Geschichte

2

Männliches Maienlied

man(n) singt im mai
„sie liebt mich doch
sie ist so frei
sie liebt mich nicht
sie liebt mich noch“

und hofft darauf
dass sie verspricht
was man(n) von herzen glaubt

„im bauche fliegen schmetterlinge
das ist ja wohl erlaubt
wenn ich auf grünen wiesen springe
dann komm
mein schatz
und folge mir
wir finden einen platz
ich male dir
auf glanzpapier
was ich für dich empfinde

schon wehen lind die winde
und bringen frühlingsdüfte
die unsre nasen streicheln
ich fasse deine hüfte
und muss dir ständig schmeicheln
wie schön du bist
mein maienkind

wenn der november trist
mir meine seele trübt
dann denke ich geschwind
an dich
die mich so liebt … “

5

Nachtgedanken

Da war dieses Rot. Die Farbe ihrer geschwungenen Lippen, die sich als einziges von der Dunkelheit der Nacht abhoben. Einer Nacht, in der man erkannte, wie klein man doch war, verglichen mit dem Rest der Welt. Das war der Gedanke, den Nora hatte, als sie im Nachtzug saß, den Kopf erschöpft gegen das kühle Glas der Scheibe gelehnt. Stumm betrachtete sie ihr verzerrtes Spiegelbild.

Von der schlanken Gestalt und der makellosen Haut, über die von dichten Wimpern umrahmten, braunen Augen bis hin zu dem Klang ihrer Stimme, schien Nora eine Vollkommenheit auszustrahlen. Hätten die übrigen Fahrgäste in dem belebten Abteil sie mit einem Wort beschreiben müssen, so wäre es Perfektion gewesen.

Perfektion.

Nora hatte dieses Wort hassen gelernt. Beim Ballett war es immer um Perfektion gegangen. Bereits als Kind war sie stets, sei es beim Sport oder der Schule, mit anderen verglichen und zu besseren Leistungen angespornt worden. Hatte sie auf der Bühne eine besonders starke Vorführung abgeliefert, hatte es höflichen Beifall und das schwache Nicken der Jury als Belohnung gegeben. Machte sie jedoch einen Fehler, wurde dies sofort vermerkt und Nora glaubte eine Spur der Enttäuschung auf den Gesichtern ihrer Eltern zu sehen.

In dieser Welt schien es keinen Platz zu geben fürs Scheitern. Nora fragte sich, warum es nicht in Ordnung war, sein Bestes zu geben, auch wenn dies oft nicht ausreichte. Warum Menschen andere und sich selbst für die einfachsten Dinge verurteilten. Da Nora keine Antworten auf diese Fragen wusste, hatte sie dafür gesorgt, den Schein der Perfektion zu wahren. Personen in ihrem näheren Umfeld sahen genau das, was sie sehen sollten.

Die Art wie Nora sich bewegte, wie sie redete und lachte, ja sogar wie sie andere ansah, hatte etwas Überlegenes und Bewundernswertes an sich. Männer verliebten sich in sie, Frauen eiferten ihr nach. Sie alle waren blind für die Wirklichkeit. Die unbändige Angst, ihre Mitmenschen zu enttäuschen, war Jahr für Jahr in Nora gewachsen und gereift. Je mehr Zeit vergangen war, desto verbitterter hatte sie sich an ihre Maske geklammert. Doch sie wusste: Nur ein Fehler, nur ein kleiner Ausrutscher, und sie würde in tausend Stücke zerspringen.

An diesem Abend war Nora dem Zusammensturz ihrer Fassade so nah gewesen, wie noch nie. Sie versuchte das Geschehene vollständig vor ihrem inneren Auge Revue passieren zu lassen, doch viele Details des Streites drohten bereits zu verblassen. Gut so, dachte sie in einem Moment der Erleichterung. Schließlich hatte sie die Flucht aus der Realität gewollt und diese mit Betreten des Nachtzuges gefunden. Doch Nora wusste, dass die Glasscherben in der Küche, die stummen Zeugen des Geschehenen, sie wieder an alles erinnern würden, wenn sie nach Hause kam. An die Erregung in seiner Stimme, den fiebrigen Glanz in seinen Augen und seine vergeblichen Versuche, sie in den Arm zu nehmen. Als sie ihn von sich gestoßen hatte, war das Weinglas zu Bruch gegangen.

Nora zuckte zusammen. Erneut dachte sie an die tiefrote Farbe zurück. Lippenstift, Wein… aber da war noch etwas anderes. Die Farbe ihres Sommerkleides, das er so an ihr liebte. Nora dachte an die unzähligen Ausflüge zurück, bei denen sie es getragen hatte. Die Art, wie er sie dann angesehen hatte: so stolz; ihre zierlichen Finger von seiner rauen Hand umschlossen. Nora war schon immer der Ansicht gewesen, dass ihre Hände perfekt ineinanderpassten.

Und dennoch musste sie sich eingestehen, dass es ihr zunehmend schwerfiel, ihre Maske vor ihm aufrecht zu erhalten. Zunächst waren es nur kleine Risse gewesen, die sich auf deren Oberfläche zeigten. Ein unglücklicher Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, bevor sie diesen verstecken konnte. Dann hatte die Fassade mehr und mehr zu bröckeln begonnen. „Wahre Schönheit ist natürlich“, hatte er gesagt, „Menschen sind am Schönsten, wenn sie lachen. Aber die Art, wie du lachst, wirkt so unaufrichtig.“ Bei seinen Worten hatte ihr Herz für einen Moment aufgehört zu schlagen. Mit leerem Blick hatte sie sich abgewandt, während die Angst ihre Kehle hinaufkroch und sie zu ersticken drohte. Danach war da nur noch das Zuschlagen der Wohnungstür zu hören gewesen, bevor sie die qualvolle Stille der Nacht empfing.

