Briefe an Jim

13.07.1937

Lieber Jim,

Wickard war ein kleines, ruhiges und abgelegenes Dorf. Dieselben Menschen, Häuser und Sitten seit etlichen Jahren und keine voraussehbare Veränderung in Sicht. Für meinen Geschmack war es immer ein wenig zu langweilig gewesen. Nie passierte etwas; nie wurde diesem verblassenden Ort auch nur ein Hauch von Farbe eingeflößt. Bis… du kamst.

Ich kann mich an jedes noch so winzige Detail unserer ersten Begegnung erinnern: Es war mitten im Sommer, die Kirschblüten an den Bäumen zeigten ihre volle Pracht und alle Bewohner hatten sich früh am Morgen auf dem Markplatz versammelt, um am sonntäglichen Gottesdienst teilzunehmen. Ich selbst war mit meinen Eltern gekommen. Das gebügelte Kleid und die geputzten Schuhe waren makellos; so, wie meine Mutter darauf bestand. Dazu noch die rosafarbene Schleife im Haar und meine sogenannte angemessene Erscheinung war fertig. Ja, meine Familie war vielleicht kleinlich und immer darauf aus sich anzupassen, doch nicht minder wie all die anderen Leute in diesem Dörfchen.

Wir saßen in der Kirche immer weit vorn, waren als Erste dort und gingen fast als Letzte. Mein Vater war ein angesehener Mann und kannte alle Bewohner. Er schätzte Höflichkeit und war ein offener Mensch, der jedoch auch von vielen beneidet wurde. Und während sich meine Eltern nach dem Gottesdienst noch mit dem Pfarrer unterhielten, verließ ich meinen Platz an ihrer Seite und lief zum Ausgang. Es war ein schöner Sommertag und ich hatte ganz bestimmt nicht vor, den Rest des Tages in diesen alten Gemäuern zu verbringen. Als ich hinaus ins Freie trat, blendete mich augenblicklich die Sonne und ich hielt inne. Es brauchte ein paar Sekunden, ehe ich wieder sehen konnte und das, was ich sah, raubte mir buchstäblich den Atem. Vermutlich war es nur das Neue und Unbekannte, dass mich nach so vielen Jahren Eintönigkeit angelockt hatte. Denn ich hatte schon immer einen Hang dazu, mehr zu erwarten, als ich letztendlich bekommen konnte, doch da standst du und vereintest alles miteinander in deiner bloßen Anwesenheit.

Diese dunklen, unergründlichen und endlos traurigen Augen fielen mir als erstes auf. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, dich so zu sehen; und all die Verzweiflung, die du ausgestrahlt hast, floss mit einem Mal auf mich über. Braunes Haar umspielte ein kantiges Gesicht und der hochgewachsene Körper war sowohl athletisch als auch drahtig. Du warst nicht viel älter als ich und gehörtest zu meiner Generation, die Wickard irgendwann am Leben halten würde und doch waren wir so gänzlich verschieden.

Ich wusste nicht, wie lange ich auf den Treppen zur Kirche gestanden und dich und deine Familie beobachtet hatte, die in ein Gespräch mit dem Direktor der örtlichen Schule vertieft war. Nur du wirktest irgendwie verloren – anwesend, jedoch warst du wiederum ganz wo anders. Wieso nur fiel es mir so schwer, mich von dir abzuwenden?

Erst einen Herzschlag später wurde mir bewusst, dass du mich ebenfalls beobachtet hattest und unsere Blicke kreuzten sich. Für einen Moment stand die Welt still. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein und das Einzige, was ich wahrnahm, war dein Geruch nach Gewürznelken und Seife, der vom Wind zu mir herübergeweht wurde. Ich wagte nicht mich zu bewegen, da ich befürchtete, dieser kostbare Augenblick könnte vergehen, wenn ich es tat. Doch jemand kam mir zuvor. Meine Eltern traten die Kirchenstufen zu mir herunter und die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter, riss mich aus der Versuchung, zu dir herüberzulaufen. Ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft ich mir nach diesem Tag vorgeworfen hatte, nicht einfach zu dir gegangen und „Hallo“ gesagt zu haben. Ich hätte nur zu gern gewusst, wann ihr hierhergezogen wart und warum ihr euch ausgerechnet nach Wickard verirrt hattet. Denn Fremde traf man in unserem beschaulichen Dorf recht selten.

