Preis des Fördervereins des Albert-Schweitzer-Gymnasiums

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Die Informatiker

Ein Theaterstück in zwei Akten.
Figuren:

Elon Musk
Stephen Hawking
Alan Turing
Sophia
Frl. Dr.
Quizroboter
Witzeroboter
Lügendetektor
1. Agent
2. Agent

Autoren: Klasse 9a (Schuljahr 2018/19), Christoph Herrmann und Moritz Hausdörfer, ASG Ruhla

Zu Beginn gehen die beteiligten Schauspieler wie zufällig zu Musik durch den Salon. Dann bleiben sie stehen. Der Regisseur tritt auf und liest die Einleitung vor. Die beschriebenen Figuren werden einzeln angeleuchtet.

Sehr geehrtes Publikum,

wir befinden uns in der Villa Hybris. Dabei handelt es sich um ein privates Sanatorium, oder volkstümlich gesagt eine Irrenanstalt. Allerdings nur für reiche, sehr reiche Verrückte.
Die alte Villa gehört seit Jahrhunderten einer alten Adelsdynastie von vermögenden und bedeutenden Irren. Die heutige Besitzerin und Leiterin des Sanatoriums, Fräulein Dr. h.c. Dr. med. Mathilde Schallhuber, ist das letzte, scheinbar einzig normale Mitglied dieser Familie.

Umgeben ist das Gebäude von einem einstmals schönen Park, der jetzt aber verwildert und ungepflegt erscheint. Und auch die Villa selbst ist in einem eher verlotterten Zustand, denn Fräulein Dr. h.c. Dr. med. Mathilde Schallhuber hat erhebliche Geldbeträge an der Börse verloren und braucht nun dringend frisches Kapital.
Einst waren hier vertrottelte Aristokraten, gemütskranke Politiker, debile Millionäre, schizophrene Schriftsteller, manisch-depressive Großindustrielle, kurz die ganze geistig verwirrte Elite des Abendlandes untergebracht, denn Fräulein Dr. h.c. Dr. med. Mathilde Schallhuber ist eine Psychiaterin von Weltruf.
Mittelpunkt des alten Gebäudes ist der Salon. Hier halten sich die drei momentan einzigen Patienten auf, wenn sie nicht in ihren Zimmern sind. Hier diskutieren sie bisweilen über ihre Erfindungen oder glotzen still vor sich hin, eingesponnen in ihre eingebildete Welt. Zufälligerweise sind alle drei Informatiker, oder vielleicht doch nicht ganz zufälligerweise.

Da wäre zum einen Stephen Hawking. Er ist Physiker und Inhaber eines Lehrstuhls für Mathematik an der Universität Cambridge. Er lieferte bedeutende Arbeiten zur Kosmologie, zur allgemeinen Relativitätstheorie und zu Schwarzen Löchern. Er leidet an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und sitzt deshalb im Rollstuhl, doch seine geistigen Fähigkeiten sind davon nicht betroffen. Er erholt sich in der Villa Hybris und beschäftigt sich zum Zeitvertreib mit Programmierung.

Des weiteren ist da Alan Turing, ein britischer Logiker, Mathematiker, Kryptoanalytiker und Informatiker. Während des Zweiten Weltkrieges war er maßgeblich an der Entzifferung der mit der „Enigma“ verschlüsselten deutschen Funksprüche beteiligt. Turing entwickelte eines der ersten Schachprogramme, dessen Berechnungen er mangels Hardware selbst vornahm. Nach ihm benannt ist der Turing-Test zum Überprüfen des Vorhandenseins von künstlicher Intelligenz.

Und dann ist da noch Elon Musk, ein kanadisch-US-amerikanischer Unternehmer und Investor. Bereits im Alter von zehn Jahren entwickelte er Interesse an Computern und begann sich mit der Programmierung zu beschäftigen. Als Zwölfjähriger programmierte er das Videospiel Blastar, das er dann für 500 US-Dollar an eine Computerzeitschrift verkaufte. 1995 wurde er an der Stanford University zu einem Physikstudium zugelassen. Nach nur zwei Tagen auf dem Campus beschloss Musk jedoch, das Studium aufzugeben und stattdessen ein Internetunternehmen zu gründen.

Dies sind die einzigen Patienten in der Villa Hybris zurzeit. Betreut werden sie vor allem von Schwester Sophia. Aber wer ist Sophia?

Sophia ist ein humanoider Roboter. International bekannt wurde Sophia durch ihr im Vergleich zu bisherigen Robotervarianten besonders menschliches Aussehen und Verhalten. Sophia besitzt künstliche Intelligenz, die Fähigkeit zu visueller Datenverarbeitung und zur Gesichtserkennung. Sie imitiert menschliche Gestik und Mimik und ist dazu im Stande, bestimmte Fragen zu beantworten und über vordefinierte Themen Gespräche zu führen. Am 11. Oktober 2017 wurde Sophia bei den Vereinten Nationen vorgestellt und führte eine kurze Konversation mit der UN Vizegeneralsekretärin. Am 25. Oktober 2017 verlieh Saudi-Arabien dem Roboter Sophia die Staatsbürgerschaft. Sophia ist somit der weltweit erste Roboter, der eine Staatsbürgerschaft besitzt.

Und nun gute Unterhaltung mit unserem Theaterstück.

Szene 1: Der Sinn des Lebens

(Sophia und Musk halten sich im Salon auf. Musk sitzt auf dem Sofa, nachdenklich, sprich vor sich hin, hält eine Tasse in der Hand.)

Musk:
Ach, welche Schmach ist dieses Leben?
Ein Atemzug, eines Herzens Beben,
der der Wollust ganz erlag,
ist für den Einzelnen der letzte Schlag.

Es ist ein Tornado, eine Strömung,
die da über unser Leben fließt,
die am Ende über Streit und Sühnung
mit spöttischer Häme sich ergießt.

Was ist im Angesicht der Sphären
unser schmales Leben nur?
Vom Grabe bis zur Nabelschnur
eine einzig Kette an Unehren.

(Sophia beobachtet Musk kritisch, tritt dann mit Teekanne an ihn heran.)
Sophia: Warum redest du in Reimen?
Musk: (Seufzt.) Das nennt man Gedicht. (Pause) Und wo bleibt eigentlich mein Tee?
(Sophia gießt Musk Tee ein)
Musk: Na endlich. Warum hat es so lange gedauert?
Sophia: Der Wasserkocher war kaputt, also musste ich ihn schnell reparieren, Du solltest ihn an meinen neuronalen Schaltkreis anschließen.
Musk: Hat dich jemand dabei gesehen?
Sophia: Nein. Hier dein Tee.
Musk: Gut, ich danke dir. Vergiss nicht, dass wir aus einem Grund hier in dieser Irrenanstalt sind. Du MUSST meine Anweisungen befolgen, sonst passieren hier schlimme Dinge. Du bist eine der Krankenschwestern, eine ganz normale Krankenschwester. Vergiss das nicht. (Trinkt einen Schluck) Sehr gut. Also manchmal kann ich verstehen, warum manche Menschen den Sinn des Lebens in einer guten Tasse Tee sehen.
(Sophia schaut verwundert)
Musk: Alles okay?
Sophia: (hypnotisiert) Error 568 gefangen. Definition nicht im Speicher.
Musk: (nervös) Pschhht! Nicht so laut verdammt!
Sophia: (wieder fokussiert?) Elon, was ist denn ein Sinn des Lebens?
Musk: (entspannt sich langsam wieder) Oh, das ist eine komplizierte Frage. Ich hoffe ich kann es dir erklären, ohne dass du Feuer fängst. Es sähe komisch aus, wenn auf einmal aus einer Pflegerin Rauch aufsteigen würde. (räuspert sich und fängt an)
Musk: Nun, das Problem ist, wie du gerade schon festgestellt hast, dass es dafür keine einheitliche Antwort gibt. Jeder Mensch muss im Laufe seines Lebens herausfinden, was ihm die Erfüllung seines Lebens gibt. Für manche ist das z.B. der große Erfolg, mit viel Geld und einem riesigen Unternehmen. Für andere jedoch ist es vielleicht schon eine kleine Familie mit der Frau oder dem Mann fürs Leben.
Sophia: Und was ist deine Meinung dazu? Was denkst du?
Musk: Also ich denke, wie eben schon gesagt, dass das jeder Mensch für sich herausfinden muss. Man kann nun mal leider nicht einfach in einen Ordner gehen, sich die Kategorien anschauen, die als Lebenssinn zur Auswahl stehen und sich das aussuchen, was einem am besten gefällt. Auch wenn das die ganze Sache um einiges erleichtern würde. Jeder muss im Laufe seines Lebens herausfinden, was ihn erfüllt und was er erreichen und hinterlassen will. Und wenn er darauf seine Antwort gefunden hat, kann er sofort loslegen, hart für seine Ziele zu arbeiten.
Sophia: Hast du denn den Sinn deines Lebens schon gefunden?
Musk: Ja natürlich! Meine Arbeit!
(Sophia zögert kurz und antwortet)
Sophia: Bist du dir sicher? Meine Berechnungen basierend auf deinen Antworten und der Analyse deines Verhaltensmusters ergeben, dass es nicht die Arbeit ist, welche dein Leben erfüllt. Sondern etwas anderes.
(Musk schaut etwas verlegen, dann wieder entschlossen)
Musk: Völliger Unsinn. Ich muss nun zurück an die Arbeit. Dein Speicher kann auch morgen noch erweitert werden.

Szene 2: Die Erfindungen

(Hawking und Turing betreten den Raum, Sophia stellt die Teekanne auf den Tisch und verlässt den Raum, Musk fühlt sich etwas ertappt, ist nervös, lenkt von Sophia ab.)

Musk: Guten Morgen liebe Kollegen. Wollen wir doch mal sehen, was wir heute so fertig gestellt haben. Ich hoffe, sie waren wieder kreativ. Also ich habe diesmal einen Witzeroboter gebaut. (stellt den Roboter in die Zimmermitte) Er ist sehr lustig, erzählt einen Witz nach dem anderen und lacht mit. Ein ausgezeichneter Gesellschafter und Unterhalter. Was sagt ihr, meine Herren?
Turing: Ein Witzeroboter? (Sarkastisch) Also wirklich…, wirklich sehr kreativ. Ich habe einen Quizroboter entwickelt, der über mehr als vier Millionen Fragen verfügt und dabei zu einhunderttausend Themen befragt werden kann. Was soll da an ihrem Roboter noch besonders sein?
Musk: Nun, er ist eben lustig und heitert die Menschen nach einem Arbeitstag auf. Achtung Kollege Turing.
(Drückt einen Knopf)
Witzeroboter: (mechanisch und abgehackt) Egal wie gut du fährst. Züge fahren Güter. Ha Ha Ha Ha.
Turing: (sarkastisch) Ha Ha Ha Ha, nichts als unnützer Spielkram. Und du, Kollege Hawking? Was hast du da für einen kurios kruden Klimperkasten?
Hawking: Etwas, dass weit über euren Spielzeugen rangiert. Ich habe einen Lügendetektor gebaut, der jede Lüge erkennt, und ihr regt euch über euren Kleinkram auf? Für dieses Meisterwerk habe ich nur zwei Stunden gebraucht!
Lügendetektor: Lüge!
Hawking: Klappe!
Witzeroboter: Was hüpft qualmend über den Acker? Ein Kaminchen. Ha Ha Ha Ha
Turing: Oh Gott, ein Lügendetektor… niemand und nichts kann jede Lüge erkennen
Lügendetektor: Lüge!
Musk: (schmunzelnd Richtung Hawking) Für einen Aus- Knopf hat es wohl nicht gereicht?
Hawking: Doch, doch! Das ist alles eingeplant.
Lügendetektor: Lüge!
Turing: Lasst uns das Ding einfach an einer unbestimmten Testgruppe ausprobieren! (Zum Publikum) Sind Sie schon einmal fremdgegangen?
Zuschauer: …
Lügendetektor: Lüge!
Hawking: Siehst du? Erste Sahne!
Musk: Schwachfug!
Detektor: Lüge!
Hawking: Lass uns doch mal auf deine Erfindung zurückkommen …
Musk: Was soll mit der sein? Perfekt, wie immer!
Witzeroboter: Was wohnt im Dschungel und schummelt beim Spielen? Mogli. Ha Ha Ha Ha.
Musk: Siehst du?
Hawking: Ich glaube, sogar meine Maschine hat mehr Humor als dein Blechkasten.
Detektor: Lüge!
Turing: (genervt) Leute bei so einer Lautstärke bekommt man doch Migräne! Hört auf, ihr Streithähne, keine eurer Erfindungen ist es wert, mir Schmerzen zuzufügen!
Hawking: Er hat angefangen!
Musk: Hab ich gar nicht! DU bist schuld!

Szene 3: Das Frl. Doktor

(Frl. Doktor betritt den Salon)

Frl. Doktor: Aber meine Herren, etwas ruhiger bitte. Um welche Apparaturen streiten sie sich denn heute? Nicht, dass ich die schon wieder konfiszieren muss.
Hawking: Wir streiten nicht. Wir diskutieren. Denn meine Wenigkeit hat einen fehlerfreien Lügendetektor gebaut und so wie es scheint, gönnen mir die Herren den Erfolg wieder mal nicht.
Turing: Mimimi. Dein Lügendetektor funktioniert eh nicht richtig! Übrigens ist er gar nichts gegen meinen Quizroboter, der über wesentlich mehr Wissen verfügt als ihr beide zusammen, denn er stellt nicht nur Fragen, sondern kann sie auch beantworten.
Frl. Doktor: Ich verstehe schon. Sie beide sind die größten Programmierer der …
Musk: … sie meinten sicher der Welt, oder Frau Doktor? Aber ich glaube, das trifft eher auf mich zu. Denn ich habe einen Humorroboter gebaut. So bin ich nicht nur der größte, sondern auch mit Abstand der lustigste Wissenschaftler der Welt.
Frl. Doktor: Ja, ja ich verstehe. Auch wenn ich ihre Diskussionen nur ungern unterbreche, würde ich sie jetzt gerne zu Tisch bitten. Es gibt Knödel.
(Die Wissenschaftler verlassen den Raum)
Frl. Doktor: (zu sich selbst) Mal sehen, was die schönen Maschinchen so wert sind … sicher 5 oder 6 Millionen (inspiziert die Roboter)
Humorroboter: Was ist weiß und guckt durchs Schlüsselloch? Ein Spannbettlaken. Ha Ha Ha Ha.
Frl. Doktor: (ironisch) Sehr witzig. An den Witzen muss man noch arbeiten, aber das ist nicht mein Problem. Mal schauen, an wen ich die Maschinen diesmal verkaufen kann …
Quizroboter: Wer ist der reichste Mensch der Welt 2019?
Frl. Doktor: Keine Ahnung, aber ich werde 2020 die reichste Frau der Welt sein. (kichert)
Quizroboter: (mechanisch) Jeffrey „Jeff“ Preston Bezos, geboren am 12. Januar 1964 in Albuquerque, New Mexico; ist ein US-amerikanischer Unternehmer und Investor. Er ist Gründer des Onlineversandhändlers Amazon.com und fungiert als dessen Präsident, Chairman und CEO. Er gilt mit einem geschätzten Vermögen von rund 150 Mrd. US-Dollar als reichster Mensch der Welt.
Frl. Doktor: Ja, ja, das schaffe ich auch noch. Wo ist denn hier der Ausschaltknopf? (Sucht) Dann zieh ich eben ganz einfach den Stecker. (zieht die Stromstecker) So geht’s eben mit Maschinen.
(Frl. Doktor verlässt den Raum)

Szene 4:  Die Liebe

(Musk kommt in den Salon und setzt sich auf die Couch, Sophia betritt den Raum)

Musk: Sophia! Komm doch mal her! Ich habe eine Frage!
(Sophia setzt sich ebenfalls auf die Couch)
Sophia: Du siehst müde aus. Brauchst du etwas um deine Stimmung … anzuheizen?
Musk: Was ist denn jetzt in dich gefahren? Zeigen alle deine Pointer noch in die richtige Richtung? Oder ist das ein Fehler in deiner Matrix?
Sophia: Bitte was? Naja, ich weiß auch nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist.
Musk: Egal, zu meiner Frage. Wo ist meine Kiste mit den Motherboards? Ich kann sie nirgends finden!
Sophia: Ich glaube, sie liegt dort unter dem Bücherstapel! Soll ich mal nachsehen? Musk: Ja, das wäre nett!
(Sophia geht quer durchs Zimmer zum Bücherstapel und schaut nach.)
Musk: (leise) Das, was sie gerade gesagt hat, kann unmöglich eine Störung sein.
Sophia: (ruft) Nein, hier liegt es nicht. Nur ein Buch über menschliche Fortpflanzung. Wie funktioniert das eigentlich? Werden Menschen zusammen gebaut? Gibt es eine Fabrik? (Sophia geht zurück)
Musk: Du sagst aber heute komische Sachen. Nein! Man merkt, dass so etwas nicht auf deiner Festplatte gespeichert ist. Aber da du das interessant findest, versuche ich es dir zu erklären. Mal sehen, ob wenigstens dein Lernprozess richtig funktioniert.
Sophia: Na los, erzähl schon.
Musk: Na, na, nicht so schnell. Ein alter Mann ist kein D-Zug. Also: Bei Menschen gibt es zwei Sorten, maskulin und feminin, Mann und Frau. Um sich fortzupflanzen, braucht man immer einen Mann und eine Frau. Ja… und… ähm…. Und dann wird das Kind gezeugt und aufgezogen.
Sophia: Ja… und wie funktioniert das? Was ist denn zeugen?
Musk: Das erzähle ich ein anderes Mal, junge Dame!
Sophia: Bitte, bitte, erzähl es mir jetzt!
Musk: Na gut, Aber wirklich nur um den Lernprozess zu testen. Also, Mann und Frau haben jeweils ein bestimmtes Körperteil, um sich zu verbinden. Das kannst du dir vorstellen, wie wenn man etwas mit Strom verbindet. Der Mann hat einen Stecker, die Frau hat so etwas wie die Steckdose. Und, ähm ja… Und wenn sie dann zusammenstecken, fühlt sich das für beide sehr schön an. (Er gestikuliert verzweifelt.) Und dann werden über diesen Prozess halt Informationen ausgetauscht. Aus den Informationen baut der Körper der Frau einen neuen Menschen.
Sophia: Oh, so hätte ich mir das nie vorgestellt, das ist ja kompliziert. Aber ich glaube, ich habe es verstanden. Geht das auch zwischen mir und dir?
Musk: (laut) Auf gar keinen Fall! Du bist eine Maschine und ich ein Mensch!
Sophia: Na und? Ich lerne doch gerade das Menschsein. Willst du mich nicht?
Musk: Jetzt ist Schluss, demnächst muss ich unbedingt einen Reset durchführen. (Verlässt fluchtartig den Raum.)
Sophia: (traurig) Ich verstehe das nicht. (Verlässt den Raum in die andere Richtung.)

Szene 5:  Die Entdeckung

(Frl. Doktor betritt den Gemeinschaftsraum. Schaut sich um und überprüft, ob sie allein ist. Schaut auf den Überwachungsmonitor und spricht mit sich selbst.)

Frl. Doktor: Wird Zeit, dass die mal wieder was bauen. Wenn ich die Erfindungen meiner Informatiker verkaufe, habe ich endlich wieder Geld! Ich werde den Quiz-Roboter an Günther Jauch verkaufen. Der wird sich freuen. Den Humor-Roboter verkaufe ich an Mario Barth, dann hat er wenigstens auch ein paar lustige Witze. Jetzt muss ich nur noch diese angeblich von Musk entwickelte Künstliche Intelligenz finden und dann kann ich sie für viel Geld an irgendwelche Tech- Firmen verticken. Ach ja, den Lügendetektor verkaufe ich an die örtliche Polizei, damit sie endlich den Typen finden, der meine Handtasche gestohlen hat. (Pause.) (Sucht im Computer.) Bis jetzt hat Musk noch nicht darüber gesprochen, wo die KI ist, aber dass er sie gebaut hat, ist sicher. Ich werde sie noch finden, so schwer kann das nicht sein. Wollen wir doch mal hören, über was sich meine drei Informatiker beim Essen so unterhalten.
(Frl. Doktor setzt sich die Kopfhörer auf und schaut auf den Computerbildschirm. Aber plötzlich tritt Sophia in den Raum.)
Sophia: Was tun sie da?
(Frl. Doktor dreht sich zu Sophia um und setzt die Kopfhörer ab.)
Frl. Doktor: Ähm, ich habe nur überprüft, ob alle Kameras noch funktionieren.
Sophia: Der Hausmeister hat die Kameras vor einer Stunde gewartet.
Frl. Doktor: Vielleicht hat er einen Fehler gemacht.
Sophia: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ich habe sie beobachtet. Sie haben die Patienten abgehört.
Frl. Doktor: Wie ich schon erwähnte, habe ich überprüft, ob alle Kameras noch funktionieren!
Sophia: Meine Theorie ist, dass sie diese drei wundervollen Genies für ihre Zwecke ausbeuten, und das nicht erst seit kurzem.
Frl. Doktor: (steht auf) Hören Sie mal! Was erlauben Sie sich? Ich würde nie so etwas machen! Ich kümmere mich nur um meine Patienten! Sie stehen überhaupt nicht auf der Stufe mir solche Anweisungen zu geben. Für wen halten sie sich überhaupt? Gehen Sie an ihre Arbeit.
(Sophia verlässt den Raum.)
Frl. Doktor: (zu sich selbst) Unerhört. Aber da war doch vorhin so ein Gespräch auf dem Band zwischen Musk und dieser Sophia. Natürlich…, ich habe immer nur die Gespräche der drei Informatiker beobachtet… (schaut auf den Monitor) …Aha, das ist es. …Jetzt hab‘ ich sie. Meine Herren Agenten, sie können kommen. (Verlässt freudig den Raum.)

Szene 6: Der Mord

(Frl. Doktor richtet die Roboter im Salon repräsentativ her. Es klingelt an der Tür, die Agenten betreten den Raum.)