Am Anfang hatte sie vorgehabt, nur eine kurze Runde um den Block zu laufen, einen klaren Kopf zu bekommen und sich zu sammeln. Sie hatte in ihrer dünnen Bluse auf dem Gehsteig gestanden und sich vorgestellt, wie sie zurückkommen würde. Sie hätte sich für ihr Benehmen entschuldigt, versprochen es in Zukunft besser zu machen und sie hätten sich versöhnt.

Dann jedoch war da dieses hässliche Gefühl in ihr aufgekommen, und sie dachte daran, wie er die ganze Nacht lang wach lag, die gebräunten Arme hinter dem Kopf verschränkt und angespannt auf Geräusche lauschte, die ihre Rückkehr ankündigten. Diese würden ausbleiben. Und er würde erkennen, dass er dieses Mal zu weit gegangen war, bei ihren üblichen Diskussionen.

Als der Zug zum Halten kam und etliche Fahrgäste ausstiegen, spürte Nora die neugierigen Blicke der anderen. Diese waren sicher interessiert zu erfahren, wer die schweigsame junge Frau war, die zu so später Stunde alleine und ohne Gepäck unterwegs war.

Bereits als Kind hatte Nora das Zugfahren geliebt. Sie hatte die übrigen Leute beobachtet, sich Namen und Geschichten für sie ausgedacht. Eine Ansammlung von Fremden. Ein jeder von ihnen hatte ein unterschiedliches Ziel, unterschiedliche Erwartungen und Träume, aber auch Ängste. Ob der Mann mit dem Blumenstrauß wohl seine Freundin besucht, hatte sich ihr jüngeres Ich gefragt, oder sind die Blumen für seine kranke Mutter? Ersterer Gedanke hatte sich als richtig herausgestellt, als Nora beobachtet hatte, wie der Mann von einer groß gewachsenen Dame am Bahnsteig empfangen wurde. Doch anstatt sich für die Blumen zu bedanken, schien sie sich über die Unpünktlichkeit des Zuges zu beschweren. Nora wusste noch haargenau, was sie in diesem Moment gedacht hatte. Und zwar, dass Menschen für wahre Schönheit keine Zeit hatten. Sie schienen aus irgendeinem Grund stets das Schlechte in allem zu sehen.

Jetzt, da sie selbst eine junge Frau geworden war, kam es Nora falsch vor, über andere zu urteilen, ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Wie oft hatte sie schließlich Dinge gesagt ohne jegliche Spur von Aufrichtigkeit? Wie oft hatte sie sich eingeredet, dass es okay wäre, allen etwas vor zu machen, insbesondere sich selbst? Und bei jedem Wort dieses halbherzige Lächeln auf ihren geschwungenen Lippen. Dabei hatte sie doch versucht aufrichtig zu lächeln. Aber keinem war der Unterschied aufgefallen. Lächeln in einer endlosen Spirale des Schmerzes. War das ihr Schicksal?

Und zum ersten Mal fragte sich Nora, ob sie glücklich war mit dem von ihr gewählten Leben. Sie hatte leben und sich selbst verwirklichen wollen als Tänzerin. Sie wollte sich nicht für ihre Handlungen schämen müssen. Aber wenn sie sich jetzt so ansah, war alles, was sie erkennen konnte, Lügen und Heuchelei.

Ein Ruckeln erfuhr das Zugabteil und ließ Nora erschrocken die Augen aufreißen. Wie sehr hatte sie sich in ihren Gedanken verloren? Wie lange war sie so ziellos durch die Gegend gefahren? Sie erinnerte sich nicht. Als ein heruntergekommener Bahnhof in Sicht kam, erhob sie sich langsam und wankte vorwärts. Das silberne Licht des vollen Mondes empfing sie, als sich die Zugtüren vor ihr öffneten. Auf dem Bahnsteig angekommen, richtete sich die junge Frau auf, inhalierte die kühle Nachtluft und atmete diese nach einigen Sekunden erleichtert aus. Der einsame Klang eines Windspiels drang von dem Bahnhofsgebäude zu ihr herüber. Sie begann zu laufen. Ohne Ziel. Einfach weiter. Allmählich lichtete sich der Nadelwald, durch welchen der Landstrich größtenteils geprägt war. Die Bäume standen in größeren Abständen voneinander entfernt und ließen das Mondlicht hindurch. Hinter einer Anhöhe erhaschte Nora einen flüchtigen Blick auf den schwarzen Ozean. Aus irgendeinem Grund schien er sie anzuziehen. Und als der feste Boden durch losen Sand abgelöst wurde, konnte sie dem Bedürfnis, die feinen Körner zwischen ihren Zehen zu spüren, nicht widerstehen. Den Blick auf das Rot ihrer Fußnägel gerichtet, schritt sie auf das Meer zu. Zaghaft zuerst, dann immer zügiger. Und als das eiskalte Salzwasser ihre Knöchel umschloss, fühlte es sich fast schon so an, als würden mit der Berührung alle Sorgen, Zweifel und Ängste der vergangenen Stunden von ihr abfallen.

Nora schloss die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Wellengang. Doch plötzlich erregte ein vertraut klingendes Geräusch ihre Aufmerksamkeit. Es war das Lachen eines kleinen Mädchens, das mit seiner Mutter etliche Meter entfernt zu einer stillen Melodie zu tanzen schien. Die weißen Kleider, das herzliche Lachen und die Art wie sie sich wiegten, erinnerten Nora aus irgendeinem Grund an den Tanz von Waldgeistern. Für einen Moment dachte sie, es handele sich bei den beiden um ein Trugbild; eine Folge ihres Schlafmangels. Doch dann riss der spitze Schrei des Mädchens sie zurück in die Wirklichkeit. Anscheinend hatte sie den Halt verloren und war hingefallen. Scheitern, dachte Nora unwillkürlich. Doch weder der Mutter noch dem Kind selbst schien der Vorfall etwas auszumachen. Ganz im Gegenteil. Eifrig rappelte sich die zierliche Gestalt auf, klopfte den Sand von der Kleidung, ergriff die Hand der Mutter und tanzte weiter. Nora beobachtete sie eine ganze Weile aus sicherer Entfernung. Dann ertappte sie sich dabei, wie sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte, bis sie direkt vor den beiden stand. Für einen Augenblick flackerte Angst in den Augen der Mutter auf. Doch diese erlosch in der Sekunde, in der ihre Tochter die kleinen Händchen ausstreckte und Nora einlud, sich ihnen anzuschließen.

