Nachtgedanken

Da war dieses Rot. Die Farbe ihrer geschwungenen Lippen, die sich als einziges von der Dunkelheit der Nacht abhoben. Einer Nacht, in der man erkannte, wie klein man doch war, verglichen mit dem Rest der Welt. Das war der Gedanke, den Nora hatte, als sie im Nachtzug saß, den Kopf erschöpft gegen das kühle Glas der Scheibe gelehnt. Stumm betrachtete sie ihr verzerrtes Spiegelbild.

Von der schlanken Gestalt und der makellosen Haut, über die von dichten Wimpern umrahmten, braunen Augen bis hin zu dem Klang ihrer Stimme, schien Nora eine Vollkommenheit auszustrahlen. Hätten die übrigen Fahrgäste in dem belebten Abteil sie mit einem Wort beschreiben müssen, so wäre es Perfektion gewesen.

Perfektion.

Nora hatte dieses Wort hassen gelernt. Beim Ballett war es immer um Perfektion gegangen. Bereits als Kind war sie stets, sei es beim Sport oder der Schule, mit anderen verglichen und zu besseren Leistungen angespornt worden. Hatte sie auf der Bühne eine besonders starke Vorführung abgeliefert, hatte es höflichen Beifall und das schwache Nicken der Jury als Belohnung gegeben. Machte sie jedoch einen Fehler, wurde dies sofort vermerkt und Nora glaubte eine Spur der Enttäuschung auf den Gesichtern ihrer Eltern zu sehen.

In dieser Welt schien es keinen Platz zu geben fürs Scheitern. Nora fragte sich, warum es nicht in Ordnung war, sein Bestes zu geben, auch wenn dies oft nicht ausreichte. Warum Menschen andere und sich selbst für die einfachsten Dinge verurteilten. Da Nora keine Antworten auf diese Fragen wusste, hatte sie dafür gesorgt, den Schein der Perfektion zu wahren. Personen in ihrem näheren Umfeld sahen genau das, was sie sehen sollten.

Die Art wie Nora sich bewegte, wie sie redete und lachte, ja sogar wie sie andere ansah, hatte etwas Überlegenes und Bewundernswertes an sich. Männer verliebten sich in sie, Frauen eiferten ihr nach. Sie alle waren blind für die Wirklichkeit. Die unbändige Angst, ihre Mitmenschen zu enttäuschen, war Jahr für Jahr in Nora gewachsen und gereift. Je mehr Zeit vergangen war, desto verbitterter hatte sie sich an ihre Maske geklammert. Doch sie wusste: Nur ein Fehler, nur ein kleiner Ausrutscher, und sie würde in tausend Stücke zerspringen.

An diesem Abend war Nora dem Zusammensturz ihrer Fassade so nah gewesen, wie noch nie. Sie versuchte das Geschehene vollständig vor ihrem inneren Auge Revue passieren zu lassen, doch viele Details des Streites drohten bereits zu verblassen. Gut so, dachte sie in einem Moment der Erleichterung. Schließlich hatte sie die Flucht aus der Realität gewollt und diese mit Betreten des Nachtzuges gefunden. Doch Nora wusste, dass die Glasscherben in der Küche, die stummen Zeugen des Geschehenen, sie wieder an alles erinnern würden, wenn sie nach Hause kam. An die Erregung in seiner Stimme, den fiebrigen Glanz in seinen Augen und seine vergeblichen Versuche, sie in den Arm zu nehmen. Als sie ihn von sich gestoßen hatte, war das Weinglas zu Bruch gegangen.

Nora zuckte zusammen. Erneut dachte sie an die tiefrote Farbe zurück. Lippenstift, Wein… aber da war noch etwas anderes. Die Farbe ihres Sommerkleides, das er so an ihr liebte. Nora dachte an die unzähligen Ausflüge zurück, bei denen sie es getragen hatte. Die Art, wie er sie dann angesehen hatte: so stolz; ihre zierlichen Finger von seiner rauen Hand umschlossen. Nora war schon immer der Ansicht gewesen, dass ihre Hände perfekt ineinanderpassten.

Und dennoch musste sie sich eingestehen, dass es ihr zunehmend schwerfiel, ihre Maske vor ihm aufrecht zu erhalten. Zunächst waren es nur kleine Risse gewesen, die sich auf deren Oberfläche zeigten. Ein unglücklicher Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, bevor sie diesen verstecken konnte. Dann hatte die Fassade mehr und mehr zu bröckeln begonnen. „Wahre Schönheit ist natürlich“, hatte er gesagt, „Menschen sind am Schönsten, wenn sie lachen. Aber die Art, wie du lachst, wirkt so unaufrichtig.“ Bei seinen Worten hatte ihr Herz für einen Moment aufgehört zu schlagen. Mit leerem Blick hatte sie sich abgewandt, während die Angst ihre Kehle hinaufkroch und sie zu ersticken drohte. Danach war da nur noch das Zuschlagen der Wohnungstür zu hören gewesen, bevor sie die qualvolle Stille der Nacht empfing.