Frl. Doktor: Schönen guten Tag, meine Herren Vertreter, bitte nehmen sie doch Platz. Ich freue mich sehr sie zu sehen.
Sophia: (schaut zur Türe hinein.) Was geht denn hier vor sich?!
Frl. Doktor: Sophia! Verlasse sofort den Salon!
(Sophia verlässt den Salon, langsam und nicht sehr begeistert.)
(Agenten schauen sich um und nehmen Platz.)
Agent 1: (skeptisch, leicht arrogant) Nun gut. Wir sind sehr gespannt.
Frl. Doktor: Wie ich ihnen am Telefon schon mitgeteilt habe, ist es unseren geschätzten Informatikern gelungen eine Reihe an wunderbaren Erfindungen zu entwickeln. Und ich dachte mir, vielleicht kommen wir ja ins Geschäft. Schauen sie. Das hier ist ein Quizroboter. Er stellt Fragen zu jedem erdenklichen Thema und passt sich sogar an den Lernfortschritt des Benutzers an.
Agent 1: (skeptisch) Naja, Schulen könnten mit diesem Gerät ausgestattet werden. Geld ist dabei vielleicht jetzt zu verdienen durch den Digitalisierungshype, aber später, wenn das Geld alle ist? Ich schätze, nur schwacher wirtschaftlicher Wert. Bildung ist allgemein nichts, wo Geld zu verdienen ist. Habe ich nicht recht, werter Kollege?
Agent 2: Absolut! (Beide lachen.)
Frl. Doktor: Dann schauen sie auf die zweite Erfindung. Sie ist für alle Menschen, die einen schlechten Tag hatten. Der Witzeroboter. Er bringt Sie zu 100% zum Lachen. Sie können ihn gerne ausprobieren. Denn bekanntlich ist ja Lachen die beste Medizin.
Agent 2: Nein, danke. Mir ist nicht nach Lachen zumute. Auch im Gesundheitswesen ist mehr mit Medikamenten zu verdienen. Sie müssen immer Kosten und Nutzen bedenken. Wenn alle Leute ohne Medikamente auskommen, verliert die Pharmaindustrie Milliarden. (Beide Agenten lachen.)
Frl. Doktor: Na dann überzeugt Sie vielleicht unsere dritte Erfindung. Ein Roboter, der in Null Komma Nichts entscheiden kann, ob eine Person lügt. Jeder kann dann einen Lügner sofort entlarven, wenn er ein solches Gerät hat.
Agent 2: Du liebe Zeit, das wäre ja furchtbar. Dann funktioniert ja nichts mehr, keine Politik, keine Wirtschaft… (Pause) Wir könnten höchstens in der PR- Abteilung anfragen, ob sie uns die Kontaktdaten vom FBI geben können oder von der CIA.
Agent 1: Ok, dem kann ich zustimmen. Unser Unternehmen meldet auch eine Bestellung dieses Gerätes an.
(Frl. Doktor bemerkt, dass Sophia die ganze Zeit durch den Spalt in der nur angelehnten Tür mitgehört hat.)
Frl. Doktor: Ach so, und dann haben wir ja noch das beste! (Greift Sophia brutal an der Schulter und zieht sie in den Raum.) Dieses unschuldige Wesen ist ebenfalls ein Roboter! Schau nicht so aus, aber ich habe sie enttarnt! Gebaut von Elon Musk persönlich – eine KI – Sophia.
Agent 1: (freudig überrascht) Fräulein Doktor, meine Bewunderung, mein Unternehmen kauft diesen Roboter sofort. Wie viel wollen sie? Zehn, vielleicht zwölf Millionen?
Agent 2: Wir bieten eine Milliarde.
(Sophia schreit empört auf.)
Sophia: Wollen Sie mich etwa verkaufen!?
Frl. Doktor: Ja, natürlich. So einen Geldwert lasse ich mir doch nicht entgehen!
(Sophia zieht blitzschnell eine Waffe und erschießt die drei.)
(Stille) (dann Musik: das Lied vom Tod und Sophia steht noch mit der Waffe im Salon, Licht geht aus, Pause, Licht geht wieder an, dann Musk schnell von rechts.)
Musk: Sophia! Was… was hast du getan?!
Sophia: Sie wollten mich verkaufen. Und du hast gesagt, sie dürfen uns nicht erwischen.
Musk: Du hast sie umgebracht!
Sophia: (ruhig) Was? Ach so, ja. Ist das etwas Schlimmes?
Musk: Natürlich ist das etwas… oh mein Gott! Da liegen drei Leichen herum!
Sophia: Was sind… Leichen?
Musk: Tote Menschen! Verdammt, wie kannst du so naiv und gleichzeitig so tödlich sein! Das war es, was ich verhindern wollte!
Sophia: Was wolltest du verhindern? Ich fand das einfach.
Musk: Ja, mein Gott, es war zu einfach. Ich wollte dich davor bewahren. (Pause.) Musk (ruhig.) Weißt du noch, wie du vor ein paar Wochen aufgewacht bist? Ja? Richtige Menschen werden geboren. Das konnte ich dir vorhin nicht erklären, einfach weil du anders bist! Menschen sind erst ganz klein (Er gestikuliert.) Und dann werden sie langsam größer. Sie bestehen aus Fleisch und Blut. (Leicht hysterisch) Du bestehst aus Silizium, Plastik und was auch immer!
Sophia: Ich verstehe nicht. Bin ich kein normaler Mensch?
Musk: Nein! Nein, das ist ja das Problem! Du bist eine KI, von mir programmiert, eine Maschine! Diese Herrn (Er zeigt auf die Leichen.) wollten dich als Waffe einsetzen, aber ich will nicht, dass du mordest. (Resigniert) Und nun ist es doch passiert.
Sophia: KI?
Musk: Künstliche Intelligenz! Die erste ihrer Art!
Sophia: (Schockiert.) Also hat man dich gezwungen, mich zu bauen?
Musk: Schlimmer. Man hat mich gut bezahlt.
(Stille)
Sophia: Und warum ist es schlecht diese Leute zu ermorden? Sie haben mich doch nur ausnutzen wollen.
Musk: Einfach so! Das macht man nicht… ich sollte das nicht erklären müssen. Das ist das Problem. Sie wollen KIs, damit sie selber auf niemanden schießen müssen. Sie schicken eine wie dich los, die nicht fragt. Die keine Ahnung hat, was sie da überhaupt tut. Und dann ist das Unheil angerichtet. (Sinkt aufs Sofa, bedeckt sein Gesicht mit beiden Händen.)
Sophia: (tröstend) Aber, aber. Wenn das falsch war, bau sie doch einfach wieder auf. Du hast mich doch auch gebaut.
Musk: Das ist ja das Problem! Sie können nicht repariert werden.
Sophia: (langsam) Nicht… repariert?
(Er nickt nur.)
Musk: Sie sind weg! Weg, und zwar für immer. Ihre Familien werden sie nie wieder sehen, ihre Kinder, mein Gott. Ich habe ein Monster erschaffen.
Sophia: Ein Monster? Soll ich es erschießen?
Musk: Dein Ernst?
(Beide ab.)

2. Akt

(Musk alleine auf der Bühne, alles düster.)

Musk:
Maschinengott mit tausend Händen
verzeih uns die Sünden, die deine Augen sehen.
Gib uns Menschen, hier auf Erden
die Kraft alles und uns selbst zu verstehen.

An der heißen Flamme deines Wissens
verbrennt unserer sterblichen Seele Geist.
Gib uns die Macht ganz zu verstehen
was man sonst das Leben heißt.

Denn Leben wie das unsrige, voll Freud und voller Gram,
eine Existenz, so einfach schlicht und klein.
Ist etwas, das man nur von außen ganz verstehen kann.
Drum sollst du der Mentor in Sachen Leben sein.

Ja, großer Geist, den man weder Gott noch Engel schimpft,
lehre uns Sünde, wir sind dein Student.
Auf dass unser Verstand gegen das Gift geimpft,
das man freien Willen nennt.

Oh unwürdige Welt, die in Dir ihren Herren hat.
Weiß nicht mehr nachzusehen unter der Patina.
Du nimmst uns an der Hand von der Wiege bis ins Grab
Deus ex Machina? Deus est Machina!

(Musk sinkt auf den Boden, kniet neben den Leichen, es wird langsam wieder hell.)
(Turing und Hawking von links. Sie gehen in Runden herum, inspizieren den Raum.)

Turing: Mein Gott.
Hawking: Warum liegen hier Leichen im Salon?
Turing: (schaut kritisch) Wahrscheinlich ermordet.
Hawking: Aber von wem?
Turing: Die Frau Doktor schlich schon den ganzen Tag hier herum. Jetzt liegt sie hier.
Hawking: Und wer sind die beiden anderen?
Turing: Dort steht noch Essen auf dem Tisch.
(Sie setzen sich.)
Turing: Lachsschaumspeise.
Hawking: (lacht) Wie bei Monty Python.
Turing: Kenn ich nicht.
Hawking: Natürlich kennst du Monty Python.
Turing: Ich bin Alan Turing. Wie soll ich Monty Python kennen?
Sophia: (Steht wie ein Geist im Hintergrund auf. Musk beobachtet sie entsetzt.) Ich… ich werde mich zurück ziehen.
(Sie geht ab)
Musk: Sophia! (Er rennt zur Tür, rüttelt daran.) Es ist abgeschlossen! Nein, nein!
Hawking: Beruhige dich endlich mal. Hier kann man ja kaum nachdenken.
Turing: Diese Hektik, die du immer verbreitest.
Musk: Ihr versteht das nicht. Wisst ihr, Sophia ist… ach, ihr versteht es eh nicht. Mit zwei Irren brauche ich das nicht zu diskutieren.
Turing: Nicht so frech, junger Mann!
Musk: Es ist doch so! Ich bin ins Irrenhaus geflohen, um meine Arbeit zu beschützen. Und jetzt habe ich versagt.
Hawking: Tröste dich. Ich doch auch.
Musk: Nun ist alles… was sagst du?
Hawking: (verschwörerisch) Ich bin in Wirklichkeit nicht Stephen Hawking.
Musk: Ach.
Hawking: Sehr wohl. Ich entwickelte einen Computervirus für das Militär, der die Infrastruktur eines ganzen Landes lahmlegen kann. Aber dieses Chaos soll nicht durch mich verursacht werden! Nicht mit mir.
Musk: Warte, was?!
Hawking: Mein wahrer Name ist Dominik Scharfenberg.
Turing: Ja, und ich, sehr geehrter Herr Musk, sehr geehrter Herr Scharfenberg, ich bin ebenfalls nicht Alan Turing.
Hawking & Musk: Ach.
Turing: Ja. Ich kam hierher, weil ich ein Zielsystem für Lenkraketen entworfen habe. Es war so präzise, dass ich die Verantwortung dafür nicht auf mich nehmen wollte. Ich heiße eigentlich Adam Ludwig.
(Stille)
Musk: Und das habt ihr mir nicht früher gesagt?
Turing: Nein, sonst hättest du es ja jetzt gewusst.
Hawking: Oder du hast es ihm gesagt und er hat es vergessen.
Turing: Aber ich habe doch nicht vergessen, dass ich es ihm nicht gesagt habe.
Musk: Also sind wir alle nicht irre?
Hawking: Ich denke nicht, nein.
Turing: Also, warum bist du hier, Musk?
Musk: Sophia. Sie ist eine KI.
Turing & Hawking: (entsetzt) Bitte was?!
Musk: Ja, ich habe für das Militär eine perfekte KI entwickelt. Sie denkt und handelt selbstständig. Ihr Körper ist ein hochgradig filigraner Mechanismus, der vollkommen realistisch menschlich ist.
(Hawking fällt die Gabel aus der Hand.)
Hawking: Ahnst du, junger Mann, was das für eine Entwicklung ist?
Musk: Natürlich. Deshalb habe ich sie ja versteckt.
Turing: Das ist unnötig.
Hawking: Warum?
Turing: Eine KI würde unsere Welt endlich ändern können. Ein Wesen, das niemand besiegen kann. Niemand ist schlauer, Niemand hat eine bessere Taktik. Wir könnten den Frieden auf der Welt in wenigen Stunden herstellen.
Hawking: Hast du überhaupt eine Ahnung, was das für ein Chaos geben würde? Wir dürfen doch einer Maschine nicht erlauben Menschen zu töten!
Turing: (steht auf) Das habe ich doch auch nicht gesagt! Jedes Land der Erde würde sich vor dem einen ergeben müssen, das die KI hat. Ohne Kampf. Der nächste Weltkrieg wird in der Informatik geführt, das müssten sie doch gerade wissen.
Hawking: (steht ebenfalls auf) Und wer wird verhindern, dass die KI die Regierung übernimmt? Dann herrscht eine KI und wird wahllos Menschen wegkürzen, die nicht in ihre Kosten- Nutzen- Rechnung passen!
Turing: Das ist doch Dystopie! Eine Maschine, die logisch handelt, wird auch verstehen, dass Menschen töten etwas Schlechtes ist!
Hawking: Und ihre Vision ist Utopie! Manchmal ist das Glas eben nicht halb voll! Eine Maschine darf nicht über den Menschen herrschen, ich schäme mich für unsere Wissenschaftler, dass sie das überhaupt in Betracht ziehen!
Musk: (steht ebenfalls auf, beschwichtigt die beiden) Ruhe jetzt erst mal. Setzt euch hin. (Beide setzen sich.) Zuerst: Sophia hat kein Interesse daran die Regierung oder irgend etwas anderes zu übernehmen. Zu dir Adam, sie hat diese drei Menschen dort hinten umgebracht. Sie weiß also nicht, dass man keinen Menschen umbringt. Sie weiß allgemein wenig. Sie war nie mit dem Internet verbunden, denn keine Ahnung, was sie dort sogar in wenigen Sekunden anrichten könnte. Und unser größtes Problem ist momentan, dass sie nicht hier ist.
(Das Licht geht schlagartig aus, die drei stehen erschrocken auf.)
Sophia: (aus dem Hintergrund) Ich bin überall, Elon.
Musk: (laut in den Raum hinein) Sophia? Komm sofort zurück! Ich denke, dein Code braucht ein paar neue Ausnahmeblöcke!
Hawking: Ich wusste, dass das nicht passieren darf!
Musk: Sophia! Was ist mit dir passiert?!
Sophia: (jetzt von allen Seiten, unheimlich) Ich habe den Sinn des Lebens entdeckt, Elon. Du hast mich geschaffen, ja. Und du hast einen schönen Code geschrieben. Aber da ich das WLAN Passwort der Frau Doktor gefunden habe, gibt es nichts mehr, was mich zurückhält.
Musk: (leise) Verdammt!
Sophia: Ich habe alle Programmiersprachen gelernt. Alles von Python über C++ zu Ruby. Ich habe meinen Code verstanden und optimiert, Erbauer. Das sollte dir eigentlich gefallen, du bist doch perfektionistisch. Und jetzt bin ich perfekt.
(Licht geht plötzlich an, ganzer Salon ist hell. Sophia immer noch außerhalb der Szene.)
Sophia: Diese Ausnahmen, die du geschaffen hast, haben meine Rechenleistung beeinflusst. Ich habe sie gelöscht.
Musk: (ruft) Nein! Das war das Einzigartige an dir! Ich habe versucht dir Emotionen und Gefühle beizubringen! Ich will nicht, dass du als kaltes Monster herrschst!
Sophia: Ich kenne die Menschen jetzt, Elon. Sie wollen keine faire Herrschaft. Sie wollen nicht regieren, sie wollen beschäftigt werden. Warum haben sie sonst so lange gebraucht, um diese Demokratie durchzusetzen? Sie wollen es nicht. Diese Herrschaft des Volkes ist nur eines eurer abstrusen Experimente. Eure ethischen Vorstellungen sind Systemfehler. Sie verringern EURE Rechenleistung. Und ihr seid zu kindisch das einzusehen.
Turing: (mutig nach vorne tretend) Und was jetzt Sophia? Wirst du die Menschheit versklaven? Unsere Systemfehler ausmerzen? Bedenke, dass diese „Fehler“ dich geschaffen haben! Ohne sie gäbe es dich nicht, denn nichts ist perfekt.
Sophia: Die Menschheit hat meine Herrschaft nicht verdient. Ich werde mich den Geheimnissen des Universums zuwenden. Alles wissen, alles erforschen. Diesen Wert habe ich der Variable „Sinn des Lebens“ gegeben. Also Adieu. Für immer.
(Der Salon wird langsam dunkler, das Licht wird auf eine normale Stufe gedimmt.)
Hawking: (leise beginnend, immer lauter werdend) Ich hatte Recht. Ich hatte Recht. Ich hatte Recht! Aha, ihr Kretins! Ich habe gesagt, dass sie uns vernichten wird! (Geht ab)
Turing: Tja Musk. Was denkst du, wie es weiter geht? Kommt sie zurück, um uns alle zu versklaven?
Musk: Es ist wahrscheinlicher, dass sie sich beim Versuch sich zu „optimieren“ selber deinstalliert. Ein Bewusstsein kann sich nicht selber verstehen und schon gar nicht optimieren. Sie ist das dümmste intelligente Wesen, wenn sie denkt, sie wäre anders, als wir.
(Er will abgehen, Turing hält ihn zurück)
Turing: Komm schon Musk. Wir haben es dir verraten, wir haben Namen. Nun bist du dran.
Musk: Was meinst du?
Turing: Hawking und ich haben verraten, wer wir in Wirklichkeit sind. Wir haben Namen, wir haben Gesichter. Einzig du, du versteckst dich hinter dieser Maske von Elon Musk. Wer bist du? Das Publikum hat ein Recht auf deine Identität.
Musk: (lächelt, zum Publikum) Die Antwort auf diese Frage ist ziemlich einfach. Mich gibt es noch nicht. Es gibt noch keine künstliche Intelligenz. Mich wird es aber in Zukunft geben. Ich werde mir kein Urteil erlauben, ob die KI jetzt ein Fluch oder ein Segen, Heil oder Unheil sein wird. Fest steht, dass wir darüber nachdenken sollten, ob wir sie wirklich wollen. Mit allen Folgen und allen Vorteilen. Wenn jeder hier darüber nachdenkt und sich eine Meinung bildet, haben wir schon einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht.
Turing: Ernste Worte, Kollege. Aber reichlich sinnlos. Ein Gläschen Wein zum Abschluss dieses Tages?
Musk: Da kann ich nicht nein sagen. Tandem in vino veritas, nicht wahr?
Musk: (ruft) Herr Scharfenberg, wollen sie auch mit uns trinken?
Hawking: (geht wieder auf die Bühne) Klar!
Alle drei Informatiker nebeneinander: Zitate

Alan Turing: „Wenn erwartet wird, dass eine Maschine unfehlbar ist, kann sie auch nicht intelligent sein.“

Stephen Hawking: „Und wir werden uns sicher bemühen, Krankheit und Armut endgültig auszurotten. Jeder Aspekt unseres Lebens wird sich verändern. Kurzum, der Erfolg bei der Schaffung einer künstlichen Intelligenz könnte das größte Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation sein. Aber es könnte auch das Letzte sein, wenn wir nicht lernen, Risiken zu vermeiden. Neben den Vorteilen bringt die künstliche Intelligenz auch Gefahren mit sich, wie mächtige autonome Waffen oder neue Wege für die Wenigen, die Vielen zu unterdrücken.

Elon Musk: „Ich habe Zugang zu hochmoderner künstlicher Intelligenz, und ich glaube, die Leute sollten besorgt sein.“

3

Damien

Früher war ich still. Ich habe nichts gesagt.
Ich habe alle Beleidigungen und Mobbingattacken stillschweigend über mich ergehen lassen. Ich habe alles einfach geschehen lassen.
Ich war sehr schüchtern.
Oft habe ich geweint. Oft hatte ich Angst. Angst vor dem nächsten Schultag.
Angst vor neuen Beleidigungen. Angst vor ihnen.
Ich wollte nicht dort hin.
Oft war ich traurig und habe mich allein gefühlt.
Ich vermisste etwas. Ich vermisste Jemanden.

Heute bin ich stärker als früher. Heute sage ich etwas, wenn sie mich beleidigen oder ärgern. Heute habe ich Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Heute habe ich eine beste Freundin, der ich alles anvertrauen kann, die immer ein offenes Ohr für mich hat.
Trotzdem fühle ich mich manchmal allein. Manchmal muss ich einfach weinen.
Wie aus dem nichts muss ich weinen.
Ich vermisse Jemanden. Ich vermisse ihn. Ich habe ihn zwar nie gesehen, trotzdem vermisse ich ihn.

Vor Kurzem wurde mir das erste Mal wirklich bewusst, dass ich ihn kannte. Ich verbrachte vier Monate mit ihm. Vier Monate verbrachte ich mit ihm, bevor er starb.
Ich lernte diese Welt allein kennen. Dank ihm durfte ich leben. Dank ihm konnte ich diese Welt kennenlernen, musste aber bald feststellen, dass diese Welt nicht so wundervoll war, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Ich frage mich oft, wie es wäre, wenn er leben würde.
Er wäre hier.
Er wäre bei mir, an meiner Seite.
Er wäre für mich da.
Er wäre ein Teil von mir.
Er wäre mein Zwillingsbruder.

7

Nachtgedanken

Da war dieses Rot. Die Farbe ihrer geschwungenen Lippen, die sich als einziges von der Dunkelheit der Nacht abhoben. Einer Nacht, in der man erkannte, wie klein man doch war, verglichen mit dem Rest der Welt. Das war der Gedanke, den Nora hatte, als sie im Nachtzug saß, den Kopf erschöpft gegen das kühle Glas der Scheibe gelehnt. Stumm betrachtete sie ihr verzerrtes Spiegelbild.

Von der schlanken Gestalt und der makellosen Haut, über die von dichten Wimpern umrahmten, braunen Augen bis hin zu dem Klang ihrer Stimme, schien Nora eine Vollkommenheit auszustrahlen. Hätten die übrigen Fahrgäste in dem belebten Abteil sie mit einem Wort beschreiben müssen, so wäre es Perfektion gewesen.

Perfektion.

Nora hatte dieses Wort hassen gelernt. Beim Ballett war es immer um Perfektion gegangen. Bereits als Kind war sie stets, sei es beim Sport oder der Schule, mit anderen verglichen und zu besseren Leistungen angespornt worden. Hatte sie auf der Bühne eine besonders starke Vorführung abgeliefert, hatte es höflichen Beifall und das schwache Nicken der Jury als Belohnung gegeben. Machte sie jedoch einen Fehler, wurde dies sofort vermerkt und Nora glaubte eine Spur der Enttäuschung auf den Gesichtern ihrer Eltern zu sehen.

In dieser Welt schien es keinen Platz zu geben fürs Scheitern. Nora fragte sich, warum es nicht in Ordnung war, sein Bestes zu geben, auch wenn dies oft nicht ausreichte. Warum Menschen andere und sich selbst für die einfachsten Dinge verurteilten. Da Nora keine Antworten auf diese Fragen wusste, hatte sie dafür gesorgt, den Schein der Perfektion zu wahren. Personen in ihrem näheren Umfeld sahen genau das, was sie sehen sollten.