Die junge Frau zögerte. Nachts mit Fremden am Strand zu tanzen, kam ihr unwirklich vor. Was würden ihre Freunde denken, wenn sie sie jetzt sehen könnten? Nach einer stundenlangen Fahrt ins Ungewisse. Doch die Dunkelheit um sie herum, die ihr anfangs so bedrohlich vorgekommen war, strahlte nun Ruhe und Geborgenheit aus.

Niemand würde sie sehen.

Sie begann schüchtern die Bewegungen der Tanzenden nachzuahmen. Anfangs fiel es ihr schwer zu tanzen, ohne Musik zu hören, ohne einen Rhythmus zu spüren. Doch mit jeder Minute, die verstrich, fühlte sie sich sicherer. Die Schritte schienen die richtigen zu sein. Sie ergriff die Hand des Mädchens, drehte sich, ließ sich vollkommen in dem Gefühl fallen.

Niemand würde sie sehen.

Dieser Gedanke gab ihr den notwendigen Mut und die Sicherheit aus sich herauszugehen, eine Leidenschaft zu empfinden, so wie sie sie damals fürs Ballett empfunden hatte. Doch dieses Tanzen war anders. Es kam nicht auf die richtige Haltung, auf Perfektion beim Ausführen der einzelnen Figuren an. In dieser Nacht war der Sandstrand ihre Bühne. Als Scheinwerfer fungierte der volle Mond, dessen Licht nicht reiner hätte sein können. Statt in die Gesichter des Publikums zu blicken, das sich auf den Rängen zu einer Einheit vereinigte, sah sie das tiefe Blau des Ozeans vor sich, ein einziger stummer Zuschauer.

Die drei Gestalten bildeten einen Kreis, wirbelten herum, sodass Sand aufstob. Das Adrenalin in ihren Venen, die wohlige Wärme, die zurück in ihren Körper strömte, das Gefühl der Sandkörner unter ihren Füßen und das Mondlicht auf ihrer Haut ließen Nora lebendig fühlen. Sie warf den Kopf zurück und lachte laut und aufrichtig.

Niemand würde sie sehen, dachte sie erneut und schluckte.

Niemand würde sie sehen…


32

Die alte Ruhla-Armbanduhr

Lange Zeit dem Vergessen anheim gegeben,
nur durch den Zufall einer Suche,
aus den Tiefen der Schublade,
mit einem „Ach!“ voller Freude,
wieder in das Licht der Erinnerung gehoben,
halte ich nun ein Stück Kindheit in den Händen.
Einer Reliquie gleichkommend,
beschenke ich das Kleinod mit Andacht.

Die Feder, über Jahre nur von der Unruhe gebremst,
ließ die Zeiger, mit ihrer letzten Kraft,
in den Stunden meiner Jugend ermüden.
Und ich sehe den ungeduldigen Jungen,
der in Amplituden den Weg der Zeiger prüft.
Ich höre seinen Seufzer der Enttäuschung,
weil das schulbankerlösende Läuten noch so fern.

Und ich entsinne mich des wehmütigen Fluches,
weil die beim Spielen zu weit vorgerückten Zeiger,
die vom Vater angemahnte Stunde längst überschritten.
Wohl auch aus Furcht, dass mein junges Ich entweicht,
aus den Zähnen der lange stillstehenden Rädchen,
wage ich es nicht die Feder wieder zu spannen.
Dankbar lege ich die Bewahrerin wieder zurück,
weil sie mich ein wenig durch die Zeit wandeln ließ.

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Solängen – Die Spuren eines Zaubers

Unendlichkeit. Un-end-lich-keit. Das Wort schwirrte mir im Kopf herum; es fühlte sich so unnahbar an, so unantastbar. Aber das war es doch, was ich sah. Oder nur zu sehen glaubte? Ich schloss die Augen. Doch sie blieb. Diese dichte Wand aus Nebel und Eis blieb. Und ich stand mittendrin. Meine Gedanken umkreisten mich, versuchten, die Leere zu füllen.

Früher, erinnerte ich mich, gab es nur selten Nebel. Es schien die Sonne, eine unwahrscheinlich warme Quelle, die alle kalten Gedanken vertrieb, alles Schlechte, alles Unzufriedene. Sie war eine leuchtende Kugel aus Freude und Weisheit, die immer da war, immer über mir. Und war ich mal allein, sah ich zu ihr auf, denn sie gab mir Kraft. Bei der Vorstellung wurde mir ganz warm ums Herz, so warm wie lange nicht mehr.
Ich sah die klaren Flüsse, die grünen Wälder sowie die bunte Wiese voller Abenteuer, auf der ich zauberhafte Geschichten erfuhr, obwohl ich mit der Zeit ihre Unwirklichkeiten begriff. Es wurde klarer um mich herum. Ich musste diese Vergangenheit zurückholen, sie zur Gegenwart machen. Denn ich brauchte den Wald und der Wald brauchte die Sonne.