Nur eine letzte Frage quälte mich in den darauffolgenden Tagen noch ein ums andere Mal: Wann würden wir uns wiedersehen?

In Liebe,

Deine Isa


25.09.1937

Lieber Jim,

Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick? Ich halte es für möglich. Seid unserer ersten Begegnung gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf. Egal, wo ich bin, egal, was ich tue; ich sehe nur noch dein Gesicht und diese traurigen Augen und versuche dahinter zu kommen, was sie so leidvoll wirken lässt. Vielleicht werde ich es ja nie erfahren, denn wir kennen uns nicht und es ist mir das Recht verwehrt, mehr über dich wissen zu wollen. Dennoch kann ich mich nicht davon abhalten, dir nachzuschauen, wenn sich unsere Wege kreuzen oder jemand deinen Namen sagt. Du musst wissen, ich bin nämlich nicht die Einzige, die sich fragt, wer diese neue Familie ist. In diesem Dorf machen Neuigkeiten schnell die Runde, also solltest du es den Leuten nicht zu übelnehmen, wenn sich die Gespräche über euch wie ein Lauffeuer verbreiten und urplötzlich verstummen, sobald jemand von euch ein Geschäft betritt oder über den Marktplatz läuft.

Mein ganzes Leben schon verbringe ich hier – sechzehn Jahre. Ich kenne jeden Mann und jede Frau, habe als kleines Mädchen jeden Stein umgedreht, nur um etwas Neues zu entdecken und weiß so manche Geschichte, die sicher nicht für alle Ohren bestimmt war. Nur über dich weiß ich nichts. Und das macht mich wahnsinnig. Dein Vater ist Handwerker und deine Mutter Wäscherin. Du hast insgesamt drei Brüder und lebst mit deiner Familie in einem Haus auf der anderen Seite des Ortes. Und wieder gelange ich zu demselben Ergebnis: Wer bist du?

Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch etwas an sich hat – ob gut oder böse ist mir gleich –, dass ihn zu etwas Besonderem macht. Also, Jim, was gibt es über dich zu wissen? Denn weißt du was, deine Augen haben dich schon längst verraten. Es passiert nicht ohne Grund, dass jemand so wird, wie er letztlich ist. Was hast du zu verbergen, dass dich in schlaflosen Nächten nicht loslässt? Ich verrate dir ein Geheimnis: Auch ich war einst nur ein Mädchen – freigesprochen von allen Sorgen. Doch das Einzige, was ich nicht aufhalten zu vermochte, war die Zeit und je älter ich wurde, desto weniger wurde die schützende Naivität, die von mir Besitz ergriffen hatte. Ich sah alte Dinge mit neuen Augen und erkannte die unvermeidbare Wahrheit, die sich schon immer vor meiner Nase befunden hatte und die ich einfach nicht sehen wollte.

Was machst du nur mit mir? Selbst jetzt nach etlichen Wochen, in denen ich dich eigentlich schon vergessen haben sollte, bist du derjenige, der meine Gedanken bestimmt. Es ist wie ein Spiel, dass ich einfach nicht gewinnen kann. Denn ich bin nicht der Spielmacher. Entweder raubst du mir die Luft zum Atmen oder du schenkst sie mir. Du könntest zulassen, dass ich innerlich verblute oder du rettest mich. Du entscheidest, ob sich der Sturm in meinem Inneren legt oder noch größer wird, als zuvor. Und du hast noch nicht einmal eine Ahnung davon, wie sehr sich mein Leben seitdem geändert hat.

Während ich diesen Brief schreibe, lächele ich gerade. Falls du das hier jemals lesen solltest, dann bitte ich um Verzeihung. Wahrscheinlich hältst du mich für verrückt, nachdem ich all dies niedergeschrieben, dir aber nie wirklich gesagt habe. Etwas, das an mir mehr ein Makel als eine besondere Eigenschaft ist, ist dass ich schlecht darin bin, offen über meine Gefühle zu sprechen oder sie selbst zu zeigen. Einen Ausweg habe ich darin gefunden, sie einfach aufzuschreiben. Also wenn du an diesem Punkt angelangt bist, dann versprich mir weiterzulesen. Es gibt noch so viel, dass ich dir sagen möchte, es bis jetzt jedoch noch nicht über mich gebracht habe. Unsere Geschichte hatte doch gerade erst angefangen.