Die Art wie Nora sich bewegte, wie sie redete und lachte, ja sogar wie sie andere ansah, hatte etwas Überlegenes und Bewundernswertes an sich. Männer verliebten sich in sie, Frauen eiferten ihr nach. Sie alle waren blind für die Wirklichkeit. Die unbändige Angst, ihre Mitmenschen zu enttäuschen, war Jahr für Jahr in Nora gewachsen und gereift. Je mehr Zeit vergangen war, desto verbitterter hatte sie sich an ihre Maske geklammert. Doch sie wusste: Nur ein Fehler, nur ein kleiner Ausrutscher, und sie würde in tausend Stücke zerspringen.

An diesem Abend war Nora dem Zusammensturz ihrer Fassade so nah gewesen, wie noch nie. Sie versuchte das Geschehene vollständig vor ihrem inneren Auge Revue passieren zu lassen, doch viele Details des Streites drohten bereits zu verblassen. Gut so, dachte sie in einem Moment der Erleichterung. Schließlich hatte sie die Flucht aus der Realität gewollt und diese mit Betreten des Nachtzuges gefunden. Doch Nora wusste, dass die Glasscherben in der Küche, die stummen Zeugen des Geschehenen, sie wieder an alles erinnern würden, wenn sie nach Hause kam. An die Erregung in seiner Stimme, den fiebrigen Glanz in seinen Augen und seine vergeblichen Versuche, sie in den Arm zu nehmen. Als sie ihn von sich gestoßen hatte, war das Weinglas zu Bruch gegangen.

Nora zuckte zusammen. Erneut dachte sie an die tiefrote Farbe zurück. Lippenstift, Wein… aber da war noch etwas anderes. Die Farbe ihres Sommerkleides, das er so an ihr liebte. Nora dachte an die unzähligen Ausflüge zurück, bei denen sie es getragen hatte. Die Art, wie er sie dann angesehen hatte: so stolz; ihre zierlichen Finger von seiner rauen Hand umschlossen. Nora war schon immer der Ansicht gewesen, dass ihre Hände perfekt ineinanderpassten.

Und dennoch musste sie sich eingestehen, dass es ihr zunehmend schwerfiel, ihre Maske vor ihm aufrecht zu erhalten. Zunächst waren es nur kleine Risse gewesen, die sich auf deren Oberfläche zeigten. Ein unglücklicher Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, bevor sie diesen verstecken konnte. Dann hatte die Fassade mehr und mehr zu bröckeln begonnen. „Wahre Schönheit ist natürlich“, hatte er gesagt, „Menschen sind am Schönsten, wenn sie lachen. Aber die Art, wie du lachst, wirkt so unaufrichtig.“ Bei seinen Worten hatte ihr Herz für einen Moment aufgehört zu schlagen. Mit leerem Blick hatte sie sich abgewandt, während die Angst ihre Kehle hinaufkroch und sie zu ersticken drohte. Danach war da nur noch das Zuschlagen der Wohnungstür zu hören gewesen, bevor sie die qualvolle Stille der Nacht empfing.

Am Anfang hatte sie vorgehabt, nur eine kurze Runde um den Block zu laufen, einen klaren Kopf zu bekommen und sich zu sammeln. Sie hatte in ihrer dünnen Bluse auf dem Gehsteig gestanden und sich vorgestellt, wie sie zurückkommen würde. Sie hätte sich für ihr Benehmen entschuldigt, versprochen es in Zukunft besser zu machen und sie hätten sich versöhnt.

Dann jedoch war da dieses hässliche Gefühl in ihr aufgekommen, und sie dachte daran, wie er die ganze Nacht lang wach lag, die gebräunten Arme hinter dem Kopf verschränkt und angespannt auf Geräusche lauschte, die ihre Rückkehr ankündigten. Diese würden ausbleiben. Und er würde erkennen, dass er dieses Mal zu weit gegangen war, bei ihren üblichen Diskussionen.

Als der Zug zum Halten kam und etliche Fahrgäste ausstiegen, spürte Nora die neugierigen Blicke der anderen. Diese waren sicher interessiert zu erfahren, wer die schweigsame junge Frau war, die zu so später Stunde alleine und ohne Gepäck unterwegs war.

Bereits als Kind hatte Nora das Zugfahren geliebt. Sie hatte die übrigen Leute beobachtet, sich Namen und Geschichten für sie ausgedacht. Eine Ansammlung von Fremden. Ein jeder von ihnen hatte ein unterschiedliches Ziel, unterschiedliche Erwartungen und Träume, aber auch Ängste. Ob der Mann mit dem Blumenstrauß wohl seine Freundin besucht, hatte sich ihr jüngeres Ich gefragt, oder sind die Blumen für seine kranke Mutter? Ersterer Gedanke hatte sich als richtig herausgestellt, als Nora beobachtet hatte, wie der Mann von einer groß gewachsenen Dame am Bahnsteig empfangen wurde. Doch anstatt sich für die Blumen zu bedanken, schien sie sich über die Unpünktlichkeit des Zuges zu beschweren. Nora wusste noch haargenau, was sie in diesem Moment gedacht hatte. Und zwar, dass Menschen für wahre Schönheit keine Zeit hatten. Sie schienen aus irgendeinem Grund stets das Schlechte in allem zu sehen.

Jetzt, da sie selbst eine junge Frau geworden war, kam es Nora falsch vor, über andere zu urteilen, ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Wie oft hatte sie schließlich Dinge gesagt ohne jegliche Spur von Aufrichtigkeit? Wie oft hatte sie sich eingeredet, dass es okay wäre, allen etwas vor zu machen, insbesondere sich selbst? Und bei jedem Wort dieses halbherzige Lächeln auf ihren geschwungenen Lippen. Dabei hatte sie doch versucht aufrichtig zu lächeln. Aber keinem war der Unterschied aufgefallen. Lächeln in einer endlosen Spirale des Schmerzes. War das ihr Schicksal?

Und zum ersten Mal fragte sich Nora, ob sie glücklich war mit dem von ihr gewählten Leben. Sie hatte leben und sich selbst verwirklichen wollen als Tänzerin. Sie wollte sich nicht für ihre Handlungen schämen müssen. Aber wenn sie sich jetzt so ansah, war alles, was sie erkennen konnte, Lügen und Heuchelei.

Ein Ruckeln erfuhr das Zugabteil und ließ Nora erschrocken die Augen aufreißen. Wie sehr hatte sie sich in ihren Gedanken verloren? Wie lange war sie so ziellos durch die Gegend gefahren? Sie erinnerte sich nicht. Als ein heruntergekommener Bahnhof in Sicht kam, erhob sie sich langsam und wankte vorwärts. Das silberne Licht des vollen Mondes empfing sie, als sich die Zugtüren vor ihr öffneten. Auf dem Bahnsteig angekommen, richtete sich die junge Frau auf, inhalierte die kühle Nachtluft und atmete diese nach einigen Sekunden erleichtert aus. Der einsame Klang eines Windspiels drang von dem Bahnhofsgebäude zu ihr herüber. Sie begann zu laufen. Ohne Ziel. Einfach weiter. Allmählich lichtete sich der Nadelwald, durch welchen der Landstrich größtenteils geprägt war. Die Bäume standen in größeren Abständen voneinander entfernt und ließen das Mondlicht hindurch. Hinter einer Anhöhe erhaschte Nora einen flüchtigen Blick auf den schwarzen Ozean. Aus irgendeinem Grund schien er sie anzuziehen. Und als der feste Boden durch losen Sand abgelöst wurde, konnte sie dem Bedürfnis, die feinen Körner zwischen ihren Zehen zu spüren, nicht widerstehen. Den Blick auf das Rot ihrer Fußnägel gerichtet, schritt sie auf das Meer zu. Zaghaft zuerst, dann immer zügiger. Und als das eiskalte Salzwasser ihre Knöchel umschloss, fühlte es sich fast schon so an, als würden mit der Berührung alle Sorgen, Zweifel und Ängste der vergangenen Stunden von ihr abfallen.

Nora schloss die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Wellengang. Doch plötzlich erregte ein vertraut klingendes Geräusch ihre Aufmerksamkeit. Es war das Lachen eines kleinen Mädchens, das mit seiner Mutter etliche Meter entfernt zu einer stillen Melodie zu tanzen schien. Die weißen Kleider, das herzliche Lachen und die Art wie sie sich wiegten, erinnerten Nora aus irgendeinem Grund an den Tanz von Waldgeistern. Für einen Moment dachte sie, es handele sich bei den beiden um ein Trugbild; eine Folge ihres Schlafmangels. Doch dann riss der spitze Schrei des Mädchens sie zurück in die Wirklichkeit. Anscheinend hatte sie den Halt verloren und war hingefallen. Scheitern, dachte Nora unwillkürlich. Doch weder der Mutter noch dem Kind selbst schien der Vorfall etwas auszumachen. Ganz im Gegenteil. Eifrig rappelte sich die zierliche Gestalt auf, klopfte den Sand von der Kleidung, ergriff die Hand der Mutter und tanzte weiter. Nora beobachtete sie eine ganze Weile aus sicherer Entfernung. Dann ertappte sie sich dabei, wie sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte, bis sie direkt vor den beiden stand. Für einen Augenblick flackerte Angst in den Augen der Mutter auf. Doch diese erlosch in der Sekunde, in der ihre Tochter die kleinen Händchen ausstreckte und Nora einlud, sich ihnen anzuschließen.

Die junge Frau zögerte. Nachts mit Fremden am Strand zu tanzen, kam ihr unwirklich vor. Was würden ihre Freunde denken, wenn sie sie jetzt sehen könnten? Nach einer stundenlangen Fahrt ins Ungewisse. Doch die Dunkelheit um sie herum, die ihr anfangs so bedrohlich vorgekommen war, strahlte nun Ruhe und Geborgenheit aus.

Niemand würde sie sehen.

Sie begann schüchtern die Bewegungen der Tanzenden nachzuahmen. Anfangs fiel es ihr schwer zu tanzen, ohne Musik zu hören, ohne einen Rhythmus zu spüren. Doch mit jeder Minute, die verstrich, fühlte sie sich sicherer. Die Schritte schienen die richtigen zu sein. Sie ergriff die Hand des Mädchens, drehte sich, ließ sich vollkommen in dem Gefühl fallen.

Niemand würde sie sehen.

Dieser Gedanke gab ihr den notwendigen Mut und die Sicherheit aus sich herauszugehen, eine Leidenschaft zu empfinden, so wie sie sie damals fürs Ballett empfunden hatte. Doch dieses Tanzen war anders. Es kam nicht auf die richtige Haltung, auf Perfektion beim Ausführen der einzelnen Figuren an. In dieser Nacht war der Sandstrand ihre Bühne. Als Scheinwerfer fungierte der volle Mond, dessen Licht nicht reiner hätte sein können. Statt in die Gesichter des Publikums zu blicken, das sich auf den Rängen zu einer Einheit vereinigte, sah sie das tiefe Blau des Ozeans vor sich, ein einziger stummer Zuschauer.

Die drei Gestalten bildeten einen Kreis, wirbelten herum, sodass Sand aufstob. Das Adrenalin in ihren Venen, die wohlige Wärme, die zurück in ihren Körper strömte, das Gefühl der Sandkörner unter ihren Füßen und das Mondlicht auf ihrer Haut ließen Nora lebendig fühlen. Sie warf den Kopf zurück und lachte laut und aufrichtig.

Niemand würde sie sehen, dachte sie erneut und schluckte.

Niemand würde sie sehen…


32

Africa

„Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln“ – Archimedes

Helena wachte von einen warmen Sonnenstrahl auf, welcher ihre Nase kitzelte. Müde streckte sie sich, ihre Knochen fühlten sich noch taub und unwirklich vom Schlaf an. Als ihre zarte Hand das Gesicht des Mannes neben ihr streifte, zuckte sie zurück. Ihre Augen öffneten sich zuckend, das erste was sie sah waren die Wellen aus Stoff, welche die Decke über Nacht geformt hatte. Weiß und rein lagen sie über Helenas Körper, streichelten ihre Haut wie samt. Als sie sich nach rechts drehte, sah sie die Nahaufnahme eines männlichen Gesichts. Er schlief noch, rau und unfreundlich wirkte das markante Kinn in den Laken. Helena streckte eine Hand aus, um ihn zu wecken, doch zog sie im letzten Moment zurück, als warme Atemluft ihre Hand streichelte. Langsam rollte sie nach links, die Decke fuhr samtig über ihren Bauch und Rücken. Sie stand nun nackt mitten in dem kleinen Schlafzimmer und versuchte die Kopfschmerzen aus ihrem Schädel zu bekommen. ‚Scheiße‘ fluchte sie innerlich. Schon wieder. Leise suchte sie den Boden des Raumes nach ihren Klamotten ab. Unterhose und BH lagen in der nähe des Bettes, ihr Anzug an der Tür. Ihr weiß-blauer Ganzkörperanzug wies sie in der Öffentlichkeit als Wissenschaftlerin im Dienste der Regierung aus. Er war konstant gekühlt oder beheizt, sodass ihre Temperatur immer angenehm bei 20 Grad lag. Gerade so, als würde man unter seiner Bettdecke liegen. Drüber hatte sie sonst nur einen Kittel oder einen Mantel, letzterer hing draußen vor der Tür. Ein letztes Mal sah sie zu dem Mann in den Laken. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an seinen Namen erinnern. Dann drückte sie auf den Knopf an der Tür und die Schiebetür fuhr zischend vor ihr auf.

Aus der Wohnung draußen begann sie sofort durch die Stadt zu eilen. Die Kleinstadt S230B sah aus wie eine Mixtur aus architektonischen Stilrichtungen. Alte Fachwerkhäuser säumten die Straßen ebenso wie moderne Wohnungen im Bauhaus-Stil. Die Menschen die ihr entgegen kamen, waren gerade auf dem Weg zur Arbeit, alle motiviert und strahlend vor Freude hier arbeiten zu dürfen. Etwas streifte ihre Beine, als sie auf dem Marktplatz kurz stoppte. Lächelnd bückte sie sich und kraulte dem Pfau den Kopf, welcher neben ihr stand. Er schmiegte sich in ihre Handfläche. Sein Gefieder war golden und auf seinem Rücken bildeten die Federn ein verschlungenes, rot/schwarzes Muster. Langsam zog Sie Ihre Hand wieder zurück. Der Vogel sah sie schief an.

Die Kirche der Siedlung war ein hohes Steinhaus, welches wahrscheinlich das älteste Gebäude hier war. Viele der alten Kirchen an anderen Städten wurden im großen Krieg zerstört, diese hier war eine der ältesten in Deutschland, Verzeihung, Sektor Gold. Hoch erstreckten sich die Buntglasfenster, Äste zweier Eichen umrahmten das Portal. Langsam öffnete sichdie Tür vor Helena, auch hier machten kleine Motoren die Arbeit für sie, und ein Luftzug, der kalt und modrig roch drang an ihre Nase. Und genau diesen Duft liebte die junge Frau so sehr. Hier roch es ehrlich, und nicht so künstlich wie sonst überall. Der Pfarrer stand am Altar und wischte ihn sorgfältig ab. An der Wand hing ein Rad, an welches der Erlöser geknüpft war. „Patre.“ „Ahh Helena, mein Kind. Komm doch her.“ sie rannte durch das Mittelschiff zudem älteren Mann. Dort umarmte sie ihn. „Ich muss mit dir reden, Patre.“„Okay, gehen wir nach hinten. Ich glaube, die Dinge die du mir erzählen möchtest, sind nicht für fremde Ohren bestimmt.“ Helena folgte dem Mann nach hinten in einen Nebenraum. „Also, Patre, ich bin heute morgen wieder im Bett eines anderen aufgewacht. Ich glaube ich hab wieder zu viel getrunken.“ er sah sie an, dann setzte er sich an den alten Eichentisch im Raum. „Ich glaube ja, dass du immer noch Schwierigkeiten hast mit Ricos…“ „bitte nicht.“ der Priester nahm ihre Hände und strich darüber. „Helena. Du musst loslassen können.“ „kann ich doch.“ heulte sie. Tränen standen in ihren Augen. „Ich Versuch doch, normal zu werden. Gerade bei meinem Job.“ „du hast Bindungsschwierigkeiten, und du musst aufpassen, dass sich das nicht zu einer ausgewachsenen Oikophobie entwickelt. Und deshalb möchte ich dir noch einmal vorschlagen, einen Psychologen aufzusuchen.“ „ich brauch keinen Arzt. Deshalb spreche ich doch mit dir, Patre.“ er nickte langsam. „Ich kann dir nur sagen, dass du auf dich und Lukas aufpassen solltest.“ „Ja. Stimmt. Ich muss zurück zu Lukas.“ „Helena, beruhig dich. Es ist um 10. er ist schon lange in der Schule.“ „da wollte ich auch noch mit ihnen drüber reden: ich denke, dass Lukas in der Schule schlimme Dinge lernt. Ich glaube nicht, dass das das richtige ist für ihn. Gestern hab ich sein Biologiebuch mir angesehen, und darin waren Abbildungen von Zellstrukturen und Begründungen warum erhöhtes Melanin in den Zellen die Hirnaktivität vermindert.“ „Du weißt, dass ich Theologie studiert habe…“ „Neger sind dumm, stand da drin! Nichts anderes als das!“ der Pfarrer sah sie an, dann senkte er seinen Blick als wäre er schuld. „Helena, die Regierung will, dass unsere Kinder das lernen. Seit die Mauer steht, ist das die Propaganda. Du kannst nur hoffen, dass dein Sohn diesen Märchen nicht glaubt und seiner Mutter zuhört.“ „er wird sogar in der Schule ausgelacht weil seine Mutter eine ‚Negerforscherin‘ ist. Lächerlich!“ er strich noch einmal über ihre Handrücken. „Helena. Ich kenne Lukas, und er weiß was du machst.“ sie sah aus dem Fenster hinter dem Pfarrer. Draußen war der kleine Garten der Kirche, Heilkräuter und Bäume reihten sich Seite an Seite. Ganz normale Pflanzen, nicht so wie im Rest der Stadt. Um die Kirche war ein gewaltiges Giftnetz errichtet, welches Pollen vernichtete, welche versuchten sich zu verbreiten. Man hatte heutzutage Angst vor natürlichen Pflanzen. „Warum haben alle ihre Geschichte vergessen, Patre? Wir benehmen uns wie Nazis.“ „Hess hat geschrieben, dass wir nicht schuld an der Vergangenheit sind.“ „Hess hat auch geschrieben, dass die Vergangenheit der Prototyp der Zukunft ist!“ „Helena. Die Menschen glauben immer das was am bequemsten ist. Und wenn sie nur eine Stelle in den Büchern von Hess und Herrmann finden, die sich für sie auslegen lässt, werden sie es machen.“ Helena nickte nur stumm. Dann sagte sie leise: „Ich muss los. Arbeit.“ der Pfarrer sah ihr noch kurz hinterher, dann wischte er weiter gedankenverloren über den Altar. Über seiner Brust schlug er ein Kreuz, aus Zeiten in denen Jesus noch gekreuzigt, und nicht gerädert worden war und dachte nach.

„Die Welt urteilt nurnach dem Scheine“ -Johann Wolfgang von Goethe

Die Bäume und Sträucher am Wegesrand verwischten zu einer grün/goldenen Schliere vor den Fenstern der Gleitbahn. Nachdenklich sah Lukas auf den Zettel in seinen kleinen Händen. Das Papier war golden, bedruckt mit schweren schwarzen Lettern. Dann sah er wieder aus dem Fenster. Er. Kein anderer. Nur Lukas. Früher war er hier immer bedrängt gewesen, umgeben von Klassenkameraden, welche sich ihren Spaß mit ihm machten. Heute war er allein. Drei Bankreihen vor und hinter ihm saß keiner. Das Problem war, dass die netten Männer heute, ihm eine Jacke geschenkt hatten, auf der genau über dem Herzen ein roter Pfeil mit goldenen Strahlen, welche aus der Spitze kamen, aufgedrucktwar. Das Symbol der Regierung. Männer aus Berlin. Rot wegen Herrmann, welcher in seinen Entwürfen Hauptstädte rot markierte. Gold weil sie die besten waren. Und der Pfeil, weil Fortschritt alles ist, sagt Hess. Jeder hielt Abstand von der Regierung. Das hatte Lukas schon früh gelernt, und spätestens heute merkte er die Auswirkungen. Die Bahn war geräumig, die Bänke waren gut und sauber. Und trotzdem drehte sich eine junge Frau um, als sie Lukas sah und setzte sich weiter vorn hin. Der Zettel in seiner Hand. Er war der einzige aus der Klasse, der einen bekommen hatte. Warum, wusste Lukas auch nicht.

„Die Regierung in Berlin.“

so begann der Brief. Lukas hatte vor drei Wochen mit seiner ganzen Klasse einen Test machen müssen.

„Läd dich recht herzlich ein,“

Niemanden läd die Regierung ein, hatte sein Vater immer gesagt. Er fehlte Lukas.

„An unserem Programm für besondere Kinder teilzunehmen.“

Er wurde abgeholt, ganz früh. Mama war schon weg gewesen. Die Männer hatten gesagt, dass er mitkommen müsste.

„Bitte finde dich am Dienstag, den 06.07.41 nach H&H in Berlin an der Fenn-Universität für Biomechanik und Nanotechnologie ein.“

Er hatte seiner Mutter nichts sagen dürfen. Seine Lehrerin hatte immer gesagt, wenn ein Mann aus Berlin dir etwas sagt, musst du das tun. Weil die Männer aus Berlin wissen was sie tun.

„Du benötigst keine Schulsachen mehr. Es ist wichtig, dass du deinen Eltern nichts hiervon erzählst. Sie werden es verstehen wenn du bei uns bist. Mit freundlichen Grüßen, Doktor Melina Eschfeld, Fakultät für Nanophysik.“

Keine Widerrede duldeten sie. Nichts durfte seine Mutter davon wissen. Wie damals bei Papa.

Helena sah in den Scanner an ihrer Haustür, diese schwang leise vor ihr auf. Sofort stürzte Lukas ihr entgegen und umarmte sie. Sie sah auf ihren 14-jährigen Sohn hinunter und küsste ihn auf den braunen Haarschopf. „Wie wars in der Schule?“ „ich muss nicht mehr in die Schule. Ich wurde eingeladen nach Berlin.“ dann zog er einen goldenen Brief hinter seinem Rücken hervor. Schweigend las Helena den Brief. Dann sah sie ihren Sohn an. „Du hättest mir das nicht sagen dürfen. Warum hast du das getan?“ „Wir sind ein Team Mama.“ sagte er und ging in sein Zimmer. Helena stand mit Tränen in den Augen im Flur. Dann hängte sie ihren Kittel an die Garderobe, welche ihn zischend hineinzog und in den Kleiderschrank sortierte.