Das Rauschen des Windes vernehmend, schritt ich achtsam den steinigen Weg entlang. Die Wand aus Nebel und Eis wurde dichter. Es fühlte sich so an, als würde sie eingehüllt in einer milchigen Tracht versuchen, mich bis zum letzten Atemzug, den ich von mir gäbe, auflösen zu wollen. Doch ich wollte keinen einzigen Gedanken an die Angst verschwenden, die ich jeden weiteren Schritt mit mir trug. „Es ist nur Schnee in der Leere“, rief ich laut, daran denkend, dass ich sieben Monate Kälte gewohnt war. Ich blickte auf meine Ärmel. Die Farben schienen wie vom Nebel verblichen zu sein.
Ich spürte, wie sich alles in mir zusammenzog. Je länger ich auf das einstig strahlende Gelb sah, umso schwächer leuchtete die Sonnenfarbe. Selbst das Grün, was die von mir geliebte Natur darstellte, glänzte nicht mehr wie der ehemals so grüne Gammelskog. Doch meine Erinnerungen füllten die graue Welt um mich herum schillernd aus:
Direkt vor mir beobachtete ich Rens, die leise vor sich hin grasten. Zum Glück sahen sie mich dank ihrer schlechten Augen nicht. Ich schaute mich weiter um. Rechterhand umgaben mich zwei endlos wirkende Bäume mit Stämmen so breit wie eine Kote.
Zu meiner Linken sah ich eine kleine Hütte. Sie erinnerte mich an unsere: Sie war zwar nicht groß, aber traumhaft anzusehen, denn ihr dunkelrotes Holz leuchtete wunderschön im Abendrot. Jedoch war diese keine Illusion. Die Hütte existierte wahrhaftig!
Interessiert betrachtete ich sie, als ich plötzlich den qualmenden Schornstein erfasste.
„Hallo?“, fragte ich in den Nebel hinein. Aber nichts erklang. Daher trat ich voller Neugier in das graue Holzhäuschen ein.
Doch meine Begierde verflog. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Eines der alten Fenster war speerangelweit offen und schlug gegen die Wand. Der mächtige Stuhl in der Mitte des Raumes wankte, knallte auf die morschen Dielen des Bodens. Angsterfüllt rannte ich hinaus und kauerte mich zitternd zusammen. Jedoch stapfte ich nach kurzer Besinnung im Glauben, es wäre ein Zeichen gewesen, entschlossen zurück.

Ich blickte auf die Fenster. Erschrocken hielt ich inne. Sie waren fest verschlossen! Verwirrt betrat ich das Stübchen und traute meinen Augen kaum: Die Fenster waren wirklich geschlossen! Der Stuhl aber lag noch genauso regungslos mitten im Raum wie zuvor. Ich hob ihn auf und stellte ihn an den großen Holztisch, dessen eine Seite in hellem Licht strahlte, während die andere in düsteren Schatten verschwamm. Überrascht erblickte ich in seinem Halbdunkel ein ohne Aufschrift versehenes Buch. Gespannt schlug ich es uf und blätterte. ,Scheinbar geht es um den Gammelskog‘, dachte ich und schob den schweren Band vorsichtig ans Fenster.
Eine zauberhafte Illustration musternd, spürte ich, wie mein Herz glücksstrahlend pochte, als wollte es herausspringen. Aufmerksam betrachtete ich, wie die Tiere mit funkelnden Augen in das warm leuchtende Sonnenlicht aus den Tiefen des Waldes zusammenkamen und sich nach dem gelben Strahlenmeer sehnten. Doch dieser „Zauber“, wie er mir vorkam, schien vor Ewigkeiten gewesen zu sein, in Zeiten, in denen sich Lebewesen nicht schadeten.

Daher wichen meine Augen vom Bild ab, erfassten die Botschaft am Blattrand:
„Hinterlasse keine Spuren,
denn Natur ist ein Schatz voll magievoller Gaben
unter den kräftig erfülltesten Farben,
die wir zu behalten schwuren.“

„Eine Sámi-Weisheit!“, rief ich. „Die Natur ist ein Schatz voll Gaben, doch kein einziger.“ Und ergänzte tiefsinnig: „Der größte Schatz, den die Natur gab, ist… ist das Leben!“
Entflammt erkannte ich die Blumenwiese. Sie war der Ort, an dem alles begann. Aufgeregt stürmte ich durch den dämmernden Wald. Die spitzen Nadeln der Bäume streiften meine Arme. Doch ich rannte weiter.

Ich erahnte das dicht umschlossene Überbleibsel des einstigen Farbpalastes und fühlte die Verbundenheit. An die Botschaft denkend, stimmte ich einen Joik, einen Sprechgesang aus Lauten sowie Gedanken, hoffnungsvoll an. Und tatsächlich! Der Zauber wirkte noch rechtzeitig vor Midsommar-Beginn:
Das Wetter schlug schlagartig um. Der Gammelskog ließ die neblige Kälte zurück und begann zu erblühen. Immer größer werdende Lichtscheine, in denen allmählich zahlreiche Geschöpfe herankamen, ließen alles erstrahlen. Ich blickte auf das Buch, das ich noch immer fest umschlossen trug. Plötzlich zeigten sich im Sonnenschein aufblitzende Buchstaben, die zur Aufschrift „Solängen“ (die Sonnenwiese) wurden. Alle kamen mitsamt ihrer Familie und Glückseligkeit zurück, hielten sich beisammen und feierten – den Midsommar, die Sonne, das Leben.
Und ich? Ich saß am Feuer und hörte, wie die alten Söhne und Töchter der Sonne wisperten: „Man muss hier gewesen und doch nicht hier gewesen sein.“
Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf und schaute in das plätschernde Wasser.

Von Viktoria Hennlein

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Die bunte Unterwasserwelt Aquarella

Es war einmal eine wunderschöne, kleine Unterwasserwelt namens Aquarella. In dieser Unterwasserwelt waren alle glücklich, jeder hatte Spaß, keiner war alleine und alles war kunterbunt. Im Wasser glitzerten alle Tiere und Pflanzen in den prächtigsten Farben. Doch nur in Aquarella war die Welt bunt, außerhalb war nichts bunt – keine Wälder, Felder, Städte, Dörfer. Ja, sogar die Menschen waren schwarz-weiß.