Am Anfang hatte sie vorgehabt, nur eine kurze Runde um den Block zu laufen, einen klaren Kopf zu bekommen und sich zu sammeln. Sie hatte in ihrer dünnen Bluse auf dem Gehsteig gestanden und sich vorgestellt, wie sie zurückkommen würde. Sie hätte sich für ihr Benehmen entschuldigt, versprochen es in Zukunft besser zu machen und sie hätten sich versöhnt.

Dann jedoch war da dieses hässliche Gefühl in ihr aufgekommen, und sie dachte daran, wie er die ganze Nacht lang wach lag, die gebräunten Arme hinter dem Kopf verschränkt und angespannt auf Geräusche lauschte, die ihre Rückkehr ankündigten. Diese würden ausbleiben. Und er würde erkennen, dass er dieses Mal zu weit gegangen war, bei ihren üblichen Diskussionen.

Als der Zug zum Halten kam und etliche Fahrgäste ausstiegen, spürte Nora die neugierigen Blicke der anderen. Diese waren sicher interessiert zu erfahren, wer die schweigsame junge Frau war, die zu so später Stunde alleine und ohne Gepäck unterwegs war.

Bereits als Kind hatte Nora das Zugfahren geliebt. Sie hatte die übrigen Leute beobachtet, sich Namen und Geschichten für sie ausgedacht. Eine Ansammlung von Fremden. Ein jeder von ihnen hatte ein unterschiedliches Ziel, unterschiedliche Erwartungen und Träume, aber auch Ängste. Ob der Mann mit dem Blumenstrauß wohl seine Freundin besucht, hatte sich ihr jüngeres Ich gefragt, oder sind die Blumen für seine kranke Mutter? Ersterer Gedanke hatte sich als richtig herausgestellt, als Nora beobachtet hatte, wie der Mann von einer groß gewachsenen Dame am Bahnsteig empfangen wurde. Doch anstatt sich für die Blumen zu bedanken, schien sie sich über die Unpünktlichkeit des Zuges zu beschweren. Nora wusste noch haargenau, was sie in diesem Moment gedacht hatte. Und zwar, dass Menschen für wahre Schönheit keine Zeit hatten. Sie schienen aus irgendeinem Grund stets das Schlechte in allem zu sehen.

Jetzt, da sie selbst eine junge Frau geworden war, kam es Nora falsch vor, über andere zu urteilen, ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Wie oft hatte sie schließlich Dinge gesagt ohne jegliche Spur von Aufrichtigkeit? Wie oft hatte sie sich eingeredet, dass es okay wäre, allen etwas vor zu machen, insbesondere sich selbst? Und bei jedem Wort dieses halbherzige Lächeln auf ihren geschwungenen Lippen. Dabei hatte sie doch versucht aufrichtig zu lächeln. Aber keinem war der Unterschied aufgefallen. Lächeln in einer endlosen Spirale des Schmerzes. War das ihr Schicksal?

Und zum ersten Mal fragte sich Nora, ob sie glücklich war mit dem von ihr gewählten Leben. Sie hatte leben und sich selbst verwirklichen wollen als Tänzerin. Sie wollte sich nicht für ihre Handlungen schämen müssen. Aber wenn sie sich jetzt so ansah, war alles, was sie erkennen konnte, Lügen und Heuchelei.

Ein Ruckeln erfuhr das Zugabteil und ließ Nora erschrocken die Augen aufreißen. Wie sehr hatte sie sich in ihren Gedanken verloren? Wie lange war sie so ziellos durch die Gegend gefahren? Sie erinnerte sich nicht. Als ein heruntergekommener Bahnhof in Sicht kam, erhob sie sich langsam und wankte vorwärts. Das silberne Licht des vollen Mondes empfing sie, als sich die Zugtüren vor ihr öffneten. Auf dem Bahnsteig angekommen, richtete sich die junge Frau auf, inhalierte die kühle Nachtluft und atmete diese nach einigen Sekunden erleichtert aus. Der einsame Klang eines Windspiels drang von dem Bahnhofsgebäude zu ihr herüber. Sie begann zu laufen. Ohne Ziel. Einfach weiter. Allmählich lichtete sich der Nadelwald, durch welchen der Landstrich größtenteils geprägt war. Die Bäume standen in größeren Abständen voneinander entfernt und ließen das Mondlicht hindurch. Hinter einer Anhöhe erhaschte Nora einen flüchtigen Blick auf den schwarzen Ozean. Aus irgendeinem Grund schien er sie anzuziehen. Und als der feste Boden durch losen Sand abgelöst wurde, konnte sie dem Bedürfnis, die feinen Körner zwischen ihren Zehen zu spüren, nicht widerstehen. Den Blick auf das Rot ihrer Fußnägel gerichtet, schritt sie auf das Meer zu. Zaghaft zuerst, dann immer zügiger. Und als das eiskalte Salzwasser ihre Knöchel umschloss, fühlte es sich fast schon so an, als würden mit der Berührung alle Sorgen, Zweifel und Ängste der vergangenen Stunden von ihr abfallen.