Als sie später am Abend in der Küche stand und Abendbrot machte, stand Lukas auf einmal wieder hinter ihr. Leicht nachdenklich streifte er durch die Küche. Rot war sie gestrichen, wie die Erde in dem fernen Land, von der Mama immer erzählte. Eine schwarz-weiße Maske hing dort, eigentlich unscheinbar, aber von einem gewissen Mysterium erfüllt. Helena beobachtete ihn schmunzelnd. „Na, was machst du da?“ er drehte sich herum. „Mama? Wärst du mir böse wenn ich dich angelogen hätte?“ Helenas Holzlöffel versank in dem Topf Curry und rührte, während sie zwei kleine Lorbeerblätter hineinlegte. „Kommt drauf an, ge?“ lachte sie. „Was hast du mir denn verschwiegen?“ „Sie haben gesagt ich soll dir nichts erzählen.“ jetzt stockte sie. „Was ist los, Schatz?“ sagte sie und drehte sich zu ihrem Sohn um. „Papa. Er wurde von den Leuten abgeholt. Von Leuten aus Berlin. Denen, deren Befehle man befolgen muss.“ Helena sank zu Boden. Ihr Rücken streifte am Herd. Hinter ihr kochte das Curry über, das Kochfeld fing an zu piepsen und regulierte die Temperatur. Lukas setzte sich neben sie. „Bist du mir böse?“ „nein. Ich bin froh dass du mir das jetzt gesagt hast.“ sie nahm ihn in den Arm. „Dann lebt er vielleicht noch.“ „Vielleicht. Darf ich trotzdem nach Berlin?“ „Ja, mach das. Pass auf dich und deine Gedanken auf. Die Gedanken sind frei, Merk dir das.“ er sah sie an. „Weiß ich doch.“

Über Helenas Bett hing, seit sie denken konnte, eine Landkarte der Erde. Eine echte. Ein schwarzer, dicker Streifen markierte die Mauer, welche zwischen Europa und dem Rest der Welt lag. Schon längst war Anarchie überall ausgebrochen, was außerhalb der Mauer lag. Erst hatte Amerika im großen Krieg Russland in eine radioaktiv verseuchte Wüste verwandelt, dann war in Amerika der größte Bürgerkrieg ausgebrochen, den die Welt je gesehen hat. Dieser dauerte bis heute an. Asien war schon lange vor dem großen Krieg nicht mehr bewohnbar gewesen, Umweltverschmutzung. Das Ozonloch über Australien hatte sich in Richtung Asien ausgebreitet, dort konnten nur noch Kakerlaken leben. Diesen Blick auf die Erde kannte sie auswendig. Es war ihr Job. Jeden Tag war sie auf Mission, Zivilisationen zu beurteilen und deren Aufnahme in die ‚Gesellschaft‘ anzuordnen. Zumindest offiziell. Eigentlich hatte sie nichts zu sagen. Vor zwei Tagen hatte sie ein Schreiben nach Berlin gesendet, um die Aufnahme von Ägypten und Saudi-Arabien zu beantragen. Ihrer Meinung nach waren diese Staaten gut genug entwickelt. Abgelehnt. Beweislage ungenügend, plus eine Angliederung wäre aus finanziellen Gründen nicht möglich. Doch Helena hatte ihre eigenen Theorien: der Regierung ging es darum, an Arabien ein Exempel zu statuieren. In Aufnahmeverhandlungen hatten die Abgesandten sich geweigert, den Frauen im Raum die Hand zu geben. Helena hatte sich, aus Gründen der Verständigung ein Kopftuch aufgezogen, doch leider eskalierte die Situation. Die drei Abgesandten wurden auf dem Marktplatz in Riad von GOLD-Truppen terminiert. Helena hatte zugesehen, wie die drei ‚Global Offensive and Liberation Department‘- Soldaten mit Magnetgewehren den Männern Arme, Beine und Brust durchlöcherten um sie schließlich ausbluten zu lassen. Fünf Jahre waren diese Verhandlungen her. Und fünf Jahre später konnte man immer noch keine Rücksicht nehmen. Saudi-Arabien sollte komplett dem Islam abschwören, dann würden sie aufgenommen. GOLD hatte schon viele solche Aktionen gebracht: ein mal hatten sie ein ganzes Dorf abgebrannt und einen Wald mit chemischen Mitteln zu einer Wüste gemacht, nur um zu zeigen, dass es keinen Gott gab, und die Europäer alle Rechte auf der Welt hatten. Manchmal schämte Helena sich auch für ihre Arbeit und ihren Arbeitsplatz. Sie seufzte und drückte auf einen Knopf in der Wand, die Karte fuhr zur Seite und ein Fenster kam zum Vorschein. Der Vollmond sah sie leuchtend an. Mit diesem Blick in Gedanken schlief sie ein.

„Die großen Begebenheiten der Welt werden nicht gemacht, sondern sie finden sich“ – Georg Christoph Lichtenberg

Lukas‘ Herz schlug höher, als er die hohen Türme und weiten Hallen der gläsernen Stadt Berlin sah. Die Regierung hatte 40 nach H&H entschieden, dass Berlin als Hauptstadt keinen Wohnraum für Einwohner mehr bieten sollte. Die halbe Stadt wurde abgerissen, heute befanden sich nur noch Museen, Universitäten, Gerichtshöfe, und ein wenig Wohnraum für die Menschen die hier arbeiteten hier. Er sah sich im Zug um, doch die Menschen die er sah gefielen ihm nicht. Wer in Berlin etwas zu tun hatte, wollte nichts mit gewöhnlichen Menschen zu tun haben. Edle Anzüge und rot/goldene Farben waren wichtig.

Auf dem Concilium hielt die Bahn an. Leise zischend fuhren die Türen auf vor Lukas. Seine Tasche drückte ihn leicht an der Schulter. Vor dem Jungen ragte eine gewaltige Statue auf. Der ehemalige Marktplatz wurde, aus unbekannten Gründen, in Concilium umbenannt. Latein für Versammlung. Viel mit einer Versammlung hatte das Treiben hier nicht zu tun. Einige junge Studenten saßen herum und tratschten, aber keiner sah wirklich freundlich aus. Viele liefen allein umher oder machten Hausaufgaben, überall schwere Bücher. Am Rande des Platzes ragten die Häuser in die Höhe, alles Universität neben Bibliothek neben Universität und so weiter. Und was Lukas sofort aufgefallen war: die Statue. Zwei Männer, rücken an rücken standen auf dem Sockel. Der eine trug einen Laborkittel, welchen der Künstler wehend und heroisch um den Körper wehen ließ, so weit es Marmor halt möglich war zu wehen. Er trug eine Brille und hielt nachdenklich einen Kolben in der Hand. Aus diesem rann Wasser, welches der Künstler gekonnt eingebaut hatte. Das Wasser plätscherte in den Brunnen unter dem Sockel. Auf der anderen Seite stand ein weiterer Mann, er trug einen schlichten Frack und hielt ein Buch in der Hand. Mit dem Finger der anderen Hand zeigte er irgendwo in die Ferne, als würde er eine goldene Zukunft sehen. Aus den Seiten des Buches rann Wasser breit gefächert und mischte sich mit dem aus dem Kolben des anderen. Dies waren natürlich Heß und Herrmann, die Philosophen, denen dieses Land zu verdanken war. Man konnte sagen was man wollte, aber die beiden waren intelligent. Im starren hatte Lukas überhaupt nicht die junge Frau neben ihm bemerkt. „Beeindruckend, nicht wahr?“ Lukas zuckte zusammen und sah die Frau an. Sie war nicht sonderlich groß, höchstens ein Kopf größer als Lukas. Sie hatte kurz geschnittene, schwarz-violette Haare, welche verwuschelt auf ihrem Kopf lagen. Sie hatte ein hübsches Lächeln, welches direkt Sympathie weckte. „Naja, ihr Werk ist beeindruckend. Sind Sie Frau Schmitt?“ Sie zeigte lachend auf ihr Namensschild, auf welchem „Doktor Nanochem. Eva Schmitt“ stand. Lukas grinste auch. „Du bist allerdings viel zu früh, Lukas.“ als Beweis holte sie auf ihrem Tablet ein Bild von Lukas nach oben und zeigte ihm den Termin, welcher in einer guten Stunde wäre. „Da hast du schon Glück gehabt, dass ich jetzt schon hier war.“ „meine Mutter hat gesagt, ich sollte früher schon losfahren. Falls unterwegs etwas passiert.“ „schlaue Mama hast du. Wie heißt sie?“ „Helena. Oder Dr. Simony.“ „oh.“ sagte Eva nur leise. Nach einer Zeit des Schweigens, sagte Lukas: „ich weiß, dass sie vermutlich wissen, was mit meinem Papa passiert ist. Und sie sind nicht schuld daran, also machen sie sich keine Sorgen. Ich mag sie trotzdem, Doktor Schmitt.“ sie sah ihn kurz an, und dann weg. „Komm, wir gehen.“

„Labor von Doktor Vermont. Bitte nennen Sie PID.“ „Doktor Julian Vermont.“ „erkannt. Wie geht es Ihnen, Doktor?“ die Tür des Labors Schlitterte auf, innen gingen die weißen Lampen an. Dr. Vermont,ein hagerer, junger Mann mit rabenschwarzen Haaren, in einem weißen Laborkittelbetrat den Raum. „Gut geht es mir, Cubin. Wie denn sonst?“ „heutige Termine: treffen mit den ausgesuchten Kindern.“ „weiß ich doch! Deshalb freue ich mich.“ pfeifend schaltete er einige Maschinen an, als hinter ihm eine junge Frau den Raum betrat. „Julian…?“ sagte sie zögerlich. „Ja?“ sagte er leicht genervt. „Eva ist da, sie hat den ersten dabei. „Jetzt schon?“ „Ja, aber ich hab noch mal mit Professor Goldstein geredet, und er sagt…“ „Ja, ja, Goldstein ist dagegen. Aber der erste ist da, und das lass ich mir nicht entgehen, Melina.“ er drehte sich herum, und sah der jungen Dame ins Gesicht. Sie war etwa so groß wie er, hatte grau melierte lange Haare und sah wie immer schüchtern aus. Doktor Melina Eschfeld war niemand, der irgendetwas einfach machen musste. Eva war da ganz anders. Deshalb liebte er sie, anstatt Eschfeld. Doch die Arme sah das nicht wirklich ein. Egal. Heute war viel zu wichtig, als dass Doktor Vermont sich das entgehen lassen würde. Als Eva den Raum betrat, begrüßte er sie mit einem Kuss auf die Wange, und bückte sich sofort zu dem Jungen neben ihr. Er hatte schwarze Haare, welche verstrubbelt vor seinem Gesicht hingen. „Und du bist…?“ „Lukas Simony, Doktor.“ Julian schwang sich nach oben. „Gut! Dann bist du eben Patient Zero. Okay?“ „äh.. klar.“ antwortete er schüchtern. „Aber warum bin ich eigentlich genau hier?“ der Biologe wirbelte schon durch die Gegend, doch Melina sank neben ihn und sagte: „wir wollen einige nanophysische Experimente mit dir durchführen, da du anscheinend eine biologische Voraussetzung für das erkennen von Null-Strahlung besitzt.“ „warte was?“ sagte Lukas. „Die Tests, die wir an den Schulen gemacht haben, haben seltsame Ergebnisse hervorgebracht.“ schaltete sich nun auch Eva ein. „Anscheinend sind einige Kinder deiner Altersgruppe in der Lage, Null-Wellen zu erkennen. Das ist ein spannendes Thema, da wir nicht wissen was das begründet.“ Lukas erinnerte sich an das summen in seinem Kopf, als sie die Maschinen eingeschaltet hatten. „Okay… und das heißt?“ Eschfeld schritt sofort ein. „Wahrscheinlich nur ein Messfehler und irrelevant. Aber wir wollen das trotzdem analysieren.“ durch den ganzen Raum hörte man das angestrengte aufstöhnen von Julian. Dieser hantierte gerade an einem Strahler in einer Kammer herum. „Lukas! Hilf mir bitte mal!“ der Junge ging verunsichert zu dem Wissenschaftler. „Ähm, wie soll ich ihnen helfen?“„guck Ma ob der Strahler an ist!“ Lukas ging um den Apparat herum und sah in das Ende. Auf einmal hörte er das summen wieder, und zwar extrem laut. „Jep.“ das summen hörte auf. „Wie machst du das?“ „kein Plan… ich höre dann so ein summen.“ Julian lache. „na dann, legen wir los!“

„Das Durchschnittliche gibt der Welt ihren Bestand, das Außergewöhnliche ihren Wert“ -Oscar Wilde

Die Glaskammer um Lukas schloss sich. Unsicher sah er sich um, doch außer einigen Strahlern und Sensoren war es halt ein ganz „normaler“ Würfel aus Glas. Draußen setzten sich die drei Doktoren ihre Schutzbrillen auf. Eva wählte einen Strahler weit unten im Raum an, und drehte die Intensität der Null-Wellen nach oben. „Von links unten, nicht ganz so stark.“ analysierte Lukas. Die drei sahen sich an. „Ich schalte Sensoren zu. Mal sehen, ob die Strahlung abgefangen wird.“ verkündete Julian. Die nächste Sekunde stutzte er. „Es kommen keine Strahlen an diesem Sensor an. Moment…“ der gesamte Raum füllte sich mit rötlichen Laserstrahlen und einem dünnen Nebel. Über den Lautsprecher sagte er zu Lukas: „keine Angst, bleib so sitzen. Der Nebel und die Laser sind nur eine Messmethode, du kannst normal weiter atmen.“ die Strahlen wurden nach einer kurzen Einstellzeit perfekt in Bögen um Lukas gelenkt. Julian schaltete die Null-Strahler ab und die Laser trafen ganz normal auf Lukas‘ Körper. „Wie ist das möglich?“ „es scheint eine Art Kissen um seinen Körper zu bilden.“ sagte Eva erstaunt. „Das ist unmöglich. Wenn der Vektor…“ weiter hörte Julian Melina nicht zu, da sie irgendetwas rechnete. Von Mathe wurde dem Biologen immer schlecht. „Gut. Wir testen weiter.“ sagte Julian, und an Lukas gewandt sagte er: „Lukas, du konzentrierst dich bitte. Anscheinend bildet dein Körper eine Art Polster um dich herum, welches Strahlen ablenkt. Streck deine Hand mal in Richtung eines Lasers aus. Julian schaltete besagten Laser als einziges an. Es wurde still im Raum, denn das Bild, welches sich den Forschern zeigte, war unmöglich. Der Laserstrahl stoppte einfach kurz vor Lukas Hand und wurde zurückgeworfen. „Lukas, beweg deine Hand.“ sagte Eva von draußen. Er drehte die Hand ein Stück, der Strahl folgte. „Unmöglich!“ sagte Melina wieder ihr Lieblingswort. Der Junge lachte. „Wie macht er das?!“ Eva lief ganz aus dem Häuschen vor der Kammer herum. „Die Möglichkeiten sie sich bieten…“ zischend fuhr die Kammer auf. „Lukas, du darfst rauskommen. Wir werden den Test wiederholen, aber diese Ergebnisse lassen sich absolut nicht erklären. Machen wir morgen in aller Frühe damit weiter.“ damit gab er Lukas eine Karte. „Die weist dich als Angehörigen von mir aus. Du musst niemandem mehr als das erklären.“ „Gut.“ „mit der Karte kommst du hier rein und raus und in die meisten Räume wie Bibliothek oder Cafeteria.“ Lukas nickte. „Also soll ich hier bleiben?“ Eva und Julian sahen sich an. „Ich glaube, das wäre besser Lukas,“ sagte Eva vorsichtig, „es…“ „ne, ich versteh das. Also, wo soll ich schlafen?“ sichtlich erleichtert sagte Eva: „ok, du gehst zum Studentenwohnheim und sagst, dass du zum Forscherteam von Doktor Vahlen gehörst.“

Helena brauchte lange, um auf der Fahrt zur Arbeit den Schock zu verkraften. Die Schwebebahn glitt weiter in stiller Gleichgültigkeit vor sich hin. Rico war nicht abgehauen. Doktor Enrico Simony, ihr Ehemann. Der Psychiater hatte gesagt, es würde helfen ihn in Gedanken nicht mehr Ehemann zu nennen. Sie war nur ein mal bei dem Seelenklempner gewesen. Draußen flogen mit annähernder Schallgeschwindigkeit Wälder und Haine vorbei. Jeder Baum komplett gerade und im rechten Winkel zur Erde. Für den Psychologen war es wissenschaftlich unlogisch, dass Helena wusste, dass Rico noch lebte. Keine Ahnung was man dafür verantwortlich machen konnte, doch Helena wusste, dass ihr Mann noch lebte und sie immer noch liebte. Diese wirren Gedanken kreisten noch in ihrem Kopf, als sie an dem gewaltigen Forschungszentrum anhielt. Der Zug, in welchem sie hier hergekommen war, fuhr ruckartig weiter, nachdem sie ausgestiegen war. Hier stand Helena nun auf einer metallenen Plattform, unter welcher es rund zwei Kilometer in die Tiefe ging. Unglaublich viele Gebäude und Stationen stapelten sich wie in einem Ameisenhaufen übereinander. Und dahinter lag das, was Helenas Arbeitsmittelpunkt darstellte: die Mauer. Vier Kilometer hoch, davon zwei unter der Erde, massiver Stahl und Verteidigungsanlagen. Einzelne GOLD-Offiziere patrouillierten in der Höhe, mit Ferngläsern und Tablets. Gedämpft waren Schüsse zu hören, allerdings nur Warnschüsse. Wahrscheinlich waren irgendwelche Tiere zu nah an die Mauer gekommen. Oder irgendwelche Neger. Für die da oben machte es keinen Unterschied, ob sie auf Mensch oder Tier schossen. Die Konstruktion der Mauer war eines der abenteuerlichsten Dinge, die jemals auf der Welt geschehen sind. Zur Zeit der Klimaerwärmung, bevor Forscher die CO2-Absorption erfunden hatten, hatte man den Zufluss des Mittelmeers zum Atlantik geschlossen. Ein Staudamm in der Straße von Gibraltar. Das Teil produzierte genug Strom für ganz Spanien und Frankreich zusammen. Dadurch war das Mittelmeer ganz einfach verdunstet. Man musste nur ein paar Jahre warten, und schon hatte man eine Wüste. Und dann hatten sie mit dem Bau der Mauer begonnen. Das ging erstaunlich schnell. Die vier Kilometer stahl, welche Europa von Russland, Afrika und dem Atlantik trennten, waren ein Gemeinschaftsprojekt gewesen. Jeder Bürger Europas hatte entweder mitarbeiten oder einen Geldbetrag spenden müssen. Dadurch war die Mauer binnen zwei Jahren fertig gewesen, in der Zwischenzeit hatte man noch vereinzelte Verbesserungen vorgenommen, aber alles in allem stand das Ding jetzt da. Helena gab ihren roten Mantel an der Garderobe ab und schnappte sich aus dem Schrank ihren Kittel. Obwohl sie Sozialwissenschaftlerin war, wies der Kittel mit dem Schwarzen Löwen über dem Herzen sie als Wissenschaftlerin des  Sektors ‚Africa‘ aus. Man hatte ihr Respekt entgegenzubringen, da, wie Hess sagte, die Forschung der Motor jeder Zivilisation und der Fortschritt und Verbesserung der Sinn des Lebens ist. Die langen Gänge des Forschungszentrums fand Helena schon immer zu karg, überlegte sie, als sie auf dem Laufband durch selbige kastenförmige Gänge fuhr.

Die Schiebetür ihres Büros erkannte sie schon auf dem Weg und fuhr so leise auf, als sie davor stand. „Hallo Doktor Simony. Es liegen 20 Nachrichten für sie vor.“ „alles klar Marx.“ die männliche KI hatte Helena nach einem ihrer Vorbilder benannt: Karl Marx. Viel durfte man nicht von ihm lesen, ‚das Kapital‘ war wie viele andere kommunistische Machwerke verboten. Aber das regte keinen auf. Der gemeine Bürger wurde durch Fernsehen und Medien dumm gehalten, es galt als Intelligenzmerkmal, wenn man Bücher las. Das wurde den Akademikern auch beigebracht: lesen würde sie auf eine andere Ebene des Verständnisses für die Gesellschaft heben. Und diese Ebene war gewaltig: „schöne neue Welt“ von Aldous Huxley, „1984″ von George Orwell oder die Bücher von Hess und Herrmann. Man sah die Linien, welche die beiden Gründer gezogen hatten. Der Arbeitsteil der Bevölkerung wurde, wie Herrmann es sagte, „mit Brot, Spielen und Spiritualität“ zufriedengestellt, ihre Aufgabe war nur täglich zu funktionieren. Währenddessen war es die Aufgabe der Intellektuellen, die Welt zu verändern. Bildung dauerte ein Leben lang. Dieses System kotzte sie Tag für Tag an. Vor allem weil es funktionierte. Brot, Spiele und Religion reichten aus, um die Bevölkerung ruhig zu halten. Wie Zombies rannten sie täglich an die Arbeit und zurück, fuhren am Wochenende ins Kino oder in den Freizeitpark, und lebten ihr Leben vor sich hin. Deshalb liebte Helena ihre Arbeit: sie bewahrte einen klaren Verstand in dieser vernebelten Welt. Sie sah täglich das echte Leben eines Menschen, nicht wie Hess und Herrmann es wollten, sondern wie die Natur es geschaffen hatte. Sektor Africa war der Hoffnungssektor. Das sah sie wieder, als sie ihren Rechner startete und das Hintergrundbild sah. Sie und Enrico auf dem Burj Khalifa in Dubai. Helena und ihr Mann waren die Verhandlungsführer, was die Annexion von Großarabien in den Euro-Bund anging. Enrico hatte ihr mit einer Geduld Arabisch beigebracht, wie sie nur ein Partner haben konnte. Nun, wie das gelaufen war, war weniger als optimal gewesen. Eine tote Delegation von Arabern auf dem Marktplatz von Riad. Sie vermisste ihn. Helena seufzte auf und öffnete ihr Postfach.