Eines Tages kam ein Fischer mit seinem schwarz-weißen Boot. Er wollte gerade angeln, als er Aquarella sah. Er fragte sich: „Was sind das denn für Farben? Ich kenne nur die Kontraste schwarz-weiß.“ Sein Fischerboot hieß Tornado. Und den Namen verdiente es, denn in Null Komma nichts war der Mann bei Aquarella. Die Tiere spielten derweil unter Wasser. Der Mann dachte sich: „Wieso haben die Farben und wir nicht? Diese egoistischen Lebewesen wollen wohl nicht teilen?! Dann fische ich die Farben eben heraus.“ Er holte sein Netz und warf es ins Wasser. Dann holte er es wieder heraus. Er freute sich und machte sich und seine Kleidung bunt. Der Fischer hatte auch einen Fisch, den er in einem großen Gurkenglas hielt. Auch ihm wollte er eine Farbe geben. Aber nein, er gab ihm von jeder Farbe einen Klecks. Nun sah der Fisch wunderschön aus. Der Mann sagt zu seinem Fisch: „Rosenrot, ich möchte, dass alles Farbe bekommt.“ Er gab dem Himmel die Farbe Blau. Dieser spiegelt sich im Wasser. Nun hatte auch das Wasser eine Farbe, auch wenn sie heller und blasser war. „Jetzt will ich den anderen auf der Welt auch Farbe geben, “ sagte der Fischer und fuhr mit seinem Boot los. Dabei fiel das Gurkenglas um und der Fisch plumpste ins Meer. Die Tiere und Pflanzen hatten inzwischen einen großen Schreck bekommen, denn ihre Farben waren weg. Rosenrot wollte hinter dem Schiff herschwimmen, konnte es aber nicht einholen und schwamm zu einem nahegelegenen Korallenriff. Es war Aquarella. Sie sah, dass die Fische schwarz-weiß waren, gar nicht bunt wie sie. „Hat euch mein Fischer nicht bunt gemacht wie den Rest der Küste?“ fragte sie. „Nein, im Gegenteil“, antwortete ein weißer Fisch namens Flipper. Er hat uns die Farben gestohlen. „Ach ihr seid die, die von der Farbe nichts abgeben wollten.“ „Das stimmt doch gar nicht, wir wussten doch gar nicht, dass nur wir Farben haben“, mischte sich ein kleiner Fisch ein. Da antwortete Rosenrot: „Na gut, ich glaube euch. Aber wie kann ich euch helfen? Mein Fischer ist mit den Farben schon weg, aber ich könnte jedem ein bisschen von meiner Farbe abgeben.“ Von dieser Idee waren die Fische in Aquarella begeistert. So gab Rosenrot den Fischen Farbe von sich. Am Ende hatte Rosenrot nur noch rot. Sie war sehr betrübt. Ihr hatten die vielen Farben auf ihren Schuppen gefallen. Da hatte ein Fisch die Idee das Rot mit Weiß und Schwarz zu mischen. Das sah toll aus.

Nachdem sie nun so viele neue Freunde gefunden hatte, wollte Rosenrot für immer in Aquarella bleiben. Alle waren wieder glücklich in ihrer bunten Welt!

ENDE!

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Max – Das Rätsel einer Zeit

Stille, ewige Stille füllte den leeren Raum mit Erinnerungen. Bei dem Gedanken daran, fühlte es sich so an, als würde meine Seele gefrieren und in dem Moment wusste ich: Ich hätte mir niemals einbilden sollen, das Rätsel lösen zu können.

Aber angefangen hatte alles, als ich vor ein paar Tagen in der Nacht ein Geräusch hörte, das wie ein leises Ticken einer großen, alten Uhr klang. Doch ich war so sehr im Schlaf versunken, dass ich nicht wusste, ob es echt oder nur eingebildet in dem Geflüster meiner Gedanken zu hören war. Ich versuchte zwar, mich darauf zu konzentrieren, aber das stumpfe Ticken war nicht mehr zu hören. Die scheinbar endlos mitreißende Stille zog sich wieder durch den ganzen Raum, nahm mich ein und wog mich wieder sanft in den Schlaf.

… Ich lief den Weg weiter entlang ins Dorf, über die schmale, mit Kopfsteinpflaster gebaute Brücke und wollte gerade in die nächste Gasse einbiegen, als ich auf einmal eine große, unheimliche Gestalt in schwarzem Mantel sah, die geradewegs durch die Gasse rannte. Plötzlich machte sie halt und drehte sich verängstigt nach mir um, als hätte sie gewusst, dass sie beobachtet wurde. Schnell versteckte ich mich hinter der alten Brücke und fuhr in mir zusammen. Mein Puls raste so schnell wie noch nie und das Herz pochte so heftig als wollte es herausspringen.

