Hauptpreis der Ruhlaer Zeitung
Milseburg
In meiner Jugend habe ich
zum ersten Mal
Dich, schöner Berg,
erwandert und erstiegen.
Ich schaut‘ und schaute dazumal
und sah ringsum in großer Zahl
die Berge und die Dörfer liegen.
Ein Felsenberg, so schroff und
wie ein Sarkophag, in sanfter
Landschaft türmt er sich empor.
So manche Sage spann sich Jahr
und Tag, vom Riesen Mils,
der darin begraben lag.
Die Phantasie der Röhner
brachte das hervor.
Dann war ich viele Jahre nah
und doch so fern, denn eine
Grenze trennte unser Land.
Ich träumt hinüber, wäre doch so
gern gewandert unter meinem
guten Stern, hinauf zum Berg,
der mir so wohl bekannt.
Nun hat sich mir der Wunsch
erfüllt und Jahr für Jahr besteig
ich, schöner Berg dich wieder.
Ich wandre, dass sich meine
Sehnsucht stillt und mir der
frische Wind die Schläfen
kühlt und sing‘ mit
Kameraden frohe Lieder.
Gerda Quentel
Ein Lied
„Was pfeifst du da?“, fragt die ältere Frau den kleinen Jungen, der in der Sonne sitzt. In Ruhla, der kleinen Bergstadt, auf dem Marktplatz lässt es sich gut aushalten. Auf den Bänken in der Sonne. Er blinzelt sie an: „Das hat meine Oma immer gesungen – sie kannte es aus ihrer Kindheit. Sie lebt leider nicht mehr und ist bei den Engeln. Immer wenn sie am Wochenende Klöße gemacht hat, hat sie es gesungen. Ich weiß nicht wie es heißt, aber ich pfeife immer es vor mich hin, damit ich es nicht vergesse“.
Die alte Frau ist gerührt. Sie streichelt dem Kleinen übers Haar und geht zurück zu den anderen Leuten, mit denen Sie an der Touristeninformation wartet. Die Reisegruppe macht einen Stopp in der ehemaligen Uhrenstadt Ruhla. Das Uhrenmuseum stand auf dem Plan. Für die Nostalgiker. Oder besser gesagt „Ostalgiker“. Was für eine Fahrt durch die neuen Bundesländer. Spannend irgendwie. So 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Umzug in den Westen hat sich die alte Dame aufgerafft, um nochmal auf den Spuren der alten Tage zu wandeln. Im Bus geht das ja auch ganz bequem. Noch ein Foto, dann geht‘s weiter. Oberhof soll ja jetzt so schön sein. Mal schauen. Sie summt das Liedchen während der Busfahrt vor sich hin. „Wie schön denkt sich der Typ im Anzug. Ganz schnieke sitzt er neben den Älteren im Bus – Marketingrecherchen vor Ort – die Agentur braucht seine Einschätzung zu den Hot-Spots der Bustour. Muss ja sich lohnen, solche Fahrten anzubieten.
Ein paar Tage später zuhause summt er unter der Dusche das kleine Lied. Seine Frau freut sich. „Endlich gute Laune“, denkt sie. Da passt die Flasche Rosé Wein doch super zum gemeinsamen Feierabend.