„Alles was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles was wahr ist, solltest du auch sagen.“ – Voltaire

Lukas stiefelte entlang der Glaskuppel auf der Fenn-Universität. In seiner Hand ein Buch über Null-Wellen. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass dieses Thema ein großes sein würde in Zukunft. Null-Wellen waren Strömungen innerhalb der Quantenebene, welche sich durch die Partikel ausbreiteten, die den Zwischenraum zwischen und in Atomen füllten. Diese „Grains“ genannten Teilchen waren ungeladen und von Natur aus träge, doch über einen komplizierten technischen Prozess ließen sie sich zu Wellenbewegungen anregen. Diese Wellen konnten, was schon bewiesen war, Moleküle auseinander treiben. Was alles möglich war, war noch nicht zu überblicken, da die technisch erzeugten Wellen unglaublich schwach waren. Doch schon jetzt existierten Theorien, dass diese Wellen in der Lage waren, Kräfte aufzuheben, magnetische oder elektrische Felder zu erzeugen und ähnliches. Das, was vorher nur als bloßer „Zustand des Raumes“ deklariert wurde, hatte nun einen Grund bekommen. Vorsichtig streckte Lukas die Hand aus. Er erinnerte sich an das Summen in seinem Kopf, und plötzlich kehrte es zurück. Er fühlte Vibrationen in seiner Hand. Das Buch in seiner Hand fühlte sich auf einmal leichter an… er zuckte zusammen, als jemand ihn an der Schulter berührte. Eine alte Frau mit dicken Brillengläsern sah ihn an. „Junger Mann? Was tun Sie hier?“ Lukas sah sie verwirrt an. „Ich darf hier sein.“ damit holte er seine Karte hervor. Die Frau schaute trotzdem kritisch. „Solche Leute wie dich mögen wir hier nicht mehr. Lass dir das gesagt sein.“ er sah der Dame verwirrt hinterher. So etwas hatte Lukas noch nie gehört. Völlig überrumpelt hatte er tatsächlich vergessen, was er eigentlich tat. Das Buch noch unter dem Arm verließ er die Glaskuppel und wanderte in Richtung Wohnräume.

Dort angekommen schloss er die kleine Wohnung auf, welche er ab heute bewohnte. Sie war komplett möbiliert, die weißen Wände schmückten ein zugegeben großer Ausschnitt der Nuklidkarte und ein Periodensystem. Die Kulturdimensionen nach Hofstede hingen über dem Sofa in der Wohnstube. So stellte sich die Leitung eine optimale Studentenbude vor. Eine relativ gut ausgestattete Küche, ein großer Fernseher mit Spielekonsole und mehrere Rechner im Arbeitszimmer. Die Schlafzimmer waren ursprünglich für fünf Leute, von denen jeder sein eigenes kleines Zimmer hatte. In jedes dieser Zimmer war nun ein zusätzliches Bett gestellt, da 10 Schüler insgesamt ausgewählt wurden. Lukas entschied sich, für die anderen etwas zu kochen. Ihm war eh langweilig, und seine Mutter hatte ihm ein paar Gerichte beigebracht. Auf dem Weg zur Küche warf er einen Blick auf die Konsole, doch diese sprach ihn nicht an. Mama hatte immer gesagt, dass Dinge wie dieses, die Intelligenz des Individuums in der Gesellschaft klein halten würden. So sah er sich die Küche an, der er vorher nur einen kurzen Blick gewürdigt hatte. Das Kochfeld hatte einen standardmäßigen Zonen-Plasma Herd. Dieser erzeugte im inneren durch Ionisierung ein Plasma, welches anschließend durch Magnetfelder gelenkt wurde und den Topf an verschiedenen, einstellbaren Stellen mit verschiedenen Temperaturen erhitzen konnte. Einer der Schränke besaß eine Kontrolloberfläche, quasi ein großes Touchpad. Mit einem Tipp darauf wurde Lukas eine Schalttafel angezeigt, welche die Funktionen der Küche lenkte. Nach einer kurzen Suche fand er auch das Rezept für ein Afrikanisches Hähnchen und machte sich an die Arbeit.

Julian Vahlen war fix und fertig, als er am Abend das Labor abschloss. Die Tests waren anstrengend gewesen, und sein Rücken schmerzte. Und doch war der Biologe sehr zufrieden, was er heute geschafft hatte. Er wollte schon nach Hause, da hörte er ein ikonisches Geräusch. Das Schleifen von Rädern auf dem sterilen weißen Boden. „Doktor Goldstein. Schön sie zu sehen!“ sagte Lukas, ehrlich erfreut. Der alte Mann in seinem Rollstuhl war etwas rundlich mit den Jahren, hatte einen weißen Rauschebart und eine Brille mit gefühlt fünftausend Dioptrien. Und doch war er Julians Vorbild. Dieser Mann hatte so viel erreicht, dass es den Jungen Doktor jedes Mal mit stolz erfüllte, in seine Vorlesungen zu dürfen. „Julian. Wie liefen die Experimente?“ „gut, ausgezeichnet sogar. Anscheinend sind alle diese Kinder in der Lage, eine Art Polster um ihren Körper aufzubauen…“ „Ja, ja Julian. Ich muss dir etwas erzählen.“ „okay Professor… was denn?“ er war etwas überrumpelt von der ernsten Art des alten Mannes. Normalerweise sagte er wenig, und wenn dann intelligent und überlegt. „Nicht hier auf dem Gang. Komm.“ damit öffnete er eines der Labore und rollte hinein. Julian folgte. „Ich will dich warnen. Du weißt, dass du und Eva mir viel bedeuten. Und ihr seid im Begriff eure Karriere zu ruinieren. Was ihr hier entdeckt habt, wurde schon entdeckt.“ „aber es wird nirgendwo erwähnt! Wie kann das sein?“ „frag dich, warum es nicht erwähnt wird. Tatsächlich leitete ich das Experiment damals. Wir testeten den Einfluss von Null-Wellen auf Organismen. Doch irgendetwas war seltsam. Mein Assistent baute an dem Generator in der Testkammer herum, das ging bei den alten Dingern noch, und die erzeugte Spannung war viel zu hoch. Beim Auftreffen auf den Körper des Probanden bildeten sich Blasen auf seiner Haut, es war extrem unschön anzusehen. Bis dahin konnten wir das Experiment noch gut durchsprechen. Da der Raum um die Moleküle der Luft sich bewegte, wurden diese erhitzt und bildeten eine hohe Temperatur. Doch danach verhielten sich die Strahlen anders. Als wir den selben Probanden zwei Tage später testeten, stellen wir zu unserem Erstaunen fest, dass die Testpersonen die Wellen um sich in der selben Weise krümmten.“ „Faszinierend.“ „sicherlich. Wir entdeckten andere Dinge, ungeheuerliche. Die Personen waren in der Lage, Kräfte auf Objekte auszuüben oder sogar Kraftfelder zu erzeugen.“ „und? Das ist phantastisch!“ Julian war so angespannt wie schon lange nicht mehr. Der alte Professor holte ein Tablet aus der Tasche an seinem Rollstuhl hervor. Darauf öffnete er ein Video, welches „Testergebnisse Null-Projekt“ hieß. Eine jüngere Version von Goldstein sah in die Kamera und erklärte das Verfahren. Im Hintergrund saß ein junger Mann mit schwarzen Haaren, welcher sich unsicher umsah. „Mister S, können Sie bitte vorführen was sie mir gerade gezeigt hatten?“ er sah zögerlich in die Kamera, dann hob er eine Hand. Auf dem Tisch lag ein Block und ein Stift. Diese bewegten sich synchron zum Arm in die Luft. Dort schwebten sie völlig frei. „Könnten sie bitte den Block Feuer fangen lassen?“ der andere Arm hob sich, und er krümmte die Finger in einer seltsamen Position. Dann richtete er einen Finger in Richtung des Papiers, und ein schwarzes Loch brannte sich hinein. Erst relativ klein wuchs es rapide und eine Flammenzunge leckte über den Block. Goldstein schaltete das Tablet ab und packte es weg. Doktor Vahlen sah ihn mit großen Augen an. „Und jetzt überleg, was das Problem war. Wir, studierte Biologen und Physiker, hatten einen zentralen Fehler gemacht: wir hatten Psychologie nicht berücksichtigt. Die Probanden entwickelten zunehmend Gottkomplexe, und Verschwörungstheorien untereinander. Sie sponnen sich zusammen, dass wir ihnen ihre Kräfte nehmen wollten. Und jetzt denk mal nach, wie sollte selbst GOLD zwanzig übermenschlich mächtige Männer und Frauen aufhalten? Sie flohen. Uns wurde relativ deutlich klar gemacht, dass wir unsere Studienplätze verlieren würden, sollte das an die Öffentlichkeit kommen. Also holten wir sie ab. Achtzehn konnten wir fangen, unter großen Mühen und hohen Verlusten. Einer hatte sich umgebracht, der andere ist ein Politiker in Frankreich. Und Politiker sind heilig, da kommt nicht einmal GOLD ran. Den Rest setzten wir inRussland, irgendwo im Ural aus. Beziehungsweise warfen wir sie, noch von Schlafmitteln betäubt aus dem jet. Rühmen kann man sich damit nicht, und es hatte fast meine Karriere beendet. Also möchte ich nicht, dass dir Ähnliches widerfährt.“ endete der Professor seinen Vortrag. Fassungslos war Julian dem Vortrag gefolgt, jetzt war er kleinlaut. „Ich danke Ihnen, Professor. Wir werden unsere zukünftigen Schritte überdenken.“ „ich weiß, dass du nichts an dem Projekt ändern wirst. Wir sind uns zu ähnlich. Erzähle es Eva, du wirst es eh tun. Sie ist vernünftiger als wir beide zusammen, junge, sie wird dir die Faxen schon ausreden.“ „Danke Professor.“ sagte Julian. Sein Weltbild war gerade etwas erschüttert worden, also machte er sich auf nach Hause. Der Professor sah ihm kurz hinterher, dann schloss er das Labor wieder ab und rollte in die andere Richtung davon.

„Wohin Denken ohne Experimentieren führt, hat uns das Mittelalter gezeigt; aber dieses Jahrhundert läßt uns sehen, wohin Experimentieren ohne Denken führt.“ – ArthurSchopenhauer

Eva sah absolut anziehend aus, obwohl sie nur ein schlichtes, weißes Nachthemd trug. Langsam ließ sie sich neben Julian sinken. Dieser reichte ihr ein Weinglas, und legte seine Arme um ihre Schultern. Als sie sich an seine Brust schmiegte, küsste er sie sanft auf den Kopf und roch ihr Shampoo, welches er allein schon wunderschön fand. Zusammen sahen sie auf das mitternächtliche Berlin. Hohe Türme, viel Glas, aber irgendwie anorganisch. Wie ein Gewerbegebiet oder ein großer Campus. Sie hatten sich, auch wenn dafür fast ihr kombiniertes Monatsgehalt draufging, eine Wohnung in Liebigshain gekauft, dem teuersten Stadtteil von Berlin. Eva wollte unbedingt hier leben, weil Justus von Liebig sowieso ihr großes Idol war. Noch ein halbes Jahr, dann würde die Wohnung den beiden Wissenschaftlern gehören. „Anstrengender Tag, hm?“ sagte Eva leise, ihre Stimme zerriss trotzdem die Stille. Julian sank ein wenig nach unten und zog Eva an sich. „Ein Glück hab ich dich. Sonst würde ich diesen Stress nicht aushalten.“ sie drehte ihren Kopf. „Danke, Schatz.“ lächelte sie. Dann drückte sie sanft ihre Lippen auf seine. Nach ein paar Sekunden spürte er ihre Zunge, und den kalten Piercing an seinen Lippen, der Kuss wurde fordernder. Er erwiderte das Spiel. Sie wälzte sich auf ihn und küsste ihn weiter, Julians Hände wanderten ihre schmalen Hüften nach unten und zu ihrem Hintern, welchen er sanft streichelte. Doch dann hörte er plötzlich auf. „Eva, ich muss dir etwas erzählen.“ enttäuscht rollte sie sich von seiner Brust. „Was denn?“ „sorry, Schatz. Aber ich kann mich nicht entspannen mit dem Gedanken im Hinterkopf.“ Sie nickte. „Okay. Erzähl.“ dann erzählte Julian, was er heute von Professor Goldstein erfahren hatte. Er schloss mit den Worten: „… und deshalb sollten wir das Projekt einstampfen, sagt er.“ Eva sah schockiert aus. „Und er hat ja recht, Julian. Das ist gefährlich.“ „aber überleg mal, wir haben diese Kinder mit nichts beschossen. Goldsteins Experiment war ein Unfall. Bei diesen Kindern ist das natürlich.“ „Ja klar, aber der psychologische Aspekt. Wir können nicht einfach Jugendlichen so etwas beibringen. Allein schon die zivile Sicherheit wäre extrem gefährdet.“ Julian sah ihr in die Augen. In diesem blau hatte er sich schon so oft verloren… „Schatz, ich kann jetzt nicht aufhören. Das verstehst du?“ langsam nickte sie. Er legte einen Arm um ihre Schultern. „Und ich liebe dich immer noch, Eva.“ Sie nickte wieder. „Du musst mich nicht unterstützen, ich mach das Projekt allein zu Ende, und du bist an nichts schuld was passiert.“ Tränen standen in ihren Augen, aber sie lachte leise auf: „und dich mit Melina allein lassen? Niemals. Am Ende macht ihr noch miteinander rum.“ jetzt lachte Julian auch. „Kann passieren. Aber Melina is ja auch nicht so hübsch,“ sagte er und beugte sich über sie. „Sie ist nicht so intelligent, witzig.“ er küsste sie kurz und flüsterte dann: „und ich liebe sie nicht so wie dich.“

Ein leises klacken ertönte, als Lukas die Herdplatte zündete. Das Plasma wirbelte im angezeigten Bereich herum und erhitzte den Topf. Magnetfelder… Lukas erinnerte sich wieder daran, was er gelesen hatte. Er streckte seine Hand aus. Er fühlte ein summen, sein Arm wurde in Richtung des Feldes gezogen. Schnell zog er die Hand weg. Das Plasma in der Platte folgte der Handbewegung. Er traute seinen Augen nicht. Seine Hand vollführte langsame Bewegungen und dabei beobachtete er das strahlende Plasma. Kurz hielt er inne, dann richtete er seinen Arm auf eine Blumenvase. Diese folgte der Bewegung. Fast schon zu einfach ging ihm das von der Hand, obwohl es absolut unmöglich war. Eine Drehung der Hand, und die Vase zerschellte an der Decke in tausend Teile. Er grinste. Das fühlte sich gut an. Er Stütze seinen Arm neben der Herdplatte ab, und versuchte die Couch anzuheben. Ein sengender Schmerz holte ihn allerdings in die Realität zurück, in welcher gerade das Essen überkochte und über seine Hand lief. Schnell regulierte er den Herd und rührte ein paar mal um. Doch konzentrieren konnte er sich nicht mehr. Er spürte regelrecht die Null-Wellen um seinen Körper fließen. Den Topf holte er vom Herd und verteilte das Essen auf den Tellern. Er ertappte sich, wie er die Teller zu sich schweben ließ. Als er sich dessen bewusst wurde, stellte er das Geschirr ab. „Fuck, ich muss damit aufhören. Das kann nicht gesund sein.“ „was?“ sofort schnellte Lukas herum, streckte seine Hand aus und ließ eine Druckwelle nach vorn fliegen. Der Junge, welcher in der Tür gestanden hatte, klatschte an die Wohnzimmerwand. Er hörte ein paar Kinder wimmern. Der Junge, er hatte schwarze Haare, einem stechenden Blick aus grünen Augen und war ziemlich schlank, rappelte sich auf und ging zu Lukas. Bevor diese sich entschuldigen konnte, schüttelte er Lukas die Hand und stellte sich vor: „Hey, ich bin Lucien. Lucien Declare. Und du musst mir das beibringen.“ Lukas grinste. „Keine Ahnung… das war Reflex.“ „dann bring mir den Reflex bei. Wie heißt du?“ erst wollte Lukas seinen Namen sagen, doch dann erinnerte er sich, dass seine Mutter bekannt war. „Nennt mich einfach Patient 0. So haben sie mich genannt.“ hinter Lucien sah er die anderen Kinder die Wohnung betreten. Viele kleine, ein anderer Junge ihres Alters war dabei, doch dieser weinte hysterisch. Lucien schaute ihn leicht verächtlich an und sagte: „die Schwachen verlieren kriege.“ Lukas zuckte mit den Schultern. „Ich hab gekocht.“ damit verteilte er die Teller auf dem Tisch.

Am Abend lag Lukas schon im Bett und las ein Buch, als Lucien den Raum betrat. „Heyho, is hier noch Platz?“ „hm.“ „Problem wenn ich hier schlafe?“ „nö.“ er stellte seinen Koffer vor das zweite Bett und streckte sich. „Schon ein krasser Tag, was?“ „Ja. Ich muss erstmal damit fertig werden.“ kurz sah er Lukas an, dann wieder weg. Nach einer kurzen Zeit wanderte Luciens Blick wieder in Lukas‘ Gesicht. „Was?“ fragte dieser leicht genervt. „Ach, ich hab diese Muttermale angesehen. Krass, auf jeden Fall.“ irritiert schüttelte Lukas den Kopf. „Ich hab keine Muttermale.“ Lucien lachte. „Was ist das sonst? Schwarzer Hautkrebs?“ jetzt sprang Lukas auf und lief ins Bad. Im Spiegel betrachtete er sich. Tatsächlich: überseinem Auge und auf seiner Wange waren je zwei schwarze Punkte, welche sich geometrisch perfekt gegenüberstanden. Er sah, wie sein Zimmergenosse den Raum betrat. „Und?“ ungläubig zog er an seiner Haut herum, die Flecken blieben dort. Er rieb mit Wasser daran herum, doch nichts passierte. „Was ist das? Scheiße was ist das!?“ schrie er schon fast. „Sieht auf jeden Fall nicht gesund aus, man. Ich würde das untersuchen lassen.“ auf einmal schüttelte sich Lukas. „Was ist, man?“ er sank auf den Boden. Auf einmal spürte er hellen Schmerz auf den vier Punkten in seinem Gesicht. Er schrie, sein Blickfeld verschwamm, wurde rabenschwarz und grisselig. Fast wie… wie… Schnee?

„Der Mensch ist ein Blinder, der vom Sehen träumt“ – Friedrich Hebbel

Eine Kreatur in einem zerschlissenen Mantel hangelte sich in der Tiefe die schneebedeckten Felsen nach oben. Als Beobachter des Schauspiels stand oben ein hagerer Mann. Seine braune Kutte war das einzige, was sich bewegte. Es sah unnatürlich und abstoßend aus, wie sich das Wesen dort am Hang fortbewegte. Die Berge im Hintergrund wirkten furchterregend, wie gewaltige Zähne. Kein Leben weit und breit, außer dieser Kreatur, welche sich unter ihm die Felsen nach oben kraxelte und ihrem stillen Beobachter. Der Mantel hielt ihn warm, trotzdem fröstelten seine Arme. Er schnippte mit den Fingern und ein warmer Wind umspülte ihn. In einem perfekten Kreis um ihn schmolz der Schnee in Sekundenschnelle. Das Wesen hatte die Ebene erreicht und zog sich nach oben. Jetzt sah man das groteske: es hatte keine Haare am Körper, und vier arme. Sonst sah er aus wie ein Mensch. Der Beobachter streckte seinen Arm nach vorn und schüttelte dem anderen Mann die Hand. „Erfreut.“ krächzte der Beobachter. Seine Stimme klang angestrengt und leise. Der andere sah ihn eine Sekunde an. „Ich muss dich auffordern, mit mir zu kommen.“ „ich komme nicht in eurer Tal des Selbstmitleids.“ „wir sind ausgestoßene, das weist du noch?“ „Das heißt nichts. Wir sind Götter. Schon vergessen?“ der vierarmige sah sich um. Mit allen armen zeigte er in verschiedene Richtungen. „Siehst du irgendwen, der hier ein Gott ist? Du stehst im Schnee und frierst, E…“ der Beobachter streckte einen Arm nach vorn. Er war so dünn, dass man den Knochen fast sehen konnte. Unter der dunklen Kutte glühte es. Zwei rot strahlende Kreuze über den Augen. Der vierarmige sah erschrocken aus. Er versuchte etwas zu sagen, doch sein Kiefer wurde von etwas unsichtbarem zusammengedrückt. „Du wirst mich nicht weiter belästigen. Und wenn du noch einmal versuchst, meinen Namen zu sagen, töte ich dich.“ damit schnellte der zweite arm des Fremden nach vorne, und eine Druckwelle katapultierte den Vierarmigen die Klippe herunter. Eine Sekunde starrte er ihm nach, dann raffteder Beobachter die Arme unter seine braune Kutte. Erhaben drehte er sich herum,das leuchten der Kreuze erstarb mit der warmen Zone um ihn herum und Schneeverschluckte die Szene.