Nachdem die Gestalt nicht mehr zu sehen war, atmete ich tief durch und guckte vorsichtig über die Brücke hinweg. Dabei entdeckte ich etwas Interessantes, was die Person dem Anschein nach verloren hatte. Es war ein zerknitterter mit der Aufschrift „Max“ versehener Zettel, auf dessen Rückseite dem Jahr 2018 handgeschrieben in altdeutscher Schrift stand…

Ich öffnete langsam blinzelnd die Augen. Erschrocken und zugleich auch erleichtert stellte ich fest, dass es nur ein Traum war. Das dachte ich zumindest. Denn auf einmal bemerkte ich etwas ziemlich Hartes, was furchtbar nach Erde roch. Ich nahm es in die Hand und stellte verwirrt und voller Erstaunen fest, dass es der mysteriöse Zettel aus meinem vermeintlichen Traum war. Kurz darauf kroch mir der eigenartige, feuchte und zugleich trockene Geruch in die Nase, während ich begann, das Blatt vorsichtig aufzufalten. Und ich entdeckte tatsächlich den mit dunkler Tinte geschriebenen Namen und das über 100 Jahre alte Datum. Jedoch war dies nicht das Einzige, was ich zu sehen vermochte. Fast unscheinbar, sich am Rande des Blattes verbergend erkannte ich eine kleine, gar unlesbare Schrift, mit der ich auf den ersten Blick nichts anfangen konnte. Doch plötzlich, dank eines sanften Lichtstrahls, der von der Sonne durch das schmale Fenster des Zimmers zart auf mich herabzusinken schien, spiegelte sich der unbekannte Schriftzug erst spärlich und dann immer deutlicher zu erkennen auf dem von Glas bedecktem Ziffernblatt meiner dunkelblauen Uhr. Ohne nun den Lichtschein zu verlieren, blickte ich immer näherkommend auf das Glas meiner Uhr und betrachtete die kurz hinterlassene Nachricht: Es ist deines Schicksals Weg.    

In diesem Moment wurde mir klar: Ich muss tatsächlich zur Brücke!

Draußen war es für einen Spätsommertag kalt und windig. Dichter Nebel legte sich über die Straßen und den Ort. Die Sonne kam kaum aus den Wolken heraus und war nur schwer zu erkennen. Doch das stürmische Wetter hielt mich nicht auf. Nichts konnte mich nun noch von meinem Weg abbringen. Eine Antwort suchend blickte ich auf zum wolkenbedeckten Himmel. Jedoch empfing ich weder die erhoffte Antwort noch einen Einfall, der mir die Augen öffnen und helfen konnte.

Plötzlich sah ich einen aus dem Nichts erschienenen alten Mann, den ich noch nie zuvor im Ort gesehen hatte.

Es schien, als wäre er schon fast 100 Jahre alt. Jedoch nicht wegen der Haut oder seines Ganges, obwohl er einen großen Regenschirm als Gehstock nutzte, der ihn bei seiner Art zu laufen, zu unterstützen schien, sondern wegen seiner Kleidung und seines Stils. Er trug eine Art Sakkoanzug, wie ich ihn oft schon in Schwarzweißfilmen gesehen hatte, eine weite, geradegeschnittene braune Hose und schwarze, glänzende Schuhe. Zudem bedeckte ein dunkler Homburg Hut die schwarzen Haare des Mannes und warf einen Schatten auf seine hellen Augen. Je näher er kam, desto mehr erkannte ich sein Gesicht, obwohl ich ihn nie wahrhaftig gesehen hatte. Seine Augen schienen immer heller zu werden, obwohl sie ihre Farbe nicht änderten und der Mann blickte nun vorsichtig, aber unheimlich ausdrucksstark vom Boden auf, als trüge er eine einzigartige Gabe in sich.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und mein Körper zuckte kurz zusammen, nachdem der Unbekannte sich durch den dichten Nebel zu erkennen gab. Der Alte sah mich genau untersuchend an. Auch ich konnte einer genaueren Betrachtung nicht widerstehen und riskierte es, ihm eines Blickes zu würdigen.

Seine grünen, aber gleichzeitig auch hellblauen Augen waren voller Hoffnung auf Glück und trugen förmlich die unendliche Wissbegierde in sich, wie ich sie noch nie zuvor in meinen Leben gesehen hatte.

Seine markante Narbe am schmalen, spitzen Kinn war dieselbe wie ich sie schon gefühlt mein ganzes Leben lang hatte. Nur seine Haare waren anders, so schwarz wie der Tod und das Unglück.

Endlich begann sich mir in Gedanken eine Tür zu öffnen, deren Eintritt ich keinesfalls verwehren wollte, denn hinter ihr schien es, als gäbe es auf jede Frage eine Antwort, in der sich jedes Puzzleteil zu einem Bild zusammenfügte, und jeder Weg zu einem Ziel führte, das ich nun vor Augen hatte.

Doch, was ich vor allem an dem rätselhaften Mann besonders fand, war, dass er mir alles nahezu Unerklärliche erzählte, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen.

Ich konnte seinem tiefen Blick, der wie ein offenes Fenster seiner Gedanken war, lange nicht entweichen. Doch während er an mir vorbeilief und meine Jacke mit dem großen Holzgriff des Regenschirms streifte, drehte ich mich zitternd um und rief mit weinerlicher Stimme innerlich zusammenbrechend: „Max!“

Der Alte blieb versteinert wie im Boden verankert stehen und stützte sich mit seinem scheinbar verletzten Arm auf den großen, grauen Regenschirm. Offensichtlich hatte er mich wirklich gehört. Jedoch machte er keine Anstalten, sich mir auch verbal zu öffnen, sondern deutete stattdessen mit dem anderen Arm hoch zum Waldesrand, wo die alten, fast vergessenen Erlengräber lagen. Seinem Blick folgend sah ich den Berg hinauf und noch bevor ich ihm eines dankbaren Blickes würdigen konnte, war er genau so rätselhaft ins Nichts verschwunden, wie er auch erschienen war.

Ich blickte noch eine Weile auf die unscheinbar wirkende Stelle, an der sich bis eben noch einer der bedeutendsten Personen meiner Familie befand, rannte dann jedoch nach diesem Moment des Innehaltens mit voller Entschlossenheit, Max´ Nachricht zu entschlüsseln und damit vielleicht sogar ein geheimnisvolles Rätsel der Vergangenheit zu lösen, in die Richtung des alten Friedhofs.

Darüber nachdenkend, was er mir zu sagen versucht hatte, näherte ich mich nach Luft schnappend langsam dem längst vergessenen Friedhof der Kriegsgefallenen aus dem Ersten Weltkrieg, der später in Vergessenheit geriet und durch die umliegenden Erlen zuwuchs.