In Liebe,

Deine Isa


06.01.1938

Lieber Jim,

An diesem Tag hatte sich unsere Geschichte verändert.

Es war am späten Nachmittag; die Sonne verneigte sich schon gen Horizont und kündigte deren baldigen Untergang an. Es war der Vorbote der Nacht und auch die schillernden Farben am Himmel zeugten von einem Schauspiel, das meines Erachtens im Winter am besten zur Geltung kam. Die kahlen Äste der Bäume waren von einer feinen Eisschicht überzogen, die die letzten flüchtigen Sonnenstrahlen auffingen. Auch die Wiesen, Felder und Dächer waren schneebedeckt und verzauberten ganz Wickard in eine glänzende Winterwunderwelt. Ich liebte den Winter, selbst, wenn er sich schon bald dem Frühling beugen musste und es bereits zu tauen begann. Doch ein paar Tage würden mir noch bleiben.

Jim. Ein einsamer Name und doch drehte sich meine Welt um nicht viel mehr, als um ihn.

In den letzten Monaten bekam ich dich immer häufiger zu Gesicht; in der Schule, beim Gottesdienst oder ganz unverhofft auf der Straße. Doch es war nicht annähernd genug. An diesem Abend hatte ich mich kurzerhand entschlossen, noch eine Runde mit dem kleinen Hund meiner Großeltern laufen zu gehen. Normalerweise lief ich eine ruhige Strecke durch den Wald, doch unbewusst hatten mich meine Schritte zu der Straße geführt, in der ihr gewohnt habt. Es war schon seltsam, wie sehr eine einzelne Person jemanden beeinflussen konnte. Bis vor ein paar Meter vor euer Haus wagte ich mich nicht. Zu groß war die Angst, von jemanden gesehen zu werden, auch wenn das lächerlich war. In diesem Moment machte ich mir nichts aus meinen tadelnden Gedanken, denn bisher waren ein paar scheue Blicke alles gewesen, was wir miteinander ausgetauscht hatten. Es schien mir nicht fair, mich in dein Leben zu drängen, wenn ich noch nicht einmal wusste, wie du darüber dachtest. Doch welche Möglichkeit sollte ich auch nutzen, dich kennenzulernen? Immer wenn ich mir ausmalte, wie ich dich ansprechen würde, lief alles schief und versetzte mir einen solch großen Schrecken, dass ich es lieber dabei beließ, dich aus der Ferne zu beobachten. Und als ich dort stand, immer noch wenige Meter von deinem Haus entfernt und dem aufbrausenden Schneesturm trotzend, flog die Haustür auf und offenbarte deine hochgewachsene Gestalt. Ich traute meinen Augen kaum. Das Verandalicht ging an und im Schein des flackernden Lichts, erkannte ich deinen Vater, wie er dich die Treppenstufen hinunter in den Schnee stieß. Plötzlich holte er aus und traf dich mit voller Wucht am Kinn. Nur mit Mühe konnte ich einen Schrei verhindern und hielt mir schnell die Hand vor den Mund. Meine Augen weiteten sich immer mehr und jede Faser meines Körpers schrie danach, zu dir zu eilen, um dir zu helfen. Doch ich war wie erstarrt. Egal, was ich vorhatte zu tun, meine Füße gehorchten mir einfach nicht und so musste ich voller Angst abwarten, bis dein Vater von dir abließ und wieder im Haus verschwand.

Mit dem kleinen Terrier an meiner Seite gab ich mich kurz darauf dem Verlangen hin, zu dir zu rennen und mich neben dir im Schnee hin zu knien. Als ich dir jedoch ins Gesicht blickte, wurde mir mit einem Mal schwindelig von dem ganzen Blut und ich war froh, mich schon am Boden abstützen zu können. Es war schwer eine Stelle in diesem entstellten Gesicht zu finden, die nicht geschwollen oder blutig war.