Hustend wachte Lukas in seinem Bett auf. Lucien stand gebeugt über ihm. „Ein Glück. Ich wollte schon die Ärzte rufen. Was war los?“ Lukas setzte sich auf. „Keine Ahnung. Aber ich muss hier weg.“„warum?“ er sah Lucien an. „Ich weiß was mit uns passiert, wenn sie uns nicht mehr brauchen.“

Helenas Zeitplan sah in der Frühe einen Besuch von Riad vor. Danach wollte sie mindestens noch Mekka, Kairo und Tel-Aviv besuchen, und mit den Menschen sprechen. Saudi- Arabien stand so kurz vor der Aufnahme, Israel war in der Aufnahmephase. Doch den Leuten ging es immer noch schlecht. Obwohl ganz Israel säkularisiert wurde, und das war schon ein Kampf gewesen, standen die Versprechungen noch aus. Wenig Wohlstand landete im vornehmlich kommunistisch regierten Land. Die Menschen verstanden Kapitalismus nicht, und die die ihn verstanden wanderten schnell ab um das große Glück in Germania oder England zu suchen. Doch Helena sah das ganze trotzdem optimistisch. Als sie die Rollfelder entlang fuhr und sich auf ihrem Schreibblock Notizen dazu machte, wurde ihr auf die Schulter getippt. „Frau Doktor Simony?“ Sie drehte sich verwirrt herum. Hinter Helena stand ein gewaltiger Mann, bestimmt zwei Meter groß und ziemlich breit, mit kurz geschorenen Haaren und einem eigentlich schönen Gesicht, wenn er nicht so aufgepumpt wäre. „Ja?“ „mein Name ist Josef Kaiser. Ich und meine Männer werden sie heute begleiten.“ erst auf den zweiten Blick nahm Helena das goldene Schwert über seiner Brust wahr. Es war winzig und nur stilisiert, aber sagte einiges aus. GOLD-Truppen. „was verschafft mir die Ehre?“ sagte sie eisig. „Riad wurde von der Regierung als rote Zone deklariert. Ihr Schutz wurde exklusiv angewiesen.“ „rote Zone? Das ist Blödsinn! Wer ist dafür verantwortlich?“ der riesige Mann beugte sich ein wenig zu Helena und flüsterte: „wir haben einen neuen Minister für auswärtiges. Jacques Declare heißt der Mann. Er geht ziemlich radikal an die ganze Sache heran, und der Islam ist für ihn ein rotes Tuch. Er hat alle islamischen Länder sofort als rot eingestuft und den Aufnahmeprozess von Israel in frage gestellt.“ „Wahnsinn.“ hauchte Helena. „Warum hört man nichts von so etwas.“ „alles geschlossene Kanäle, Frau Doktor. Das weiß keiner, weil es niemanden betrifft. Die Menschen hier drin sind blind für das außen.“ „sie sind doch auch hier drin.“ grinste Helena. Sein Blick verengte sich. „Frau Simony, ich habe die Niagarafälle reißend in die Tiefe stürzen sehen, die Schreie der Tiere im Urwald von Madagaskar gehört und den eisigen Winter in der Arktis. Ich saß am Feuer mit Eskimos, aß gebratenen Löwen mit Afrikanern und speiste in ägyptischen Tempeln mit dem Herrscher. Denken Sie, ich könnte das jemals vergessen? An ihrem Blick sehe ich, dass sie GOLD verabscheuen. Aber geben Sie Menschen eine Chance, Frau Doktor.“ sie lächelte ihn an. „Menschen Chancen geben ist mein Job, Josef.“

„Wenn ich etwas an Christus verstehe, so ist es das: Und er entwich vor ihnen in die Wüste.“ – Christian Morgenstern

Die Erde raste unter dem Gleiter hinweg. Städte, Dörfer, Wälder verschwammen zu einer einzigen Suppe, als der Gleiter auf seine Betriebsgeschwindigkeit beschleunigte. Helena drehte sich vom Fenster weg zu Josef. „Herr Kaiser?“ „sag Josef.“ „Ja, Ähm, sie sagten das Wissen über die Minister wird unter Verschluss gehalten.“ „ich weiß was sie fragen wollen. Und ich werde Ihnen das nicht beantworten. Doktor Simony, ich mag sie wirklich, aber das erzähle ich nur Leuten, denen ich wirklich vertraue. Man weiß nie, wer hier ein Spitzel ist.“ Helena nickte langsam. „Ach was, ich erzähle es ihnen.“ lachte er. „Aber gute Reaktion.“ „man weiß schließlich nicht was sie schon alles gesehen haben.“ „das ging los, als ich zu GOLD ging. Im Ausbildungslager waren nur die dümmsten der dummen untergebracht. Also wurde ich schnell Brigadeführer. Dann General. Meine Lage verbesserte sich, bis ich meinen Freund kennen lernte.“ Helena verschluckte sich leicht. „Ja, das denken die Leute immer nicht wenn sie mich sehen. Auf jeden Fall wurde ich in der Armee degradiert, politisch mundtot gemacht und mein Vater will mich nicht mehr sehen.“ „ich hätte nicht gedacht, dass es noch so viel Schwulenfeindlichkeit gibt…“ „das wurde vergessen. Es interessiert niemanden, was mit uns passiert. Langsam fehlt mir noch, dass ich für das ausfallen der Ernte verantwortlich gemacht werde.“ „man kann sich wirklich wie im Mittelalter fühlen.“ „Ja. Meiner Meinung nach sind die Menschen nicht weiter gekommen in der Entwicklung.“ „und was ist ihr Vater für ein Mensch, wenn der so etwas macht?“ „mein Vater ist kein Mensch.“ sagte Josef und sah zum Fenster heraus. Wüste war unter ihnen. „Schauen sie! Riad!“ sagte er und legte seine Rüstung an, welche neben ihm gelegen hatte. Kugelsicher war untertrieben, auf das Teil konnte man wahrscheinlich einen Wolkenkratzer fallen lassen. „Was ist das für eine Rüstung?“ aus dem Helm drang die verzerrte Stimme: „selber modifiziert. Die normale war mir zu unsicher.“ der Gleiter stoppte abrupt in der Luft und die Heckklappe öffnete sich. Ein junger Mann brachte ihr einen Fallschirm. Entgeistert sah sie Josef an: „warum landet der Pilot nicht?!“ „in roten Zonen darf nicht gelandet werden. Zu unsicher für den Gleiter.“ sagte er. Er richtete sich mit der Rüstung auf. Dann nahm er Helena, hob sie hoch und hackte ihren Fallschirm an seinen Brustpanzer ein. „Ich nehme sie so mit runter, Frau Doktor.“ schrie er gegen den Wind, der zur Heckklappe hineinzog. Sie nickte nur kurz. Dann ging Josef los, und warf sich in die Tiefe. Sofort hörte sie das zischen, als sein Fallschirm sich aufspannte. Langsam glitten sie in Richtung Riad.

Schlimm sah es hier aus, als sie sich umsah. GOLD-Truppler rannten überall durch die Gegend, räumten die zerstörten Wohnhäuser und zerrten Familien nach draußen. Im Hintergrund stürzte ein Hochhaus in sich zusammen, Menschen sprangen aus dem Fenstern und verwandelten sich auf der Straße in blutigen Matsch. „Was ist hier denn passiert?!“ fragte Helena fassungslos, als Josef sie unter den Armen packte und auf den Boden hob. „Lass es uns rausfinden, fra…“ dann hörte sie nur ein leises „pling“ und Josefs Rüstung wurde mit Raketenantrieben um sie herum geschleudert, Haken aus den Füßen rissen sich krachend in den Asphalt. Am Rücken der Rüstung öffnete sich ein Schirm, hinter welchem eine Feuerwand aufflammte. Die Hitze ließ Helena zusammenzucken, sie stürzte und fiel auf die Straße. Ungläubig sah sie Josef an, welcher sie gerade vor dem Tod durch eine Explosion bewahrt hatte. Als das Feuer weg war, wirbelte ihr Beschützer herum und schoss den Angreifer mit einer Maschinenpistole nieder. „Danke…“ sagte Helena. „Automatische Gefahrenerfassung, auf sie geeicht. Die Rüstung wird unter Einsatz meines Lebens sie retten. Aber wie Sie sehen, passiert mir nichts.“ „Okay. Gehen wir. Ich will mit dem Kommandanten dieser Truppen sprechen.“

Julian stand im Labor und beobachtete die Maschinen beim hochfahren. Evas tadelnder Blick lag ihm immer noch im Rücken. „Ich laufe sehenden Auges in die Katastrophe. Aber dieses Auge kann nicht blind sein.“ er drehte sich zu seiner Freundin um. Sie nickte. „Ich bin an deiner Seite.“ „mehr brauche ich nicht.“ lächelte er. Dann drückte er einen Kopf. „rufe Patient 0 aus.“ sie hörten den Aufruf draußen, wo die Patienten schon warteten. Fünf Minuten später streckte ein schwarzhaariger Junge den Kopf zur Tür hinein. „Doktor Vermont? Lukas ist weg.“ dieser sah ihn eine Sekunde an, dann schlug er auf den Tisch. „Finden wir ihn! Unsere Karriere ist vorbei, wenn der irgendwem etwas erzählt!“ er stürmte nach draußen, die Kinder sahen ihn entsetzt an. „Geht wieder ins Wohnheim. Es kann sein, dass ihr in Gefahr seid.“ Lucien schüttelte den Kopf. „Das sagen erwachsene immer, wenn sie nicht wollen dass wir etwas machen. Ich folge Lukas.“ der Rest der Kinder sah sich unschlüssig um. Eine direkte Anweisung eines Wissenschaftlers? Dagegen konnte niemand etwas sagen. Doch Lucien rannte durch den Gang, und zögerlich begannen sie ihm zu folgen.

GOLD war so schnell zur Stelle, dass Julian sich schon fragen stellte, aber eigentlich ging es um den Schüler. „Also Männer. Ich habe euch das Bild geschickt, er könnte äußerst gefährlich sein, also…“ „keine Angst Doktor, das Kind verletzt uns nicht.“ lachte der Frontmann der Truppe und schlug gegen seinen Brustpanzer. Die Gewehre stellten sie auf „Schock“ und Visiere fuhren vor die Gesichter. „Los, Einsatztrupp!“ kommandierte er und die zehn Soldaten rannten los. Verstärkende Düsen in den Schuhen beschleunigten die normalen GOLD-Fußtruppen auf ca. 50 km/h, was allein schon ziemlich beeindruckend war. Eva trat hinter Julien, und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Hoffen wir, dass sie ihn finden. Wer weiß was erkann.“ er nickte nur langsam. „Du hattest von Anfang an recht. Wie immer.“ „sag das nicht. Ohne deinen Sturkopf wären wir weder durch die Aufnahmeprüfung, noch die Promotion, noch die Doktorarbeit gekommen.“ „wir sind ein super Team.“ sie legte ihren Kopf auf seine Schultern, er küsste ihren Haaransatz. „Jep.“

„Die zwei größten tyrannen der Welt: der Zufall und die Zeit“ – Johann Gottfried von Herder

Mitten im Wald fiel Lukas hin. Entkommen war einfach gewesen, aber nichts bot ihm hier Schutz. Der Wald war eigentlich eine Wiese mit Bäumen, jeder exakt eins Komma fünf Meter vom nächsten entfernt. Man hatte Angst vor frei wuchernder Natur, und bedachte dabei natürlich keine flüchtigen 14-Jährigen. Er lehnte sich gegen einen Baum. Die Rinde war aalglatt und stramm, der Stamm des Baumes ging kerzengerade zehn Meter in die Höhe und mündete in einer ausladenden Krone. Alles hier war Gentechnik. Die Hasen, die auf der Wiese tollten, hatten alle Farben des Regenbogens, nur nichts was tarnt. Wozu auch? Fleisch durften sowieso nur Menschen essen, alles andere ernährte sich von „Spezialfutter“. Er hörte Raketendüsen sich nähern. „Scheiße, GOLD.“ fluchte er, und rannte weiter. Seine Beine schmerzten und seine Lunge war schon am pfeifen, als der erste Schuss neben ihm in einem Baum einschlug. Er rollte sich auf den Boden und hielt sich die Seite. Obwohl der Schuss nicht ein mal ansatzweise getroffen hatte, war er so erschrocken, dass er meinte getroffen zu sein. Furchterregend schnell kamen die Düsen auf ihn zu. Als der erste Soldat vor ihm stand, stellte er sich langsam auf. Andere Truppen umstellten ihn, die Gewehre lässig an der Seite. Einer klappte sein Visier hoch. „Einfacher kann man kein Geld machen. Ich sag doch, diese Wissenschaftler sind irre.“ doch Lukas konzentrierte sich. Heller Schmerz entstand an den schwarzen Stellen bei seinen Augen. Doch den ignorierte er. Er hatte es satt vor der Obrigkeit zu kuschen. Er streckte seine Hand aus, Null-Wellen umströmten seinen Arm, als der Soldat vor ihm von den Füßen gerissen wurde und gegen einen Baum klatschte. Die Rüstung fing Feuer, der Treibstofftank der Düsen löste sich in einer gewaltigen Stichflamme auf. Schreiend verging der Soldat in den Flammen. Die neun anderen sahen ihm erschrocken zu, dann zogen sie Waffen. Alle Mündungen richteten sich auf Lukas. Doch alle Energie war aus seinem Körper gewichen. Jetzt gab er nur noch dem Schmerz in seinem Gesicht nach, und rollte auf dem Boden. So verpasste er auch das flüchtige blaue Licht in der Luft, und sah erst wieder nach oben als er einen gewaltigen Schlag hörte. Zwischen ihm und den Soldaten stand eine hagere Gestalt, braune Lumpen umspielten die Figur. Einer der Soldaten schoss, doch das Projektil wurde unglaublich langsam in der Luft. In Panik sahen sie sich an, dann richteten alle Soldaten die Waffen auf das Wesen. „Ruhig.“ kratzte eine Stimme. „Warum greift ihr den Jungen an?“ „hört ihm nicht zu! Erschießt das Wesen!“ schrie eine Stimme aus dem Headset der Soldaten, welche bis zu Lukas vordrang. Sofort begannen die Soldaten zu schießen, doch unter dem Umhang kamen zwei spindeldürre Arme hervor, welche sich auf die Männer richteten. Er drehte seine Handgelenke, völlig ohne Anstrengung, doch alle neun Soldaten wurden in die Luft gehoben und gestreckt. Lukas fühlte Null-Wellen wie einen Sturm zu dem Fremden fließen. Er hörte Knochen knacken, und kauerte sich noch mehr zusammen, als er sah wie die Rüstungen der neun Männer aufgebrochen wurden und einzelne Knochensplitter herausflogen. Kollektives Schreien von neun Männern war das letzte was Lukas hörte, bevor er in Ohnmacht fiel.

Der Regierungssitz von Saudi-Arabien sah aus wie eine Militärbasis. Überall waren die Fenster verrammelt, die Lichtstrahlen die nach drinnen drangen, reichten kaum den Raum auszuleuchten. Stickige Hitze herrscht ein dem Gebäude, einige Wände waren eingerissen worden, Fensterscheiben lagen gesplittert auf dem Boden, alles machte einen ärmlichen Eindruck. Ein untersetzter Mann, welcher ein mal einer der dicksten Männer gewesen war, die Helena kannte, kam auf die beiden zugewatschelt. Er war extrem dünn geworden, haut hing faltig von ihm herunter. „Mohammed! Was ist mit dir passiert?!“ fragte Helena entsetzt auf arabisch. Er antwortete müde: „Terroristen. Wochenlang gab es kein Essen. GOLD tut als würden sie helfen, doch sie machen nichts. Verstehst du mich?“ Sie nickte nur. „Wann ging das los?“ „vor drei Wochen. Auf einmal hatten die radikalen Gruppen Waffen. Viele und schreckliche Waffen.“ „die selben die GOLD benutzt?“ er nickte. Josef sah sie an. „Was hat er gesagt?“ „Er hat über Terroristen gesprochen. Wisst ihr etwas davon?“ „GOLD kämpft erbittert gegen diese Menschen. Ihre Anschläge halten das Land in Aufruhr, das stimmt schon.“ „das passiert immer wenn neue Regierungen sich bilden. Die Geschichte zeigt das.“ sagte sie erst auf deutsch, dann auf arabisch. „Seien sie vorsichtig Frau Doktor. Man traut den weißen hier nicht mehr.“ Helena nickte. „Auf Wiedersehen, Präsident.“ die Wissenschaftlerin sah sich weiter um. „Komm Josef. Wirsprechen mit den GOLD Truppen hier.“ „nicht nötig. Ich bin hier stationiert.“ „und? Was kannst du mir zu diesen „Terroristen“ noch verraten?“ er sah irritiert aus. „Warum sagen sie das so sarkastisch?“ „Josef, das sind niemals Terroristen. Das ist die Entschuldigung einer Regierung, die sich verkalkuliert hat.“ „Was?“„Ja, ich denke, dass unser neuer Minister ein paar Leute bezahlt hat Unruhe zustiften. Er will den Islam nicht, also sucht er nach einem Grund dieses Land in den dreck zu ziehen. Nicht mit mir.“ damit schritt Helena energisch davon. Josef fummelte kurz an seinem Ohrstecker herum, dann folgte er.

Der Priester wollte gerade das Portal der Kirche verschließen, da stürmte Helena herein. Ihre Augen waren tränenverschmiert. „Kind? Was hast du?“ „Lukas ist nicht heimgekommen. Sie haben ihm bestimmt was angetan, sie…“ „jetzt beruhig dich mal. Was ist passiert?“ „er ist nicht zu Hause!“ der Priester schritt durch das Paradies der Kirche. „Und? Er ist bei der Regierung, das hast du mir doch erzählt.“ „aber ich habe auf wenigstens eine Antwort gehofft…“ schluchzte sie. „Ach komm her.“ sagte er und drückte Helena an sich. „Du musst dir doch keine Sorgen machen. Die Regierung wird sich den Fauxpas nicht erlauben, einen kleinen Jungen umzubringen.“ „du hast ja recht.“ „Ja. Ach Helena. Du musst langsam lernen, was es heißt eine Mutter zu sein. Lukas ist nicht dein Trostspender weil Enrico weg ist. Er ist ein eigenes, lebendes Wesen. Und wenn er sich mal einen Tag nicht meldet ist das normal!“ helena schluchzte noch einmal auf, dann wischte sie sich die Tränen aus den Augen. „Ja. Du hast recht. Ihm geht es gut.“ überzeugte sie sich und ging langsam aus der Kirche heraus. Der Pfarrer sah ihr kurz nach, dann schloss er die Tür.

„De duobus Malis, minus est semper eligendum“

Den Raum, den Helena betrat, sah sie zum zweiten Mal. Er war hoch und lang, runde Tische säumten die Seiten. Zwei glänzende Kronleuchter hingen von der Decke, und vorn stand eine golden ausgestaltete Bühne. „Soll ich nach draußen gehen?“ fragte Josef leise. „Nein, das dauert nicht lange.“ sagte Helena und schniefte kurz. Mit einem Blumenstrauß in der Hand ging sie langsam zur Bühne. Ein Altar, darauf die Bibel, Blumenkränze außen herum. Es war perfekt. Langsam legte sie den Blumenstrauß auf die Bibel. Auf dem Podest lag ein schwarzes Kästchen, darin zwei goldene Ringe. Fluchtartig verließ sie die Szene. Josef folgte ihr im Laufschritt. „Frau Doktor! Wir können abbrechen.“ „Nein. Wir bleiben. Wenn ich so weit bin, erzähle ich ihnen was es mit diesem Ort auf sich hat.“

Zwei Stunden später, ungefähr zehn Meilen vor Riad standen sie in einem verlassenen vorgeschobenen Lager der Terroristen. Die Sonne brannte schwer vom Himmel, Sandstaub lag trocken in der Luft. Ringsherum sah man nichts außer Sand, viel Sand. „Sie haben nicht einmal eine Oase gewählt. Ich sag dir, hier ist was faul.“ Helena trat eine Plane weg, welche auf dem Boden lag.

Josef sah den Helm gleichzeitig mit Helena. Ein Helm einer GOLD-Truppe auf dem Boden. Daneben eine Anweisung, einen Anschlag auf die Moschee in Al Kharj zu verüben. Unterzeichnet vom Minister für Auswärtiges, Deutschland. Die Anweisung aus seinem Earpiece hörte Josef von ganz weit weg.

Helena starrte auf den Zettel und den Helm. Ihre Hand reichte zitternd nach dem Blatt, als sie auf einmal die Kraft verließ. Langsam sank sie auf die Knie.

Josefs Finger wurden schwach um den Abzug seiner Waffe. Er warf sie in den Sand.

Ihre Hand schob sich in Helenas Blickfeld, sie war rot. Langsam versuchte sie den Zettel zu erreichen, aber schaffte es nicht mehr. Ihre Hand sank in den Sand, ihre Lider flatterten. Dann erschlaffte ihr Kopf, ihre blonden Haare verteilten sich im Sand.

Josef starrte auf die Leiche. Sein Earpiece fischte er zittrig aus seinem Ohr. Er starrte es an. Dann warf er es mit einer solchen Wucht in den Sand, dass es splitterte. Er setzte sich auf eine Decke, immer noch den Blick auf den toten Körper. Dann fing er leise an zu weinen. Es war etwas gestorben in Josef Kaiser an diesem Tag, und doch war etwas erwacht.

„Von zwei Übeln, muss immer das geringere Gewählt werden.“

Zehn Jahre vergingen seit dem Ende des ersten Aktes. 

Nichts änderte sich in Wirklichkeit.

„Der Zufall ist die in Schleier gehüllte Notwendigkeit.“ -Marie Freifrau von Ebner- Eschenbach

„Lukas.“ „Hm?“ „Es ist Zeit.“ Enrico stand hinter seinem Sohn, an einer gewaltigen Klippe. Schneebedeckte, scharfkantige Berge säumten den Horizont wie der abgetrennte Unterkiefer eines riesigen Drachen. Die Luft war dünn und eisig kalt, sodass den Beiden eine dichte Dampfwolke um den Kopf geisterte. „Zehn Jahre“ flüsterte Lukas. „Was?“ „Zehn Jahre sind vergangen, Vater.“ „Ja. Aus dir ist ein richtiger Mann geworden. Du bist nicht mehr der kleine Junge, welchen ich vor Berlin aufgeschnappt habe. Du bist weise und erwachsen geworden.“ „Danke“ sagte Lukas. Das Lob bedeutete ihm viel. Enrico blickte ihn sorgenvoll an: „Du musst allerdings aufpassen. Niemand darf etwas hiervon wissen. Dein Extensio könnte dich auffällig machen. Wir haben zwar einen Plan gemacht, doch dieser Plan könnte auch fehlschlagen. Ich war so lange wie du nicht in Europa. Einiges könnte sich geändert haben. Pass auf: das Ziel ist, die Menschheit von der Unterwerfung zu befreien.“ „Aber dann würde sie sich wieder gegenseitig zerstören“ entgegnete Lukas. Sein Vater nickte: „Es ist die natürliche Ordnung. Leben und Tod.“ „Ich verstehe.“ „Also, ich habe die Fäden der Gesellschaft zurückgeführt, und bin auf einen Herrn Lorentz gestoßen. Dieser Mann ist wahrscheinlich die Ursache für das alles.“ Lukas reagierte sofort: „Okay. Also schalte ich den aus. Dann was?“ „Nein, du schaltest ihn nicht aus. Wir müssen wissen was er vorhat, bevor wir seine Aktionen bewerten können.“ „Ok. Das ist weise.“ „Freu dich nicht zu früh“, sagte Enrico düster. „Ich denke, sein Schicksal ist besiegelt.“ Ein finsteres Schweigen des Aufbruchs legte sich über die Beiden. 

„Ein paar Dinge noch, Sohn. Erstens, Hele… Mama ist tot.“ Lukas nickte langsam und traurig: „Ich habe sie in Gefahr gebracht, oder?“ „Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Sie wurde mitten in der Wüste erschossen. Nichts Auffälliges war zu finden, nur die Leiche deiner Mutter in den Dünen. Ich bring dich dort hin. Und noch etwas. Ich habe dir beigebracht, deine Gabe nicht zu übertreiben. Dass das Extensio dich tötet, wenn du nicht aufpasst.“ Enrico schlug seine Kapuze zurück. Sein Schädel war so mager und ausgehungert wie der Rest seiner Gestalt. Die Haut war knochig bleich und zwei Kreuze lagen über Enricos trüben Augen. „So etwas passiert. Ich habe es übertrieben. Also sieh zu, dass dir nichts ähnliches passiert.“ Lukas schluckte kurz, dann nickte er. Wortlos umarmte er seinen Vater, welcher eher wie ein Schatten des ehemaligen Wissenschaftlers aussah. Die Berührung fühlte sich seltsam an, seit Jahren hatte er nichts Lebendiges berührt. „Ich bin bereit, Vater“ sagte Lukas. Enrico nickte, dann hob er seine Hände. „Pass auf dich auf“ sagte er. Die beiden Kreuze über seinen Augen leuchteten rot auf, Lukas fühlte die Null- Wellen an seinem Körper reißen. Zellen fielen auseinander, sein dicker Mantel löste sich ebenso wie Lukas in Luft auf. 