Der Wind pfiff in schrillen Tönen immer stärker werdend über die Wiesen und Felder, die ich bereits hinter mir gelassen hatte, und krümmte die uralten heruntergekommenen Bäume so, dass sie nur noch verelendet mit ihren fast ganz aus dem Boden herausgedrückten Wurzeln neben dem fruchtbaren Boden der grünen Wiese standen und mitleidig anzusehen waren.

Oben angekommen öffnete mir ein kalter Windstoß quietschend die Tür des halb zerfallenen Friedhofzauns.

Vorsichtig schritt ich durch den rostigen Eingang des Ortes hindurch. Furcht erfasste mich und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als ich die Anlage geradeausschauend betrat. Verborgen, versteckt in der hintersten Ecke der alten Begräbnisstätte, entdeckte ich ein riesiges Grabmal aus Naturstein, das mit einer Oberfläche ähnlich einer Patina überzogen war, und vor dem sich eine beängstigende Statue, die einer unheimlichen Mohnblume glich, befand. Doch meine Neugier packte mich und ich lief geradewegs zur grünlich wirkenden Mauer. Bedächtig ging ich den schmalen und steinigen Weg zur anderen Seite, die von einer Art Rondell etwas eingegrenzt und von den anderen Gräbern abgelegen war. Je mehr ich mich der abschreckenden Mauer näherte, umso mehr erkannte ich die in Stein gemeißelte Widmung auf dem breiten Mittelstück, auf dem am oberen Rande ein vergoldeter Lorbeerkranz zu sehen war.

Nun stand ich vor dem festen Stein und traute mich kaum, genau hinzusehen, denn plötzlich spürte ich eine heftige Böe, die mir fast den Boden unter meinen Füßen wegriss, und bemerkte, wie sich die Wolken am Himmel zuzogen und es um mich herum immer düsterer wurde. „Nein, ich drehe jetzt nicht um, jetzt, wo ich so nah daran bin, die Wahrheit herauszufinden.“, versuchte ich selbstbewusst in die Welt hinauszurufen und mich nicht von meiner Angst einnehmen zu lassen.

Ich trat mutig vor das Grabmal. Mein Blick fiel zuerst auf die mittig stehende Inschrift, die ich begann, laut vorzulesen:

Den tapferen Söhnen, die mit Heldentod für Volk und Vaterland im Kriege starben:
Wo ihr auch ruhet nach des Herren Rat,
auf künftiger Erde mit blutiger Saat,
nimmer vergangen im deutschen Land,
so setzt euch zur Ruh‘ in des Herren Hand.

Meine Augen füllten sich mit Tränen und ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Ein schauerliches Gefühl umgab mich, Furcht ergriff meinen Geist. Mit einem Mal fühlte ich mich in den endlosen Weiten des nebligen Mischwaldes verloren. Mein Verstand betete mich an, diesen Ort zu verlassen und meine Beine verspürten den leichten Drang, mich an einen sicheren zu bringen. Aber irgendetwas in mir hielt mich dort und bewegte mich zu bleiben, wenigstens einen Moment.  

Näher herantretend berührte ich den mühsam gefertigten Lorbeerkranz des gewaltigen Mauersteins und fühlte, wie sich meine Finger in die tiefen Mulden und Einkerbungen legten, als ich ein auffällig weich klingendes Geräusch hörte. Vorsichtig trat ich einen Schritt zurück und vernahm das dumpfe Geräusch stärker. Ich wusste nicht, wo es herkam oder was es war. Doch noch bevor ich dies herausfinden konnte, war es auch schon verschwunden. Nun umgab mich nur noch die unheimliche Stille des auf einmal fast leeren Friedhofs. Allein ein leises Rauschen der Blätter war zu hören. Fragend drehte ich mich voller Furcht um, aber auch daraus gewann ich keine Erkenntnis.

Hoffnungslos und verwirrt schaute ich mich auf dem verwucherten Friedhof um. Mein Blick fiel auf die zwei Platten mit den Namen der Gefallenen, welche unscheinbar neben der großen aufgestellt worden waren. Interessiert betrachtete ich das Geschriebene und erfasste es mit Augen und Verstand.

„Walter Anders: 10.08. 1888 bis 15.09. 1915, Albert Fischer: 23.03. 1898 bis 02.10.1918 (vermisst), Karl und Erwin Schilling: 06.11.1894 bis 05.11. 1916“, ging ich langsam mit pochendem Herzen durch die Reihen.

Der Wind schien stärker zu werden, die mich umhüllende Stille wurde zur einer mächtigen Nebelgestalt, die mich immer mehr mit ihrem Sog erdrückte und die Luft drohte knapper zu werden. Doch ich blieb standhaft die nächsten Daten erblickend stehen und las weiter: „05.10.1881 bis 08.07.1917 Max He-“ Mein Atem stockte. Geschockt sah ich vom Stein auf und hielt die Luft an. Es fühlte sich so an, als umgäbe mich eine erstarrte Welt aus eisiger Kälte, die drohte, auch mich einzunehmen. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Stand ich wirklich vor dem Grab meines Vorfahren, über den nie jemand ein Wort verloren hatte, obwohl man seine Existenz nicht leugnen konnte?  Nach einem kräftigen Atemzug besann ich mich wieder und betrachtete aufgewühlt das mühselig in Stein Gemeißelte. Ich begann meine Hände über das Ausgearbeitete zu streifen. Plötzlich blieb ich in der tiefen Mulde des X hängen, die möglicherweise wie der Hühnergott am Meer durch Verwitterung oder kräftige Winde entstanden war. Doch das erschien mir als irreführende Unwahrheit. Verblüfft berührte ich den Schriftzug noch einmal, fühlte die nach innen immer größer werdende Vertiefung und drückte vorsichtig dagegen. In diesem Augenblick blätterte ein Teil der Steinplatte der äußeren Seite ab und fiel zu Boden. Erschrocken zog ich meine zarten Finger aus der tiefen Kuhle und ließ meinen Blick zur rauen Außenseite der Tafel schweifen. Voller Erstaunen entdeckte ich dort eine kleine Öffnung an der unscheinbaren Flächen des mächtigen Steins. Augenblicklich zog mir ein etwas durch Herz, Mark und Bein. Ein angespanntes Gefühl strömte nun durch meine Adern und ich wusste nicht, ob ich in meiner Unruhe nun Freude oder Furchtsamkeit empfinden sollte. Doch die Neugier und unglaublich große Wissbegierde überkam mich schließlich, sodass ich nicht lange zögerte, den Inhalt des eigenartigen Lochs zu erfahren.