Nora schloss die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Wellengang. Doch plötzlich erregte ein vertraut klingendes Geräusch ihre Aufmerksamkeit. Es war das Lachen eines kleinen Mädchens, das mit seiner Mutter etliche Meter entfernt zu einer stillen Melodie zu tanzen schien. Die weißen Kleider, das herzliche Lachen und die Art wie sie sich wiegten, erinnerten Nora aus irgendeinem Grund an den Tanz von Waldgeistern. Für einen Moment dachte sie, es handele sich bei den beiden um ein Trugbild; eine Folge ihres Schlafmangels. Doch dann riss der spitze Schrei des Mädchens sie zurück in die Wirklichkeit. Anscheinend hatte sie den Halt verloren und war hingefallen. Scheitern, dachte Nora unwillkürlich. Doch weder der Mutter noch dem Kind selbst schien der Vorfall etwas auszumachen. Ganz im Gegenteil. Eifrig rappelte sich die zierliche Gestalt auf, klopfte den Sand von der Kleidung, ergriff die Hand der Mutter und tanzte weiter. Nora beobachtete sie eine ganze Weile aus sicherer Entfernung. Dann ertappte sie sich dabei, wie sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte, bis sie direkt vor den beiden stand. Für einen Augenblick flackerte Angst in den Augen der Mutter auf. Doch diese erlosch in der Sekunde, in der ihre Tochter die kleinen Händchen ausstreckte und Nora einlud, sich ihnen anzuschließen.

Die junge Frau zögerte. Nachts mit Fremden am Strand zu tanzen, kam ihr unwirklich vor. Was würden ihre Freunde denken, wenn sie sie jetzt sehen könnten? Nach einer stundenlangen Fahrt ins Ungewisse. Doch die Dunkelheit um sie herum, die ihr anfangs so bedrohlich vorgekommen war, strahlte nun Ruhe und Geborgenheit aus.

Niemand würde sie sehen.

Sie begann schüchtern die Bewegungen der Tanzenden nachzuahmen. Anfangs fiel es ihr schwer zu tanzen, ohne Musik zu hören, ohne einen Rhythmus zu spüren. Doch mit jeder Minute, die verstrich, fühlte sie sich sicherer. Die Schritte schienen die richtigen zu sein. Sie ergriff die Hand des Mädchens, drehte sich, ließ sich vollkommen in dem Gefühl fallen.

Niemand würde sie sehen.

Dieser Gedanke gab ihr den notwendigen Mut und die Sicherheit aus sich herauszugehen, eine Leidenschaft zu empfinden, so wie sie sie damals fürs Ballett empfunden hatte. Doch dieses Tanzen war anders. Es kam nicht auf die richtige Haltung, auf Perfektion beim Ausführen der einzelnen Figuren an. In dieser Nacht war der Sandstrand ihre Bühne. Als Scheinwerfer fungierte der volle Mond, dessen Licht nicht reiner hätte sein können. Statt in die Gesichter des Publikums zu blicken, das sich auf den Rängen zu einer Einheit vereinigte, sah sie das tiefe Blau des Ozeans vor sich, ein einziger stummer Zuschauer.

Die drei Gestalten bildeten einen Kreis, wirbelten herum, sodass Sand aufstob. Das Adrenalin in ihren Venen, die wohlige Wärme, die zurück in ihren Körper strömte, das Gefühl der Sandkörner unter ihren Füßen und das Mondlicht auf ihrer Haut ließen Nora lebendig fühlen. Sie warf den Kopf zurück und lachte laut und aufrichtig.

Niemand würde sie sehen, dachte sie erneut und schluckte.

Niemand würde sie sehen…


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2 Kommentare zu „Nachtgedanken“

  1. Besser kann man die aufwuehlenden Gedanken einer jungen Frau nicht beschreiben. Sehr authentisch und interessant, macht Lust auf mehr.

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