage ich etwas, wenn sie mich beleidigen oder ärgern. Heute habe ich Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Heute habe ich eine beste Freundin, der ich alles anvertrauen kann, die immer ein offenes Ohr für mich hat.
Trotzdem fühle ich mich manchmal allein. Manchmal muss ich einfach weinen.
Wie aus dem nichts muss ich weinen.
Ich vermisse Jemanden. Ich vermisse ihn. Ich habe ihn zwar nie gesehen, trotzdem vermisse ich ihn.

Vor Kurzem wurde mir das erste Mal wirklich bewusst, dass ich ihn kannte. Ich verbrachte vier Monate mit ihm. Vier Monate verbrachte ich mit ihm, bevor er starb.
Ich lernte diese Welt allein kennen. Dank ihm durfte ich leben. Dank ihm konnte ich diese Welt kennenlernen, musste aber bald feststellen, dass diese Welt nicht so wundervoll war, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Ich frage mich oft, wie es wäre, wenn er leben würde.
Er wäre hier.
Er wäre bei mir, an meiner Seite.
Er wäre für mich da.
Er wäre ein Teil von mir.
Er wäre mein Zwillingsbruder.

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Freiheit auf dem Heimweg

Die Bustüren öffnen sich vor ihr. Raus aus dem stickigen Bus. Die Bustüren schließen sich hinter ihr. Sie läuft auf der rechten Straßenseite, neben ihr fließt der kleine Bach, überall liegt Müll. Die armen Forellen, denkt sie. Und dann bleibt sie stehen. Sie hört Kraniche rufen und blickt auf. Sie ziehen über ihr. Mindestens 200 schwarze Striche, weit über ihr. Sie steht mitten auf der Straße, blickt nach oben und dreht sich. Die Kraniche sieht sie nicht mehr. Die Bücher drücken ihr in den Rücken. Im Kopf geht sie die Fächer durch, die sie morgen hat – Englisch, Chemie und Geschichte, dazwischen eine Freistunde. Chemie versteht sie nicht. Sie wäre froh, wenn sie Chemie morgen nicht hätte. Sie kommt an der Litfaßsäule vorbei. Die Theatervorstellung war vor fünf Wochen und der Zirkus ist auch schon länger weg. Sie läuft weiter. Der schwarze Hund mit dem Knick im Ohr bellt sie an und läuft am Holzzaun hin und her. Sie mag diesen Hund nicht. Noch weniger mag sie seinen Besitzer, der trinkt bei der Kirmes und beim Osterfeuer zu viel. Ach, wie sie das hasst. Sie überquert die Straße. Kickt einen Stein in Richtung Bäcker. Das Geöffnet-Schild steht auf dem dreckigen Bürgersteig. Der Geruch von Pferdemist schlägt ihr in die Nase. Sie läuft bergauf am geschlossenen Schlecker vorbei. Dort hat sie sich immer vor der Verkäuferin gegruselt. Die Räume sind leer. Jetzt muss sie 20 Minuten mit dem Fahrrad fahren, um zum Supermarkt zu kommen. Hin ist es leicht, doch bergauf mit dem Einkauf ist anstrengend. Sie liest das „Hier wache ich“- Schild. Der Schäferhund springt laut scheppernd gegen die Gitterstäbe. Sie schreckt leicht auf und verdreht die Augen. Sie läuft weiter. Der Asphalt hat hier drei Risse. Sie biegt links in die Straße ein und vorne beim grün gestrichenen Haus dann rechts. Auf dem Hausdach wächst eine kleine Birke und der Garten ist mit Hagebuttensträuchern übersät. Der Ziergarten ihrer Nachbarn sieht dagegen unecht aus. Die Nachbarin versteht keine Witze und ihr Ehemann schmeißt die faulen Äpfel in ihren Garten.

Sie macht ihre Haustür auf. Die Kraniche rufen fern im Tal. Die Haustür schließt sich hinter ihr.

Cora Berthold

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Patagonien

Ein Reich, das wie kaum ein zweites die Gedanken und Gefühle vieler großer Menschen beflügelt hat. Der Zauber, er ist auch heutzutage noch nicht erloschen – hinein also in die Heimat des Windes, auf also in das Land des Abenteuers, und bis an das Ende der Welt!