Am nächsten Tag erzählt sie ihrer besten Freundin von dem romantischen Abend. „Er hat sogar unter der Dusche gesungen und war gut drauf, endlich hatten wir mal wieder eine gute Zeit zu zweit“. „Was hat er denn gesungen?“, fragt die Freundin im Kostüm. Sie fliegt gleich weiter, was für ein Stress. Die Fluglinie plant immer ziemlich eng. San Francisco steht auf dem Plan. Aber von der Stadt hat sie auch nicht so viel – keine Zeit, viel zu teuer und der Flug geht weiter. Das Lied kann die Freundin noch ganz genau nachsummen. Die Frauen umarmen sich. Zum Glück hat es dieses Mal auf ein Käffchen geklappt. Am nächsten Abend sitzt die hübsche Frau im Kostüm in einer Kneipe in Fisherman‘s Wharf, dem bekannten Hafenviertel. Die Seelöwen brüllen am Pier und es gibt leckeren Fisch zum Abendessen. Obwohl alle todmüde sind, wollten die Kollegen noch ausgehen. Die Flugbegleiter sind außer Rand und Band! Na ja, so gut es geht – der Wein war auch wieder so lecker. Da stimmt man glatt eine Liedchen an auf dem Weg ins Hotel. „Was war denn das für ein Song?“, fragt die Kollegin neugierig? „Weiß auch nicht, wo ich den her habe“, lacht die junge Frau zurück. „Was war das nur für ein Lied?“ „Wie schön!“, ruft der Kerl mit der Gitarre ihr zu. Er spielt schon den ganzen Abend. Muss sich ja lohnen, ist echt teuer hier. Er klimpert den Song ein bisschen auf seiner Gitarre. Bevor es morgen per Anhalter Richtung Mexico geht. Da will er ein bisschen chillen. Ist eh viel billiger dort an der Baja California. Und die Mädels sind echt schön da, die kommen zum Feiern dort hin. Denen muss man was bieten. Wie der dunkelhaarigen Schönheit. Wo kam sie nochmal her? Irgendwas mit Singapore? Oder so ähnlich. Aber romantisch sind sie alle. Ist doch schön, so am Strand mit der Gitarre und der Tequila Flasche. Er summt ihr das neue Liedchen vor. „Echt fresh, aus San Francisco. Weiß auch nicht, was ich daraus mache, ich bin da in einer kreativen Findungsphase“, flüstert er. Ihr gefällt es. Für eine Nacht am Strand ist das genau der richtige Soundtrack. Leider geht es morgen schon zurück. Das Jahr in Californien am College ging schnell vorbei. Die Spring Break Party am Beach von Mexico war gleichzeitig die Abschiedsparty von ihrem Austauschjahr in der USA. Mal sehen, wie es nun zuhause weiter geht. Zum Glück gibts ja die Fotos, zur Erinnerung auf ihrem Smartphone. Die schaut sie sich so oft an. Auch vom Strand und dem Typen mit der Gitarre. Hach war das schön und das war doch dieser Song … Sie summt ihn noch in der Bibliothek vor sich hin, dabei muss sie muss echt was schaffen, das Studium ist hart. “Ruhe!“, wird sie ermahnt. Es ist immer so streng hier. Aber man will ja in Ruhe arbeiten. Der Typ von der Bibliotheksausleihe ist genervt. „Muss ausgerechnet hier so ein Krach sein?“ Den Lärm hat er heute Abend noch genug – da arbeitet er noch woanders, in einem Schnellrestaurant. Da geht‘s zackig zur Sache. Hier genießt er die Ruhe schon sehr. Zum Glück wird‘s zu späterer Stunde ruhiger im Fast Food Laden. Da hat er Zeit, in Ruhe aufzuräumen. Nur dieser verrückte Typ sitzt noch in der Ecke. Bestimmt wegen des W-LANs. Aufgrund des Gourmet Essens bestimmt nicht. Er summt vor sich hin: „Wo kam denn diese Melodie bloß her? Ach ja, aus der Bibliothek“, fällt ihm ein. Er summt und putzt und lacht den Reisenden an, der seine Straßenkarte quer über den Tisch ausgebreitet hat. „Kann man ja gar nicht richtig sauber machen“, denkt der Arbeitende. Und er putzt und summt laut vor sich hin – ein Lied. „Wie kurios“, freut sich der Rucksacktourist. „Ist doch was für meine Instagram-Story. So ein Ausschnitt aus dem echten Leben hier. Kommt sicher voll real rüber“. Ein kurzes Clip, und schon ist der summende Putzteufel online. Nur für einen Tag versteht sich, die Story löscht sich nach 24 Stunden