Ohne es zu merken, liefen mir immer mehr Tränen die geröteten Wangen hinunter. Und mehrere verstrichene Sekunden später fragte ich mich, ob es je wieder aufhören würde. Mein leises Weinen war zu einem lauten Schluchzen geworden. Plötzlich spürte ich etwas Warmes an meiner Wange, bis ich durch die verschwommene Sicht erkannte, dass es die zarte Berührung deiner Fingerspitzen war, die federleicht über meine Haut strich. Damals hast du mich gefragt, warum ich geweint habe. Und ich hielt es für die absurdeste Frage, die du in diesem Moment hättest stellen können. Nicht ich war diejenige, die geschunden am Boden lag, sondern du. Darauf habe ich nur noch mehr geweint und du warst derjenige, der mich getröstet hat.

An diesem Abend hatte sich unsere Geschichte wirklich verändert. Und nachdem ich dich mit zu mir nach Hause genommen hatte, um deine Wunden zu versorgen, hatte ich mich noch mehr in dich verliebt, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Es wäre mir lieber gewesen, wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten, doch vielleicht würde ich nun endlich mehr über den Jungen mit den schier endlos traurig wirkenden Augen erfahren.

Nichts geschieht ohne Grund. Auch nicht unsere miteinander verflochtenen Wege – ob eng beisammen oder getrennt.

In Liebe,

Deine Isa


17.11.1939

Lieber Jim,

Du hast mich gelehrt zu vertrauen, dafür einzustehen, was mir am meisten am Herzen liegt und mich nie mit dem zufrieden zu geben was ich habe, wenn es noch so viel gibt, was man eigentlich haben könnte. Das Einzige, was ich jedoch brauche, um mich schwerelos zu fühlen, ist dein wundervolles Lächeln und deine Augen, in deren intensiven Blick ich jedes Mal versinken könnte. Der bloße Gedanke an dich lässt mein Herz schon wie wild schlagen.  

Du hast dafür gesorgt, dass die letzten Monate zu den Schönsten meines Lebens wurden. Nach dieser Nacht hast du tagsüber sowie in meinen Träumen über mich gewacht, während ich deine engste Verbündete im Kampf gegen die Dämonen wurde, die dich manchmal befielen und bis zur Gänze erschöpften. Nach all den vergangenen Stunden, die wir schon miteinander verbracht hatten, nach all den unzähligen Gesprächen, in denen ich endlich hinter die sich spiegelnde Oberfläche sehen und einen Blick auf den Meeresgrund erhaschen konnte, sollten unsere täglichen Begegnungen ein Leichtes für mich sein. Doch das genaue Gegenteil war geschehen: Ich konnte noch so viel von dir und deinem früheren Leben erfahren, es war nicht annähernd genug. Jede Geschichte und jeder Gedanke, den du einst gehegt hast, war nur ein Bruchteil deiner dessen. Und um das fertige Bild zu sehen, brauchte es schon mehr als diese lächerlichen paar Stunden. Es brauchte ein ganzes Leben.

Der ständig betrunkene Vater und die liebevolle, jedoch willensschwache, Mutter, hatten einen tiefen Riss in deiner Seele hinterlassen, den ich nun versuchte wieder zu verschließen. Eine solch tiefe Narbe – verblasst und nicht mehr sichtbar, obwohl deren Schmerz noch immer spürbar war – brauchte seine Zeit, um heilen zu können.

Gerade das war es ja. Zeit. Das Kostbarste und Einzige, das wir nicht hatten. Unsere verging schneller, als ich gedacht hatte und das Geschehen der Welt ließ unsere idyllische kleine Blase zerplatzen. Immer und immer wieder zeichnet sich ein Bild vor meinen geschlossenen Augen ab: Wie dich der Soldatentrupp mit den anderen kampfesfähigen jungen Männern aus dem Dorf führte und deine Augen sich abermals mit der gleichen Trauer auszeichneten, die du bei unserer ersten Begegnung verspürt hast. Du warst ab diesem Punkt nur einer von tausenden, die in die Armee eingezogen wurden und doch schien dein Verlust am schwersten zu wiegen. Der Krieg war ausgebrochen und hatte nun auch unser kleines Dorf erreichte. So wie jedes, musste es seinen Tribut zahlen. Und du warst meiner. Es war ungewiss, wann und ob wir uns je wiedersehen würden. Bei diesem Gedanken zerbrach mir das Herz und wollte aufhören zu schlagen. Das Letzte, was mir blieb, war das Gefühl deiner Lippen auf meinen gewesen. Ein verzweifeltes und gewagtes Versprechen dafür, dass du versuchen würdest, zurück zu kommen. Zu mir.