Eine ewige Busfahrt brachte mich tiefer in diese verlassenen Ebenen hinein. Über einen gesamten Tag lang schipperte ich über die berühmte Ruta 40 und einen Teil ihrer 5301 Kilometer. Hier gibt es nichts mehr, nur die endlosen Weiten der Patagonischen Steppe. Nie zuvor in meinem Leben, hatte ich solche Horizonte gesehen. Dieses Land ist so weit … man versteht sofort, wie sich die legendären Gesetzlosen Butch Cassidy und Sundance Kid hier jahrelang erfolgreich verstecken konnten. Nur die wilden Guanakos, die Stammform der Lamas, durchstreifen hier einsam das Gras.
Als Charles Darwin im 19. Jahrhundert die Welt umsegelte, schrieb er:

„Wenn ich mir Bilder aus der Vergangenheit zurückrufe, so bemerke ich, dass die Ebenen von Patagonien häufig vor meinen Augen erscheinen. Warum haben denn nun diese dürren Wüsten sich einen so festen Platz in meinem Gedächtnis errungen? Ich kann diese Empfindungen kaum analysieren. Sie müssen aber die Folge davon sein, dass hier der Einbildung volle Freiheit gegeben ist. Die Ebenen von Patagonien sind ohne Grenzen, denn sie sind kaum zu durchqueren und daher unbekannt. Sie sind dadurch geprägt, dass sie Jahrhunderte lang so bestanden haben, wie sie jetzt sind, und es scheint keine Grenze für ihre Dauer durch künftige Zeiten zu bestehen.“

Tatsächlich sieht hier noch immer herzlich wenig nach moderner Zivilisation aus. Mein Glück war es, zeitlich wieder einmal perfekt unterwegs gewesen zu sein. Im Dezember und Januar ist Patagonien am schönsten – außerhalb dieser hiesigen Sommerzeit, kann man einige Gebiete erst gar nicht erreichen: Wege sind gesperrt, Flüsse nicht passierbar, Fähren außer Betrieb. Ich fand mich im kleinen Dorf El Chaltén ein, welches sich inmitten eines Nationalparks befindet und damit erst recht abseits aller urbanisierten Welt. Der erst 1985 gegründete Ort ist einer der jüngsten ganz Argentiniens und gilt als das Trekkingparadies des Landes. Hier soll es dessen schönste Wanderrouten geben. Für lange Zeit war diese Natur völlig unberührt. Vor gerade einmal 150 Jahren kamen die ersten Pioniere in diese Gegend. Und man erkennt schnell, warum sie blieben: dieses Fleckchen Erde befindet sich in dramatisch kraftvoller Lage; eingebettet von Bergen und Gletschern, durchströmt von den Winden der Wildnis.

Eines der ersten Dinge, die ich beim Betreten des Zimmers meiner rustikalen Herberge sah, war Jon Krakauers Buch In eisige Höhen. Ein Werk, durchtränkt von einer Stärke, wie sie oft nur die innere Notwendigkeit zum Schreiben zu geben vermag. Es musste Zeugnis abgelegt werden, nachdem der Autor als einer von nur Wenigen eine spektakuläre Besteigung des Mount Everest überlebt hatte. Ganz klar bei solcher Lektüre: im Bett neben mir lag ein Abenteurer. Hier versammeln sie sich: die Kletterer, die Bergsteiger und Wanderer; begehen mit Eisschuhen die Gletscher, spannen Laufseile über riesige Abgründe, schlafen wochenlang im Freien. Alles ist auf sie eingestellt – von Läden mit neuester Bergausrüstung bis hin zu zünftigen Hütten der Einkehr.

Viele Routen existieren hier. Heranwagen musste ich mich gleich an eine der anspruchsvollsten, die auf den Namen „Laguna de los tres“ hört. Lange erstreckt sich der Pfad bis zu einer Stelle, an der man dem berühmtesten Berg dieser Gegend von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht: dem Fitz Roy. Benannt nach dem Kapitän der Beagle, eben jenes Schiffes, welches Darwin um die (vornehmlich südamerikanische) Welt brachte. In der Sprache der Tehuelche, der hiesigen Ureinwohner, besitzt er auch den Namen Chaltén: der Rauchende. Tatsächlich ist seine 3406 Meter hohe Spitze meist von Wolken umhüllt.