wieder. „Krass, schon 200 Leute, die sich das angeschaut haben“. Auch in Moskau. Da geht das W-LAN im Hotel echt gut. Der Kumpel aus Russland besucht gerade eine Hochzeit in der Hauptstadt. Da geht was, vor allem alkoholisch! Mit Wodka im Blut singt sich´s doch gleich viel besser. Auch diesen Song, den er irgendwo gehört hat. Wo war das noch gleich? Ach egal, let‘s have a Party! Da sind auch wieder die Freunde aus Deutschland dabei. „Macht Laune, denen mal zu zeigen, wie richtig gefeiert wird“, freut er sich. Den Wodka nehmen sie mit, die wohnen in Thüringen, in Eisenach. Da war er auch schon zu Besuch, die Wartburg war echt beeindruckend. Genau so beeindruckend wie eine echte russische Hochzeit. Davon kann man sogar den Arbeitskollegen in Eisenach erzählen. „Was für ein Spaß war das! Wir haben getanzt und gesungen bis zum frühen Morgen“, erzählt den Hochzeitsgast den Kollegen. Er summt dazu dieses kleine Lied, das so einprägsam war. „Verrückt“, denkt sich die hübsche Brünette aus dem Büro, “Irgendwo her kenne ich das Lied doch“. Sie summt es mit und vergisst es später wieder. Heute steht ja noch ein Geburtstag an, da muss sie noch nach Ruhla, in diese Bergstadt. Der Neffe wird sieben Jahre alt. Zum Glück hat sie das Geschenk schon gekauft. So eine Actionfigur, keine Ahnung, was das eigentlich genau ist. Und wie er sich darüber freut am Nachmittag. „Das ist richtig cool“, lacht der Kleine. „Hör mal, das hab‘ ich heute an der Arbeit aufgeschnappt, das wird dir gefallen“, sagt die Tante, und summt ihm das kleine Liedchen vor, ein Ständchen der besonderen Art. „Woher kennst du denn Omas Lied?“, fragt der Kleine. „Omas Lied? Ich dachte, das kommt aus Moskau?“. Der Kleine schüttelt den Kopf: „Das kommt doch aus Ruhla, weißt du das denn nicht, wie soll denn ein Lied um die halbe Welt reisen können?“. Er lacht und freut sich über den schönen Tag. Und die Tante summt noch einmal diese besondere Melodie vor sich hin und denk: „Ein Lied – wie soll denn das um die halb Welt reisen? Das ist ja unmöglich“.
Dann geht sie zu den anderen Gästen. Vielleicht singen die ja noch ein bisschen mit.
Franziska Klemm (August 2019)
Himmel
Warum nur bist du männlich?
Wie eine Frau, die anderen gefallen will,
ziehst du dir immer wieder neue Kleider an
aus Schleiern, Spitzenwerk und Pelz.
Das Schmücken brauchst du.
Du Himmel, männlich.
Und manchmal gehst du nackt –
wie heute, schamlos blau und rein…
Du Himmel, männlich.
Am Morgen kleidet dich ein Rosarot,
und geht der Tag vorbei, dann hüllst du dich in Feuerpracht.
Ein Abgesang schnell vor der Nacht…
Du Himmel, männlich.
Du hältst dich nicht an diese Regel,
dass Männer Schwäche zeigen, wenn sie weinen.
Du Himmel, männlich, lässt die Tränen zu.
Mal sacht und dauernd, mal stürmisch aufgewühlt.
Du Himmel, männlich.
Dein Sternenreigen lehrt mich Demut
in einer lauen Sommernacht.
Du Himmel, männlich.
Und bist du Blei, dann liegst du schwer auf meiner Seele,
Du Himmel, männlich.
2019
Ruhla – Momentaufnahmen meiner Heimat
Als Dreizehnhundertfünfundfünzig
Ein neuer deutscher Kaiser thront,
Im Frankenreich der schwarze Prinz nicht
Das Land und nicht die Menschen schont,
Trat eine Siedlung frisch ans Licht
Mit Namen Rolla, klar und schlicht,
Dem Bache gleich, der springt und fließt
Und in den Erbstrom sich ergießt.
Die Köhler waren’s und die Schmiede,
Die diesen Ort gegründet hatten,
Um Holz und Erze, ganz solide,
Zu bergen in des Waldes Schatten.
Und auch des Krieges Wehr, die Waffen,
Wurden ganz meisterhaft geschaffen.
Dann kamen Hirten, kamen Bauern,
Und Wohlstand wuchs in Ruhlas Mauern.
Das Messerschmieden kam zur Blüte
Wie nicht ein zweites Mal im Land,
Den Rühler Schmied mit starker Güte
Graf Ludwig sah mit schwacher Hand
Und wurde hart, so hart wie Eisen,
Dem eigenen Adel zu verheißen
Nie mehr zu sein des Volkes Plage.