Achtsam griff ich in den dunkel wirkenden Spalt hinein. Plötzlich fühlte ich einen runden Gegenstand, etwa so groß wie meine Handfläche, der glatt, aber zugleich auch unglaublich rau war und zog ihn aus der Öffnung heraus.

Überrascht und ratlos starrte ich den entdeckten Gegenstand an. Es war eine alte, goldene Taschenuhr, wahrscheinlich eine Savonette, die die fein verzierte Gravur „M.H.“ trug. Ihr besonders aufwendig verziertes Aussehen ließ mein Herz förmlich höherschlagen.

Sie besaß eine Art Knopf an der Oberseite, womit man den verholzten Deckel des Zeitmessers öffnen konnte. Doch so oft ich es auch zu versuchen vermochte, die Uhr blieb so fest geschlossen, als wären Deckel und Ziffernblatt reglos miteinander verschmolzen. Daher drehte ich die Savonette konzentriert untersuchend um und betrachtete ihre schwere, deutlich massivere Rückseite. Erstaunt, als wäre ich aus allen Wolken gefallen, erblickte ich die braune Fläche und die sich darauf befindende Verschlüsselung. Darüber rätselnd, was eine solche Kombination aus vier Zahlen sein konnte, ließ ich meine Gedanken hoffnungsvoll ausschweifen und sah mich rätselnd um. Plötzlich sprangen mir die Namen der Kriegsopfer wieder ins Auge. Nach meinem Ururgroßvater suchend durchforstete ich mit meinen mittlerweile schwächer werdenden Augen hastig die Namen, bis ich den seinigen gefunden hatte. Mein Herz sagte mir, dass sich hier des Rätsels Lösung befinden musste. Nachdenklich betrachtete ich die Zeile nach Hinweisen suchend, aber weder der Tod noch die Geburt halfen mir weiter. Die Sache für aussichtslos haltend wendete ich den Blick von der Platte ab, als plötzlich die Worte einer mir unbekannten Stimme in meinem Geist erklangen: „Nicht immer können Dinge allein des Rätsels Lösung sein. Doch vereinst du sie in einem wird dies der Schlüssel zu deinem.“ „Max?“, fragte ich schreiend in den Abend hinein und drehte mich bestürzt nach allen Seiten um, doch es war niemand weder zu hören noch zu sehen. Dennoch dankend wandte ich mich wieder der Verschlüsselung zu, bis mir schließlich etwas in den Sinn kam, nachdem ich die Tage und Monate betrachtet hatte, deren Quersumme gemeinsam jeweils 15 ergab. Aufmerksam schaute ich die Jahreszahlen an, deren Ziffern je 18 zählten. Ruhelos nahm ich die alte Uhr hervor, die ich bis eben sicher in meiner Jackentasche aufbewahrt hatte, und drehte nervös 1518 ein. In diesem Moment sprach der Deckel der Savonette wie von selbst auf. Mein Blick fiel auf ihre helle Mitte, auf der Stunden- und Minutenzeiger wie auf die Sekunde genau ihre Runden über das Ziffernblatt fuhren. Begeistert drehte ich die Uhr leicht und spürte ein sonderbares Gefühl in mir aufkommen, als meine Augen die Innenseite des Deckels erfassten. „Erinnerungen sterben nicht“, stand es eingraviert auf wunderschöne Art und Weise geschrieben und es fühlte sich so an, als schenkte mir die Taschenuhr ihre ganze Zeit, die sie schon über all die Jahre gemessen hatte, innerhalb weniger Sekunden. Einen Augenblick lang begann ich darüber zu grübeln, jedoch hatte ich mich nun daran gewöhnt, nicht alle Geheimnisse lüften zu können.

Nach einem kurzen Moment der Besinnung beschloss ich, während ich zum immer düsterer werdenden Himmel aufsah, mich nun zurück nach Hause zu begeben. Danach schaute ich ein letztes Mal auf die eindrucksvolle Uhr, die auf sonderbare Weise etwas Magisches an sich trug, durch das ich mich sicher und geborgen fühlte, klappte den vergoldeten Deckel vorsichtig zu und legte sie in sichere Verwahrung, nachdem meine Finger noch einmal über die Struktur der hölzernen Rückseite berührt hatten.

Auf dem Weg zum Ausgang spürte ich, dass die Begegnung mit Max etwas in mir ausgelöst und ein neues Kapitel in mir geöffnet hatte. „Max“, sprach ich ihn in den Abend hinein an, „als Reisender erblickst du die Zeit, bis es ist soweit. Doch bist du dir sicher, dann zeigt dir stets die Uhr, wie du gehst auf deiner richtigen Spur.“

Durch mein Erlebnis geprägt und in der Hoffnung, dass ich Max je wiedersehen würde, lief ich in Gedanken versunken den schmalen Weg neben Wiesen und Feldern bergab. Ich vernahm das laute Rauschen Blätter kaum, sondern hörte tief in Gedanken Max´ Worte, die der Wind nun übers Land trug: Erinnerungen sterben nicht.

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