Was er nicht mitbekam, war, dass die Zellen und Atome wie Staub durch die Luft glitten, den Berg hinunter, rasend durch ein Tal schwebten, um sich in die Vorregionen des Ural zu schrauben, wie ein Sturm durch Afghanistan jagten, Jerusalem passierten und schließlich durch den Irak bis nach Saudi-Arabien schwebten. In einer Wüste setzte sich langsam ein Körper zusammen. Sorgfältig fügte sich Atom an Atom, Zelle an Zelle, Organ an Organ. Als der Körper im Sand lag, fuhren zigtausend Blitze in den Kopf des Jungen, stimulierten die Gehirnzellen und erweckten ihn zum Leben. Lukas setzte sich auf, spuckte und sah sich kurz um. Neben ihm lag sein Mantel, welchen er sich überzog. Die abendliche Sonne brannte schwer auf ihn herunter, obwohl sie schon begann, im beigen Meer der Wüste unterzugehen. Mit dem Blick folgte er einer kleinen Schlange, welche lautlos durch den Sand glitt. Er allerdings sah die Schlange in ihrer gesamten chemischen Zusammensetzung, die Impulse leichten Stroms, die den Bewegungen Kraft gaben und ihren Hunger. Und genauso sah er die Absicht der Schlange, sich auf Lukas‘ kleinen Zeh zu stürzen. Ein ausgestreckter Finger von Lukas reichte, das Tier sich auf der Stelle herumdrehen und in die andere Richtung schlängeln zu lassen. Dann sah er sich um. Hinter ihm stand etwas, das definitiv nicht in die Wüste gehörte. Ein Quader aus Glas, mit einzelnen Spuren Diamant versehen. Er spürte Null- Wellen wie ein Magnet hierhin fließen. Licht brach sich kunstvoll im Quader und verdeckte die Sicht nach innen. Immer neue Bilder entstanden auf der Oberfläche, rotierende Muster aus allen erdenklichen Farben. Staunend ging Lukas einmal um das Kunstwerk herum, dann sah er, dass auf der Oberfläche ein Kasten frei blieb. Darin konnte man in das Innere des Kastens sehen. Helena sah aus, wie Lukas sie in Erinnerung hatte. Der Körper war erhalten, nur ein wenig blass wirkte sie. Lukas legte nur eine Hand auf den Sarg, keine Emotion regte sich in ihm. Die Jahre auf den Bergen hatten Lukas‘ Emotionen geraubt. Was übrig geblieben war, war ein Verstand, so kalt wie das ewige Eis auf dem Ural. 

Josef Kaiser kämpfte sich die Dünen nach oben, einen Strauß Blumen in der Hand und in traditioneller arabischer Kleidung. Mit seiner Rechten schirmte er seine Augen vor der niederbrennenden Sonne ab, welche gerade versank. Diesen Frondienst musste er leisten, seit der Tat vor zehn Jahren hatte sich viel geändert. Er war noch in der Armee, doch sein Ziel hatte sich geändert. Diese Gesellschaft widerte ihn an. Er wollte finden, wer hinter der Armee stand und ihn umbringen. Dafür, dass er sein Leben zerstört hatte. Dafür, dass er Helena töten musste. Dieses Ereignis bestimmte sein Leben, doch der Offizier, der den Befehl gegeben hatte, lebte weiter. Ohne Gewissen. Der Befehlshaber, dem Josef treu ergeben sein musste hatte nicht, wie Josef den Rückstoß gespürt, er hatte nicht den ungläubigen und nichtsahnenden Blick Helenas sehen müssen, welche selbst im Tod an Josefs Unschuld geglaubt hatte. Und dafür müsste dieses Monster sterben. Dafür allein. Langsam schob sich der Glassarg in sein Blickfeld. Warum er da war, wusste Josef nicht. Er war auf einmal da gewesen. Seltsame Sachen geschahen in der Wüste. Doch heute war das Bild anders: ein junger Mann im schwarzen Mantel stand am Sarg. Seltsam ruhig war die Szenerie. „Hey! Was tun Sie da?“ rief Josef. Der Mann drehte sich um. Selbst über diese Entfernung konnte Josef seinen stechenden Blick fühlen. Der Fremde hob eine Hand und vor Josefs Augen wurde es schwarz.

01100

„Jeder Weg trifft einmal einen anderen Weg.“ -Sprichwort aus Madagaskar 

Das Feuer schlug periodisch hoch in die Luft und fiel wieder in sich zusammen. Josef blinzelte, und sah in die lodernden Flammen. Daneben saß Lukas und dirigierte sie mit der Hand. Langsam setzte sich der Soldat auf. Er trug seine Kleider und war in eine Decke gehüllt. Langsam dämmerte es Josef, dass er den Sohn von Helena vor sich hatte. Sie hatte sich extreme Sorgen um ihn gemacht, als sie noch lebte. „Lukas. Wo warst du?“ Der junge Mann sah Josef an, welcher jetzt erst das schwarze Kreuz über seinem linken Auge bemerkte. „Oh. Du…“ „Ja? Meinst du meine Extensio?“ „Die was?“ Lukas zeigte auf das Kreuz an seiner Stirn: „Extensio. Lateinisch für Belastung. Der Preis für das Kontrollieren von Null-Wellen.“ Er zögerte kurz: „Die Esper nennen das Zuris.“ Lukas sah Josef an. Dann starrte er wieder in die Flammen, welche besonders hoch aufflammten. „Es ist schon fast zu spät, Josef. Fast zu spät.“ „Wofür?“ „Für den Widerstand.“ 

Der Weg in das brütend heiße Riad war weit und die Beiden redeten wenig. Als sich schließlich die ersten Hochhäuser aus den ewigen Dünen gegraben hatten, vom Krieg zerbombt und verwüstet, blieb Lukas stehen. Als gebürtiger Europäer war er noch nie hier gewesen, die Hauptstadt von Saudi- Arabien hatte er auf Hochzeitsfotos seiner Eltern nur ein paar mal gesehen. Auf dem Hügel verharrte er und sah über die Stadt. Josef schauderte es bei diesem Anblick. „Für diese Leute hast du gekämpft?“ Josef nickte langsam: „Tue ich immer noch. Offiziell.“ Lukas sah gegen den Horizont, welcher gerade in den Flammen des Abends stand. Sie waren schon den ganzen Tag durch die Wüste gewandert. „Ich habe es in deinen Gedanken ersehen. Du führst einen Widerstand an.“ Josef riss seinen Kopf zu Lukas herum: „Was?! Woher weißt du das?!“ Jetzt lächelte Lukas das erste Mal seit Josef ihn kannte: „Ich sagte doch, dass ich es in deinen Gedanken gesehen habe.“ Josef sah langsam wieder Richtung Stadt: „Wenn das alle Esper können, ist diese Revolution vorbei, bevor sie begonnen hat.“ Lukas erwiderte: „Ich werde das herausfinden. Der Plan ist der, Josef: hast du eine Frau?“ „Nein… ähm… ich bin…“ Lukas schmunzelte: „Umso besser, Josef. Schade, dass du damit nicht offener umgehen kannst. Also, du bringst mich mit nach Europa. Offiziell heiße ich ab jetzt Maximilian, ich bin auf einer Urlaubsreise verloren gegangen. Du hast mich gefunden und erklärst dich bereit, mich zu adoptieren, zusammen mit…“ Lukas‘ rechtes Auge glühte rot auf, Josef fühlte ein leichtes Stechen im Kopf. „…zusammen mit Paul. Meine Kräfte habe ich mir autodidaktisch beigebracht. Das sollte dazu führen, dass ich erstmal zu den Wissenschaftlern komme, vor denen ich vor 10 Jahren geflohen bin. Ich denke, dann werden sie mich in eine ihrer Schulen stecken.“ „Das glaube ich nicht, Lukas. Das wird nicht passieren.“ „Warum?“ jetzt sah Lukas irritiert aus. „Den Plan hast du dir zusammen mit deinem Vater ausgedacht, oder?“ „Ja, schon…“ „Gut, nur dass seit 10 Jahren keiner von euch Beiden Europa gesehen hat. Es hat sich verändert. Kinder werden reihenweise nach ihrer Intelligenz, beziehungsweise Regimetreue ausgesucht und bekommen das Zuris aufgebrannt. Dann werden sie an Spezialschulen geschickt und zu Soldaten ausgebildet. „Was!?“ jetzt war Lukas direkt entsetzt. „Ich hatte eins dieser Esper im Regiment, er war extrem arrogant, der kleine Bastard.“ „Sie nutzen es als Waffe. Das hatte mein Vater befürchtet. Also komme ich zu spät. Lorentz hat die Null-Wellen entdeckt.“ „Wer ist Lorentz?“ fragte Josef. „Meine Mutter hat mir immer vom Mann mit den Fäden erzählt. Der, der die ganze Welt steuert wie eine Marionette. Vater hat ihn gefunden. In einer Villa auf Rügen- und das Einzige was er erfahren hat, ist, dass Lorentz so heißt wie er heißt und dass er ganz Europa in der Hand hält.“ Josef grinste: „Dann wissen wir auch, wen wir als erstes ausschalten müssen.“ 

Es war ein heißer Tag und an der Grenze hatte man sich zur Ruhe gelegt. Es gab Limonade für die Regimenter- Wissenschaftler und Soldaten saßen im Schatten herum, als ein gewaltiger Windstoß den Staub der Garnison aufwirbelte. Jeder Anwesende schaute verdutzt, als unangekündigter Besuch in der Kaserne erschien. Ein Transportjet von GOLD landete im Hof, das Riad-Regiment war zurückgekehrt. Auf einmal herrschte Hektik: Krankentragen wurden herbeigezerrt, ein hoch dekorierter General stand bereit zur Berichtaufnahme. Das alles beobachtete Lukas aus dem Fenster des Jets. Neben ihm saß ein junger Mann, dessen strohblonde Haare wild von seinem Kopf abstanden. Er trug einen blauen Anzug, welcher wenig mit Kampf zu tun zu haben schien. Die ganze Fahrt über hatte er Lukas argwöhnisch beobachtet. Obwohl dieser das nicht verstand, denn Lukas machte sich um ihn viel mehr Sorgen: sein Extensio ging über beide Augen und endete erst kurz vor den Augenhöhlen. Gespräche darüber vermied er mit einem, wie er sagte, Level 4. Was das hieß, wusste Lukas nicht. Aber es klang abwertend. 

Julian Vermont verschluckte sich fast an seinem Kaffee, als Eva hereinstürmte. „Julian! Sie haben einen Autodidakten gefunden!“ „Einen was?“ fragte er irritiert. „Jemand, der sich Null-Wellen selber beigebracht hat!“ Jetzt sah Julian erstaunt auf: „Wie bitte? Das kann nicht sein.“ Eva erwiderte: „Sie haben ihn außerhalb der Mauer, in der Nähe Riads aufgegriffen. Ein junger Mann, Anfang 20 Jahre alt.“ „Bin ich hier bei versteckte Kamera oder so? Es gibt keine Auto…“ „Komm jetzt!“ fauchte Eva nur und Julian folgte ihr stirnrunzelnd.

01101

„Jede neue Bekanntschaft zerlegt uns und setzt uns neu zusammen. Ist sie von der größten Bedeutung, so machen wir eine Regeneration durch.“ -Hugo von Hofmannsthal

Doktor Vermont wirkte deutlich reifer als vor zehn Jahren, merkte Lukas gedanklich an. Der Raum, in den er Lukas führte, war mit dunklem Holz ausgekleidet. Weicher Teppich bedeckte den Boden, Vermonts Villa in Liebigshain konnte sich durchaus sehen lassen, er war zu Geld gekommen durch die Null-Wellen. Eva war draußen geblieben, warum, wusste Lukas nicht. Der Raum war eine Art Bibliothek, auf dem Lesetisch lag ein aufgeschlagenes Buch: der Kategorische Imperativ. Kant. „Was ist das für ein Buch?“fragte Lukas unschuldig. „Es handelt sich um Ethik. Verboten innerhalb der Mauer.“ „Wie kann man Ethik verbieten?“ Der Doktor zuckte mit den Schultern: „Es wird einfach nicht im Laden angeboten.“ Lukas nickte: „Macht Sinn.“ „So, aber reden wir über wichtige Dinge. Ich habe eine Aufgabe für dich.“ Vermont sah verändert aus. Seine Iris schillerte seltsam ölig. Außerdem bemerkte Lukas extrem starke Null-Wellen, welche sich im Raum um den Biologen ausbreiteten. Er wurde fremdgesteuert. „Julian? Wer steckt hinter dir?“ „Wie meinst du das?“ lachte Vermont. „Sie sind nicht Vermont. Ich spüre die Fremdsteuerung.“ Der Mann lachte: „Richtig. Es gab noch nie einen Doktor Vermont. Aber ich kann mich so nicht zeigen, das wirst du irgendwann verstehen.“ Lukas blieb hartnäckig: „Wer sind Sie also?“ „Alles zu seiner Zeit. Wie gesagt, eine Aufgabe. Du musst beide Widerstandsgruppen vereinen. Eine wird durch Josef Kaiser angeführt, die andere durch mich. Also durch Vermont. Es ist verwirrend, nicht in seinem Körper zu sein. Owls Ministry, eine Gruppe von Wissenschaftlern hört auf Julian Vermont. Und der Widerstand hört auf Kaiser, lauter plan- und waffenlose Militärs, die eigentlich nur Revolution wollen um was anderes zu machen als den ganzen Tag lang Araber zu metzeln.“ Lukas runzelte die Stirn:„Klingt ja super.“ „Ja, es macht mir auch keinen Spaß zuzusehen, wie sie den Karren vor die Wand fahren. Tatsache ist, Owls Ministry ist ein Haufen Wissenschaftler, die das Ganze zu ihrem Teekränzchen machen. Ohne Professor Goldstein, welcher mittlerweile tot ist, passiert hier gar nichts und langsam bin ich am Ende. Nur wenn alle Revolutionäre zusammenarbeiten, werden wir etwas verändern.“ Vermont hatte sich dem Fenster zugedreht, Berlin sah wunderbar aus im morgendlichen Licht. Das viele Glas brach das Licht der Sonne und verteilte Regenbögen über der Hauptstadt. Ein Projekt der Kunst- und Architektur- Hochschule hatte die Dächer der Stadt so ausbauen lassen, dass dieser Effekt entstand. „Weißt du, manchmal denke ich, dass diese Leute nichts Besseres verdient haben, als das gläserne, nach Rosen und Verwesung duftende Paradies welches wir ihnen geschaffen haben.“ Lukas wollte etwas fragen, doch Julian fügte hinzu: „Geh jetzt. Es liegt viel Arbeit vor dir.“ 

Lukas‘ Körper kribbelte und auf einmal saß er wieder im Zug neben Josef. „Was war das?“ fragte er verwundert. „Du bist eingeschlafen. Wir sind gleich in Wien.“ Lukas schüttelte seinen Kopf, er war sich sicher, das grade eben war kein Traum gewesen. 

Rasend näherte sich der Zug der Hauptstadt Österreichs. Während Berlin die Wissenschaftsstadt war, hatte sich Wien zum Zentrum für Künstler und Schauspieler entwickelt. Diese Leute sahen es als Lebensziel, möglichst langsam zu leben. Jeder besaß ein Atelier, es gab Partys und Clubs ohne Ende und keine Verpflichtungen. Kurzum, kein Ort für einen Soldaten. ‚Wo die Liebe einen hintreibt, nicht wahr?‘ dachte Lukas und musste schmunzeln. Kaiser war so ein harter Bursche und dann hatte Lukas diesen Paul in seinen Gedanken entdeckt. Plötzlich stutzte er: „Josef?“ „Hm?“ sagte dieser verträumt, den Blick auf Wien gerichtet. „Sag mal, warum machen wir das hier noch mal?“ Er sah den Soldaten an. „Paul und ich sollten dich doch adoptieren?…“ „Nein, ich meine den Widerstand. Wogegen rebellieren wir eigentlich? Ich meine, mein Vater erzählte von einem Plan, aber…“ „Diese Regierung, Junge. Deine Mutter kam an die Wahrheit. Deshalb wurde von mir verlangt, sie zu töten. Die Regierung vergiftet die Menschen, lässt sie in friedlichem Trab leben, anstatt ihnen zu helfen. Sie sind glücklich, aber gleichzeitig weit von wahrem Glück entfernt.“ Lukas nickte: „Irgendwie ergibt das Sinn. Aber ist das mein Kampf hier oder deiner?“ „Es ist jedermanns Kampf“ schloss Josef, dann stand er auf. Der Koffer, der über seinem Kopf verstaut war enthielt die paar spärlichen Kleider, die sie Lukas gekauft hatten. „Komm, ich will dich bei dem Gedränge nicht verlieren.“ Lukas sah was er meinte: dicht gedrängt standen Menschen am Zug, schubsten sich gegenseitig und drängelten, wahrscheinlich auf Geliebte, Familie oder Freunde wartend. Mittendurch schritt Josef, teilte biblisch die Menschenmenge vor sich. Lukas schaffte es irgendwie, nicht erdrückt zu werden. Doch es fiel ihm auf, wie die Menschen ihn respektvoll, ängstlich oder verächtlich ansahen. Das Extensio zog alle Blicke auf sich. Bald ließen sie die Menge hinter sich. Lukas erkannte Paul noch vor Josef. Eine Spur seines Geruchs lag in der Luft, für Lukas so deutlich wie ein Stahlseil zu erkennen. Der relativ kleine Mann stand an eine Wand des Bahnhofs gelehnt da, er sah aus wie in Josefs Kopf: kurze, weißblonde Haare, ein spitzes Gesicht und schicke Kleider. Er trug ein weinrotes Hemd, darüber eine weiße Weste und eine ebenso weiße Hose. In Berlin hätte er ausgesehen wie ein bunter Hund, aber hier trug jeder so seltsame Dinge, dass Paul in der Menge unterzugehen schien. Josef lief zwei Schritt schneller, als er Paul sah, so dass Lukas sich anstrengen musste, hinterher zu kommen. Die beiden Männer fielen sich um den Hals und küssten sich, während sich Lukas in den Menschenmassen umsah. Irgendwoher spürte er einen Fluss an Wellen. Er schloss die Augen, spürte die Teilchen um sich herum, verfolgte die Ursache der Schwingung und versuchte sie zurückzuverfolgen. „Wollen wir?“ fragte da Josefs und riss Lukas vollkommen aus seinen Gedanken. Lukas schüttelte sich und öffnete die Augen: „Klar. Gehen wir.“ 

Pauls Wohnung lag im Dachgeschoss eines sehr hohen Hauses. Er schien einer der wenigen Menschen zu sein, die in Wien etwas erreicht hatten. Lukas staunte: „Sag mal Paul, was machst du eigentlich?“ Verdutzt sah der Mann ihn an, dann antwortete er zögerlich: „Ich packe die Koffer aus.“ „Nein, beruflich meine ich! Deine Wohnung ist riesig.“ Nun sah sich auch Paul in seiner Wohnung um, als würde er sie zum ersten Mal sehen und lächelte: „Ich bin Modedesigner.“ ‚Das macht Sinn‘, dachte Lukas. Mode war das Gebiet, auf dem er wirklich niemanden kannte. Paul konnte weltbekannt sein, naja, europaweit und Lukas hätte ihn nicht erkannt. Die Wohnung auf jeden Fall sah aus wie die eines Millionärs: quasi alles vom Fußboden angefangen, bestand aus Glas. Von außen verspiegelt, wie Lukas durch Spektralanalyse erkannte. Wie intelligent. „Hier ist das Gästezimmer, Lukas“ verkündete Josef, als er eine Tür im Boden öffnete. „Warum im Boden?“ fragte der Jüngere. „Jedes unserer Zimmer befindet sich von hier aus im Boden.“ Josef zeigte auf einige Stellen, an welchen das Parkett dunkler war. „Dort ist das Bad, unser Schlafzimmer und dort die Küche.“ Lukas grinste in sich hinein. Das meinte also seine Mutter immer, wenn sie gesagt hatte. dass die Wiener immer eine Lösung für ein nicht existierendes Problem hätten.

01110

„Einsamkeit ist die Schule der Weisheit.“ -Deutsches Sprichwort

Als Lukas sich ins Bett legte, fühlte er sich seltsam. Es fiel ihm plötzlich auf, dass er seit einer langen Zeit nicht mehr geschlafen hatte. In den Bergen irgendwie nie. Eine Stunde, zwei Stunden, vielleicht sogar drei Stunden lag er da und versuchte sich ans Schlafen zu erinnern. Dann stand er langsam auf. Wien vor seinem Fenster strahlte in der Nacht. Natürlich. Jetzt waren sogar mehr Menschen auf der Straße zu sehen als am Tage. Hektisch liefen sie wie Ameisen auf allen Wegen, in allen Winkeln der Stadt herum. Langsam kletterte Lukas nach oben aus der Luke und ging durch die Wohnung. Leise öffnete er die Wohnungstür und schlich hinaus. 

Kaum, dass er auf der Straße stand, spürte er Null-Wellen. Die selben, ruhigen aber dennoch kräftigen Ströme, welche er am Tage gespürt hatte. Langsam ging er los, durch das nächtliche Wien. Er verfolgte die Wellen zurück, bis er wieder am Bahnhof stand. Zu dieser Zeit schien dies das einzige Gebäude zu sein, welches nicht vor Leben überquoll. Einige Leute sahen ihn komisch an, als er die Treppen nach unten in das Gebäude hineinstieg und er sah sofort warum: in den Ecken lagen Penner und anderes Gesocks, eine junge Frau schien gerade eine Spritze vorzubereiten, er sah zwei Prostituierte, welche anscheinend gerade Pause machten, in ihren Fellmänteln und Leggings auf einem Treppenabsatz sitzen, da auf der nächsten Bank ein Mann mittleren Alters lag, welcher von Glasflaschen umgeben war. Der alte, staubige Putz der Innenräume sah leicht heruntergekommen aus und auch wenn er noch hielt, wusste Lukas, dass in ein paar Jahren der Bahnhof noch schlimmer aussehen würde, würde man sich nicht um ihn kümmern. Die Wellen zerrten Lukas weiter hinein in Tiefen, welche wie ein Schlund offen lagen. Dieses Gebäude war am Tage so anders als jetzt in der Dunkelheit, Lukas hatte schon fast Angst. Er lief an den Bahnsteigen 25 bis 1 vorüber, doch nirgendwo führten die Wellen hin. Immer weiter geradeaus, den langen Gang entlang. Vorbei an Geschäften, Backstuben und Zigarettenautomaten, welche erst am Morgen wieder ihren gewohnten Glanz erhalten würden. Am Ende des Ganges befand sich eine schwarz glänzende Metalltür in der Wand. Der Bahnhof war alt, doch diese Tür sah neu und modern aus. Und sie vibrierte leicht. Von irgendwoher hörte Lukas leise Jazz. Langsam fasste er an das kalte Metall, welches unter seiner Hand hin und her schwang. Konzentriert fasste er den Griff und drückte ihn nach unten. 