Der Weg führt vorbei an weißen Flüssen aus trinkbarem Gletscherwasser, durch dichtbewachsene Wälder mit knochigem Totholz, über riesige Lichtungen und Meere aus Gras hinweg, und schließlich hinauf zum Berg. Der Wind läuft zu seiner Höchstform auf; hier ist er ungestört. Insgeheim fragte ich mich oft, wo er wohl gerade herkam: „Weht einem jetzt der Duft der Anden um die Nase, kann man noch salzige Überreste des Stillen Ozeans aus dem Westen wahrnehmen, oder hast du gar eine noch längere Reise hinter dir compañero, und kommst weit von Süden her, aus der Antarktis?“ Selten spricht er, verrät sein Geheimnis fast nie. Freimütiger tritt da die Umgebung mit einem in Kontakt und entfaltet ihre seltsam ehrfurchtgebietende Kraft. Hier sind nicht die Alpen, mit ihrer stillen Harmonie – die Schönheit Patagoniens, sie ist eine raue.

Unterwegs begegnete mir lange Zeit keine Menschenseele, dann wieder stieß ich im Wald gleich auf ein ganzes Zeltlager. Man hatte sich an einer wichtigen Kreuzung niedergelassen, an der verschiedenste Routen zusammenlaufen. Eine Weile blieb ich dort, hatte lange und interessante Gespräche, etwa zu einem Topf Bohnen. Ein kleines Camp der Wandervögel; alle sichtbar glücklich, unter Gleichgesinnten zu sein. Obwohl es nicht sonderlich kalt war, blieb ich kurze Zeit später wie vor Eis erstarrt stehen. Am Horizont war plötzlich eine uralte, archaische Macht der Natur aufgetaucht, die mir ihre Kältewellen von fern zusandte. Mir war, als könnte ich sie direkt auf meiner Haut spüren. Der Gletscher befand sich genau zwischen zwei Bergen, und seltsam graues Gehölz ebnete den Weg zu ihm – als liege dort der Eingang zu einer fremden, gefährlicheren Welt.

Schließlich war ich am Fuße des Berges angekommen. Der letzte Kilometer der Wanderung sollte härter werden, als alle vorherigen. Unbarmherzig, über Geröll und Gestein, immer steil bergauf. Die Inkatreppen, denen ich Monate zuvor in Peru begegnete, waren zwar immer noch härter, doch auch hier kam man wirklich aus der Puste. Jetzt verstand ich, warum dieser Trail auf meiner kleinen Wanderkarte den höchsten der erreichbaren Schwierigkeitsgrade besaß. Oben angekommen, wurde man jedoch für alle Anstrengung entschädigt: Die Gipfel des Fitz Roy-Massivs, welche mit ihrer Schönheit offensichtlich nicht ohne Grund das Werbebild Nummer eins für Patagonien sind. Darunter zwei magische Bergseen, über kleine Wasserfälle vom darüber liegenden Gletscher gespeist; ein Hellblau, wie aus einer Feenwelt.

Noch schlimmer wurde dieser steile Anstieg auf dem Weg hinunter: nicht so anstrengend, doch unglaublich belastend für die Knie. Das bescherte einige Schmerzen und auch die Füße rebellierten bereits seit Längerem. Der Rückweg führte dann lange Zeit entlang eines Berghangs, was wunderbare Ausblicke bescherte und den Geist zur Ruhe brachte. Zur Abenddämmerung kam ich in mein Dorf zurück.

Eine intensive körperliche Erfahrung, doch noch mehr als das. Die Welt der Berge – warum suchen sie die Menschen wieder und wieder auf, besteigen ihre Heiligtümer sogar? Die Antworten, die ich während meiner Reise darauf bekam, waren so verschieden, wie die Menschen hinter ihnen. Einige Dinge brachen jedoch immer wieder durch. Es ist ein elementares Sich-Aussetzen, eine unmaskierte Kontaktaufnahme mit der Natur und mit sich selbst. Manch einer riskiert bewusst sein Leben, und will es doch gerade dadurch, will es gerade dort, auf diesen Gipfeln, wiederfinden.

Sebastian Garbsch

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