In Liebe,

Deine Isa


24.05.1943

Lieber Jim,

Das Letzte Mal, dass ich von dir gehört habe, ist schon fast ein Jahr her. Zuletzt weiß ich, dass du in einem Lazarett an der russischen Grenze aufgenommen wurdest. Ich weiß jedoch nicht, wie sehr du verletzt gewesen warst oder ob du überhaupt noch gelebt hast. Jedes verfluchte Mal, wenn ich neue Gerüchte über den Krieg aus der Stadt höre, bringt es mich fast um. Die Sorge um dich ist alles, was mich noch bestimmt. Bei jedem fernen Donnergrollen und jeder Bombenexplosion, wird meine Verzweiflung größer. Ich bin immer noch hier in Wickard und dazu verdammt, nichts tun zu können, als auf die unebene Landstraße zu starren und darauf zu hoffen, dass du sie eines Tages gehen wirst. Bis dein Weg schlussendlich wieder zu mir führt. Aber jeder weitere Monat, in dem ich vergebens hoffe, ist eine erneute Qual. Oh, Jim, wann kommst du endlich zurück zu mir?  

Im November werden es vier Jahre, in denen wir schon voneinander getrennt sind. Kaum zu glauben, dass ich es bis hierher durchgehalten habe. Jeder Schritt ohne dich fühlt sich endlos beschwerlich an. Mein Körper bleibt jung, doch meine Seele zerfällt. Vermutlich ist das das Schicksal des gesamten Dorfes. Irgendwann sind wir nicht viel mehr als Schatten unserer selbst.

Ich sollte dir schreiben, dass dein Vater letzten Winter verstorben ist. Eine schwere Lungenerkrankung. Es waren nicht viele Leute auf der Beerdigung und ich bin mir sicher, du hättest es mir verboten, doch ich habe trotzdem einen Grabstein anfertigen lassen. Er war immerhin ein Teil deines Lebens. Deine Mutter und deine Brüder sind wohl auf. Ab und zu sehe ich sie im Gottesdienst, wenn sie für dich beten. Sie haben die Hoffnung ebenfalls nicht aufgegeben; so wie ich.

Eines will ich dir sagen, Jim Hoeffer, ich wurde in eine Familie hineingeboren, in der es gang und gebe ist, dass man seine Versprechen hält. Und ich spüre deinen Kuss nach all den Jahren noch so intensiv auf meinen Lippen, als wäre es erst gestern gewesen. Du wirst zu mir zurückkommen und das sage ich mit all dem Kummer, den ich je gelitten habe! Ich werde auf dich warten, Geliebter. Auch wenn es noch weitere vier Jahre dauern sollte. Erinnere dich an meine Worte; jedes Mal, wenn du die Augen schließt, werde ich bei dir sein und sollte es dein letztes Mal bleiben.

Für immer dein,

Isa


Sommer 1946

Die Front stand still und der Krieg war vorbei.

Für die Meisten war ein Wunder geschehen, für Jim war es die langersehnte Erlösung. Nach etlichen Monaten der Kriegsgefangenschaft, war auch er endlich heimgekehrt. Sein geschundener Körper sehnte sich nach Ruhe, doch sein Herz brauchte nichts dringender als sie. Wie oft hatte er doch nachts wachgelegen, weil seine Gedanken um nichts anderes gekreist waren! Und nun war er so kurz davor seine ausgebrannte Seele durch einen Blick auf sie zu heilen. Es war wie damals, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren; die vom Wind verwehten Kirschblüten, das gleisende Sonnenlicht und im Hintergrund die alten Kirchengemäuer. Das Bild hatte sich jedoch verändert: In der westlichen Fassade prangte eine riesige, klaffende Öffnung und während die eine Hälfte der Flügeltür komplett zerstört worden war, hing die andere noch gerade so in den Angeln. Nur Isa war das einzig Beständige inmitten eines wütenden Sturmes.

Als er vor sie trat, blieb sie mitten auf den Kirchenstufen stehen. Ihre Augen weiteten sich und ihr Gesicht bot ein Schauspiel aus den unterschiedlichsten Emotionen, dennoch konnte er sowohl seine Vergangenheit und Gegenwart als auch Zukunft in ihren Augen lesen.

Für Martha und Theodor Sowada.

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