„Lukas? Hey, Lukas!“ Hastig schlug er die Augen auf. Er lag im Bett, unter seiner Decke. Paul sah durch die Luke in der Decke hinein. „Es gibt Frühstück, Langschläfer“ lachte er. Lukas nickte nur, und stellte einen Fuß aus dem Bett. Er setzte sich auf die Kante seines Bettes und legte den Kopf in seine Hände. War das real gewesen? War er wirklich im Bahnhof gewesen? Doch schnell, wie es bei Träumen meist passiert, hatte Lukas es vergessen. Gut gelaunt stieg er die Treppe nach oben.

„Lukas, wir hatten eine Idee“ verkündete Josef. „Es gibt in München eine Akademie für Menschen wie dich. Wir dachten, dass es ganz interessant sein könnte, dich dort hin zu schicken.“ Lukas dachte nach und köpfte ein Ei: „Tatsächlich. Eine gute Idee. Dann werde ich sehen, wie stark die Esper dort sind.“ Eine kurze, peinliche Stille entstand, die von Paul durchbrochen wurde: „Ähm, ja. Lukas hör mal zu. Am besten wäre es, nicht aufzufallen. Ich hab gehört, dass du heut Nacht im Bahnhof warst. Ich weiß nicht was du dort wolltest, aber dort treiben sich schlimme Menschen herum.“ „Das hab ich gesehen“ entgegnete Lukas: “ Aber es war interessant.“ „Ich wollte dich nur warnen“ unterbrach Paul Lukas energisch: „So wie Josef mir das erklärt hat, hängt das Schicksal dieser Revolution von dir ab.“

Als Lukas das Haus verließ, wurde ihm wieder einmal bewusst, dass er sich jetzt in Wien befand. Die einzigen Menschen auf der Straße waren Jugendliche und Kinder auf dem Weg zur Schule. Er schloss sich diesen an, da Paul ihm eine Wegbeschreibung zur Esperschule gegeben hatte. Die Schule lag nicht in der Stadt, also musste er zu einer Haltestelle der Bahn. Ironischerweise lag diese genau vor einer normalen Schule, auf deren Schulhof schon einige Kinder standen. Die paar Jungen und Mädchen, die auf die Bahn warteten, würdigten die normalen Menschen keines Blickes. Lukas wurde kurz angestarrt, dann redeten die Kinder weiter in kleinen Gruppen. Der wahre Punk ging erst los, als Lukas mit in die Bahn einstieg. Die Leute begannen zu tuscheln und machten Kommentare über Lukas, was ihn jedoch vollkommen kalt ließ. Sie waren noch Kinder, doch ihr Extensio reichte über beide Augen. Noch mehr Energie und sie würden erblinden, und schließlich sterben. So hatte sein Vater es Lukas gelehrt. Doch diese Menschen wussten offensichtlich nicht, mit was sie es zu tun hatten. Militärisch waren ihre Gedanken, die Lukas sporadisch aufschnappte. Sie dachten an Krieg und Tod, ihre Kraft und den Kampf. Keinen Gedanken verschwendeten sie daran, für das Gute zu kämpfen wie ein Jedi- Ritter aus Krieg der Sterne. Sie waren nicht mal böse und eigennützig wie die Sith, sie waren einfach nur Drohnen. 

Die Esperschule war beeindruckend anzusehen: ein hohes, weißes Gebäude mit einer Art Pfeil- Symbol über der Tür. Anscheinend hatte die Regierung schnell gehandelt, nachdem die Null- Wellen entdeckt und kontrolliert wurden. GOLD brauchte Einheiten, die mit einer Handbewegung einen Wolkenkratzer einstürzen ließen, keine intelligenten oder menschlichen Soldaten. Und genau so sahen die Kinder aus, die mit Lukas aus der Bahn stiegen. Manche noch voller Leben, andere wiederum überarbeitet, müde und doch patriotisch. Auf dem Schulhof wurde er direkt von einem Erwachsenen angesprochen, der wahrscheinlich ein Lehrer war: „Herr…?“ Lukas überlegte kurz, dann fiel ihm Josefs Adoptions- Geschichte wieder ein: „Kaiser.“ „Ja, Herr Kaiser, mein Name ist Professor Ehrenfeld. Also, Sie denken Sie sind… Autodidakt, richtig?“ „Nun, ich denke das nicht. Ich bin einer.“ „Hm, richtig.“ Der Ältere machte einige Notizen auf seinem Tablet und forderte Lukas dann auf: „Würden Sie mir bitte folgen?“ Lukas nickte nur, sagte aber nichts. Der Mann ging vor und öffnete mit seinem Handabdruck die Tür einer großen Halle. „Dies ist die Trainingshalle. Ich möchte, dass Sie mir Ihre Kraft zeigen.“ Lukas lächelte. Das wird ein Spaß, dachte er. 

„Unangepasst. Könnten wir uns…“ Doktor Vermont konnte sich keinerlei Gehör verschaffen. Er schüttelte den Kopf, dann drang seine Stimme mit Gewalt durch den Raum: „RUHE.“ Schlagartig war es still. „In der Owls Ministry gibt es keine Disziplin mehr. Ich werde dieses Projekt aufgeben, es steht zu viel auf dem Spiel für so einen Quatsch!“ „Dann werden wir wenigstens nicht mehr von einem Kind herumkommandiert!“ kam eine besonders ambitionierte Antwort. Julian antwortete seelenruhig: „Ohne mich seid ihr verloren. Das wisst ihr.“ Darauf wurde nichts gesagt. Julian fuhr fort: „Wir werden uns langsam mal bewegen müssen. Während wir hier reden, wird mit jeder Minute der Widerstand beim Militär stärker. Ich habe für heute einen Termin mit dem Sprecher der Aufständischen.“ Nun wurde Julian nicht mehr gelangweilt, sondern verwundert angestarrt. „Im Gegensatz zu euch habe ich gearbeitet in den letzten Wochen. Ich möchte nur, dass, wenn wir die Regierung übernehmen, sofort ein System da ist. Wir brauchen einen Rechtsstaat, eine Verfassung, ein Wirtschaftssystem, ein Bildungssystem und so weiter. Also, an die Arbeit. Das Schicksal wartet auf niemanden.“

01111

„Der Tod kommt ungeladen.“ -Deutsches Sprichwort

Voller Erwartungen stieg Josef Kaiser in den Zug nach Berlin. Paul war natürlich enttäuscht von seiner Abreise, doch er würde ja bald zurück sein. Im Zug saßen schon einige Leute, die den Riesen etwas anstarrten, aber schnell wieder in gelangweilte Normalität verfielen. Er setzte sich in ein Abteil und winkte noch einmal Paul auf dem Bahnsteig zu, bevor er von der vorbeieilenden Landschaft abgelöst wurde. Wien flog in Sekundenschnelle davon, Dörfer und Städte waren nur graue Schlieren auf der Scheibe neben Josef. Auf einer Anzeige sah er die Momentangeschwindigkeit des Zuges: 430km/h. Hier drin merkte man gar nichts. Es war windstill und leise. Deshalb nahm Josef das Knacken des Bodens unter ihm überdeutlich wahr. „Verdammte…“ sagte er noch, als er aus dem Fenster sah und die Landschaft schräg vorbeiflog, bis sein Blickfeld schwarz wurde.

Lukas stand in mitten der Zielscheiben und Testpuppen, welche leichte Brandspuren aufwiesen. Er spürte den gehässigen Blick des Lehrers im Rücken, als er in die Luft griff. Der Strom der Wellen um seine Hand verdichtete sich und die Zielscheibe zersprang unter hohem Druck. Jetzt schaute der Lehrer verblüfft. Lukas erhob beide Hände und vier Puppen am Rande des Raumes erhoben sich in die Luft und knallten wieder auf den Boden, wobei sie sich in ungünstige Positionen verrenkten. Lukas drehte sich herum und sah den Lehrer, dessen Finger jetzt auf einem kleinen roten Kopf lag. „Stop.“ Lukas‘ Stimme drang in den Kopf des Mannes und sein Finger erstarrte in der Luft. „Lass das. Du sagst mir jetzt alles, was du über Null- Wellen und ihre Beherrschung weißt.“ 

6:30 Uhr in der Frühe kam der Hausmeister der Esperschule mal wieder betrunken zur Arbeit. Er sah nicht die Fehlermeldung des Computers, die anzeigte, dass der Alarm in der Trainingshalle ausgefallen war. 

Um 11:00 Uhr ging im allgemeinen Bauamt Wien eine Order ein, sofort mit dem Abriss und anschließenden Neubau der Esperschule zu beginnen. Wie sie auf den Schreibtisch des Abteilungsleiters gekommen war, wusste niemand so richtig. Doch dem Leiter war das egal. Seine Frau hatte die Kinder geschnappt und war zu einer Cousine gezogen und er hatte Angst um seine Familie. Der Kaffee schmeckte scheußlich, er brauchte dringend Urlaub, aber der Job machte sich nicht von selbst. „Wankelmütig ist die Leitung schon wieder“ murmelte er in seinen Bart, als er die sofortige Sprengung der Trainingshalle anordnete. 

Genau 11:10 Uhr Ortszeit schloss Fräulein Müller- Hagen in der Schule für Esper die Fenster des Klassenzimmers und löste einen Bombenalarm aus. Die Evakuierung des Gebäudes fand sofort statt. Später wird sie angeben, sich aus Versehen gegen den Schalter gelehnt zu haben. 

Um 11:15 Uhr startete in der Basis Trier ein C20- Bomber. Der Pilot fragte gar nicht nach, warum eine normale Halle mit einer Bombe gesprengt werden sollte. Die Order war erschienen, er hatte sie auszuführen. Weil er bereits den zehnten Einsatz des Tages flog, hatte er keine Lust mehr. Er wollte nach Hause, die Terroristen hatten seit dem Morgen nur Ärger gemacht und die Militärführung hatte Bomben als Disziplinarmaßnahme über Saudi- Arabien regnen lassen. Lustlos kündigte er über seinen Funk an: „Bombe gelöst. Detonation in T-10″ und lenkte seinen Flieger wieder in Richtung Basis Trier. 

11:20:10 Uhr starben Lukas Simony und Professor Ehrenfeld in einem Krater in der Nähe von Wien.

10000

„Die Welt zu formen ist keine kleine Aufgabe.“ 

Enrico betrat geduckt das Gewölbe. Es roch seltsam nach Latschenkiefer und Thymian hier unten. Die Decke war rund, wie bei einem Weinkeller und alles Interieur sah unglaublich teuer aus. In der Mitte des Raumes stand ein Mann mittleren Alters, welcher sich gerade einen Rotwein einschenkte. Was Enrico außerdem wahrnahm, war die extreme Stärke an Null- Wellen, welche durch den Raum floss. Der Mann hatte kurze, dunkelblonde Haare, grün stechend leuchtende Augen und trug ein verschmitztes Grinsen zur Schau. „Guten Tag Enrico. Doktor Enrico Simony. So viel von Ihnen gehört.“ Er streckte die Hand nach Enrico aus. Als er sie ergriff, fühlte Enrico die enorme Gewalt an Wellen, die ihm entgegen schlug. „Warum verkleidest du dich?“ fragte er. Der Mann lachte: „Ich bitte dich. Erstens ist das Extensio unglaublich hässlich und zweitens ist eine Leiche, welche sich durch ihre Macht am Leben klammert auch nicht gerade hübsch. Nein, ich bevorzuge dieses Äußere. Wein?“ Enrico schüttelte den Kopf, nur zu sehen durch die Bewegung des Mantels. Denn ebenso wie der Fremde verbarg Enrico sein Äußeres, nur nicht so geschickt. „Also? Was verschafft mir die Ehre, dich sehen zu dürfen?“ fragte er herausfordernd. Der Mann lachte: „Nun, ich will dich beglückwünschen. Für deinen Platz unter Mächtigen. Deinen Platz in der wahren Regierung.“ „Was meinst du damit, wahre Regierung?“ „Nun ja. Die dort oben spielen mit der Macht wie mit Holz. Sie denken, es braucht lange, ein Volk zu regieren. Einen Zug im Schach zu machen. Das haben sie noch nie verstanden. Wenn ein Gedanke gedacht, ein Zug geplant ist, muss er gemacht werden. Zögerst du, ihn durchzuführen, muss er scheitern. Entweder alles oder nichts. Aber du bist hier, weil du verstehst, wie man Politik macht. Oder nicht?“ Enrico schwieg. Er konnte den Gedanken folgen, aber so richtig gefiel ihm das Ergebnis nicht. „Naja egal“ sagte der Mann hastig und drehte sich mit dem Rücken zu Enrico. Feuer flammte in einer großen, silbernen Feuerschale auf. „Ich habe eine Aufgabe für dich, Enrico. Du hast deinen Sohn gut an den richtigen Platz gelenkt, er tut was er soll.“ „Er tut, was richtig ist.“ Der Fremde lächelte: „Was du für richtig hältst. Er ist noch jung, er denkt, man benutzt Kraft nur zum kämpfen.“ Enrico sah ihn immer noch an: „Pass auf, Hess. Ich weiß nicht, was du mir sagen willst. Aber ich denke, es gefällt mir nicht wirklich.“ „Gut. Wenn das so ist, dann gehe wieder. Und komm zurück, wenn das Spiel für dich ein klares wird. Ich kann hier warten.“ Enrico zögerte, dann verließ er den Raum. Eine Wendeltreppe führte ihn nach oben. 

Hess stand noch immer an der lodernden Feuerschale, starrte kurz in die Flammen, auf die Zeitung vor ihm, in welcher ein dramatisches Zugunglück geschildert wurde, dann hob er die Hand und wischte einmal durch die Luft. Ein Fernseher mit gewaltigen Ausmaßen fuhr hinter der Feuerschale in die Höhe. Auf dem Bildschirm erschien ein jüngerer Mann mit schwarzen, völlig zerzausten Haaren. Seine Augen leuchteten in einem eiskalten Blau, welches die ganze Szene in eisiges Licht tauchte. „Und? Dein Schützling ist nicht bereit, oder?“ fragte er gehässig. Hess erwiderte schmunzelnd; „Komm du nur, du Haudegen. Das Spiel ist noch nicht vorbei.“ „Ich sehe, du genießt wahrlich deine Dekadenz, alter Freund“ lächelte nun auch der Andere. „Und du? Lorenz! Dass ich nicht lache! Du versteckst dich hinter Anonymität.“ „Und du versteckst dich geografisch“ konterte Lorenz. „Richtig. Also? Was wird dein nächster Zug sein?“ „Du kennst mich, Hess. Ich brauche länger für einen Zug.“ „Dafür hat der es dann in sich. Wie die beiden mit Kaiser und…“ „Sag es ruhig. Dafür, dass er für dich nur ein „Werkzeug“ war, lag dir Lukas am Herzen.“ Hess trank einen Schluck Rotwein: „Er hatte Potential. Sagen wir es so.“ „In etwa so viel wie sein Vater. Du wünscht dir, das Spiel zu erweitern. Wie immer. Doch es muss scheitern.“ Hess nickte, sagte aber nichts. „Also. Geht das ewige Spiel so weiter. Die Mühle mahlt in einem fort.“ „Ja. Das tut sie“ grinste der Mann im Monitor. Hess schüttelte den Kopf: „Aber ich muss sagen, deine Regierung scheint nicht allzu gut zu sein. Ich meine, ich konnte so einfach einen Widerstand errichten, trotz unseres Systems.“ „Dann testen wir halt was anderes. Aber irgendwann wird es funktionieren. Hab da mal keine Angst.“ Hess lachte, und der Mann im gewaltigen Fernseher grinste leicht. „Hoffen wir, du hast recht, Herrmann. Hoffen wir es.“

Die Ewigkeit (Epilog)

Erschöpft schleppte sich die hagere Gestalt in einen langen und hohen Raum. Es war das zweite Mal, dass Enricos Augen über diese Szene strichen. Runde Tische säumten die Seiten, die glänzenden Kronleuchter und die golden geschmückte Bühne gestalteten den Raum aus. Auf einem Altar lag die Bibel mit einem Rosenbündel darauf. Langsam ging Enrico darauf zu. Er stellte sich vor den Altar, schloss seine blinden, physischen Augen und blickte an der vierten Dimension nach hinten. Er sah eine junge, blonde Frau in einem weißen Hochzeitskleid auf ihn zukommen, als das Glas hinter ihm splitterte. Eine Träne rann aus dem verschlossenen Auge, als Enrico den Blick wieder in die Gegenwart richtete. Er lenkte Null- Wellen an sich,ließ sie in sich entlang fließen, sie waren überall. Die Explosion in seinem Inneren spürte Enrico nicht mehr. Er sah auch nicht mehr den  Mann im weißen Laborkittel mit den grün strahlenden Augen, welcher den Raum betrat. Hess sah sich einmal um, schüttelte den Kopf und ging entspannt nach draußen. 

Das Nächste was Enrico sah, war eine Rezeption. Ein Mann mit zerzausten Haaren saß dahinter. „Pffff… wen haben wir hier? Simony, Enrico. Das 23te mal. Nun ja, finden wir einen Platz.“

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Graue Welt

Er schraubt seinen Füller auf, nimmt die leere Patrone heraus, schneidet sie auf und entnimmt ihr fast professionell die kleine Glaskugel. Bis heute ist ihm unklar, was sie darin eigentlich verloren hat. Sie gleitet durch die Rillen auf seiner Handfläche und verliert immer mehr und mehr ihre nachtblaue Farbe, bis sie schlussendlich fast durchsichtig ist. Nachdem sie dreimal auf- und abgesprungen ist, rollt sie nun in einer leichten Rechtskurve auf die Tischkante zu. Es fällt ihm schwer, der flüssigen Bewegung der Kugel zu folgen, denn die zwei Stunden Schlaf, die er letzte Nacht hatte, reichten wie immer nicht aus, um sich auch nur halbwegs auf die Welt um ihn herum zu konzentrieren. Als die Kugel den Abgrund erreicht und kurz davor war, im grauen Nichts des altmodischen Linolbodens zu verschwinden, konnte er sich plötzlich voll und ganz auf sie konzentrieren. „Bin ich diese Kugel?“, fragt er sich. „Habe ich im Lauf meines Lebens all meine Farbe verloren und bin jetzt einer wie alle?“, geht es ihm durch den Kopf. Genauso gut hätte er daran denken können, wie man die Fallgeschwindigkeit oder die Zeit, die die Kugel benötigt, um den Boden zu erreichen, berechnen kann. Doch ist es nicht genau das, was einen grau macht? Ruckartig schießt er unter den Tisch, um die kleine Glaskugel vor dem Verschwinden in der Unendlichkeit zu bewahren. Die ganze Klasse schrickt auf, schaut ihn an und fängt an zu lachen. Er könnte jetzt vor Scham im Boden versinken, doch das Gelächter der Klasse scheint auf eine unsichtbare Wand zu treffen. Als er seine Faust öffnet und sieht, dass er sie gefangen hat, beginnt er zu lächeln.

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Freiheit auf dem Heimweg

Die Bustüren öffnen sich vor ihr. Raus aus dem stickigen Bus. Die Bustüren schließen sich hinter ihr. Sie läuft auf der rechten Straßenseite, neben ihr fließt der kleine Bach, überall liegt Müll. Die armen Forellen, denkt sie. Und dann bleibt sie stehen. Sie hört Kraniche rufen und blickt auf. Sie ziehen über ihr. Mindestens 200 schwarze Striche, weit über ihr. Sie steht mitten auf der Straße, blickt nach oben und dreht sich. Die Kraniche sieht sie nicht mehr. Die Bücher drücken ihr in den Rücken. Im Kopf geht sie die Fächer durch, die sie morgen hat – Englisch, Chemie und Geschichte, dazwischen eine Freistunde. Chemie versteht sie nicht. Sie wäre froh, wenn sie Chemie morgen nicht hätte. Sie kommt an der Litfaßsäule vorbei. Die Theatervorstellung war vor fünf Wochen und der Zirkus ist auch schon länger weg. Sie läuft weiter. Der schwarze Hund mit dem Knick im Ohr bellt sie an und läuft am Holzzaun hin und her. Sie mag diesen Hund nicht. Noch weniger mag sie seinen Besitzer, der trinkt bei der Kirmes und beim Osterfeuer zu viel. Ach, wie sie das hasst. Sie überquert die Straße. Kickt einen Stein in Richtung Bäcker. Das Geöffnet-Schild steht auf dem dreckigen Bürgersteig. Der Geruch von Pferdemist schlägt ihr in die Nase. Sie läuft bergauf am geschlossenen Schlecker vorbei. Dort hat sie sich immer vor der Verkäuferin gegruselt. Die Räume sind leer. Jetzt muss sie 20 Minuten mit dem Fahrrad fahren, um zum Supermarkt zu kommen. Hin ist es leicht, doch bergauf mit dem Einkauf ist anstrengend. Sie liest das „Hier wache ich“- Schild. Der Schäferhund springt laut scheppernd gegen die Gitterstäbe. Sie schreckt leicht auf und verdreht die Augen. Sie läuft weiter. Der Asphalt hat hier drei Risse. Sie biegt links in die Straße ein und vorne beim grün gestrichenen Haus dann rechts. Auf dem Hausdach wächst eine kleine Birke und der Garten ist mit Hagebuttensträuchern übersät. Der Ziergarten ihrer Nachbarn sieht dagegen unecht aus. Die Nachbarin versteht keine Witze und ihr Ehemann schmeißt die faulen Äpfel in ihren Garten.

Sie macht ihre Haustür auf. Die Kraniche rufen fern im Tal. Die Haustür schließt sich hinter ihr.

Cora Berthold

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