Welch‘ guter Stoff für eine Sage!
Doch Einigkeit ist nie von Dauer,
Wenn Trennung dunkel niedersinkt,
Geteilte Länder tragen Trauer,
Da Zwietracht niemals Segen bringt.
Auch Ruhla trug der Spaltung Fron
Und stand zwei Herzögen in Lohn.
Zwei evangel‘sche Kirchen zeugen
Noch heut‘ vom unfreiwill‘gen Beugen.
Das Messerhandwerk ging dahin
Im kleinstaatlichen Walten,
Doch lag darin auch der Beginn,
Um Neues zu entfalten.
Als Kurbad kam die Stadt zu Ruhm,
Bekannt im ganzen Königtum.
Die Forstwirtschaft gedieh zur Ehre
Dank Forstrat Königs Waldmesslehre.
Und auch des Kunsthandwerks Erfahrung
Niemals verging an diesem Ort.
Der Hände und des Geistes Paarung
Sie leben hier auf ewig fort.
Geschnitzter Tabakspfeifen Pracht
Hat Ruhla neue Ehr‘ gebracht.
Der Meerschaum-Pfeifenköpfe Stil
Empfing der Lobgesänge viel.
Hurra! Hurra! Sie alle rufen:
Hurra! Und nie war Lebenslust
So groß. Auf vielen Straßen, Stufen
Sieht man manch‘ stolzgeschwellte Brust.
Denn Stadtrecht wurde heut‘ verkündet
Auf das die Stadt zur Stadt sich findet.
Kurz darauf auch die Teilung endet:
Die Stadt geeint, das Blatt gewendet.
Und weiter ging des Handwerks Streben
Den gold‘nen Boden zu bereiten,
Die Industrie entstand, um Leben
Und Reichtum stetig auszuweiten.
Speziell die Produktion von Uhren
Prägte das Bild in Ruhlas Fluren
Für mehr als hundertzwanzig Jahre.
Das Gott noch länger sie bewahre!
Gegründet Achtzehnzweiundsechzig,
Metallwaren der Brüder Thiel
Verkauften sich ringsum so prächtig,
Dass bald ihr Blick auf Uhren fiel.
Erst kamen Spiel-, dann Taschenuhren
Aus Ruhlas Manufakturen.
Die Stadt, sie wurde weit bekannt
Im Ausland und im Heimatland.
Als erster deutscher Produzent
Baute man Armbanduhren dann,
Erfolgreich bis zu dem Moment,
Als aus dem Nichts ein Krieg begann.
„Was machen wir?“ fragten die Gründer
Und fertigten von da an Zünder.
Ging auch der zweite Krieg verloren:
Die Uhren wurden neu geboren.
War jetzt der Staat ein völlig Neuer
So wie das Produktionssystem,
Es glühte doch das alte Feuer
Im Uhrenbau wie ehedem.
Ganz neu entstand die Uhrfabrik
Durch sie erwuchs auch Ruhlas Glück.
Und lange sonnt‘ im hellsten Glanz sich
Die Uhr Kaliber vierundzwanzig.
Doch Staaten können selbst zerbrechen,
Auch wenn sie lange Zeit nichts merken;
Denn manchmal nur sind‘s eig‘ne Schwächen,
Doch häufig and‘rer Staaten Stärken.
Und brachte Freiheit auch die Wende:
Ging doch manch‘ Gutes hier zu Ende.
Das Uhrenwerk ward liquidiert
In kleine Firmen überführt.
Die Stadt stand wieder vor dem Nichts,
Gezwungen, neu sich zu entdecken.
Sie tat’s entschlossen, angesichts
Zahlreicher wirtschaftlicher Schrecken.
Touristisch fing der Ort jetzt an
Mit mini-a-thür und Rodelbahn.
Als neuster Abschnitt Rühl’scher Dichtung
Entstand die Ferienhaus-Lichtung.
Und blick‘ ich heut‘ aus meinem Zimmer
Auf diese Stadt, voll Zärtlichkeit;
Schau‘, wie sie träumt im Abendschimmer
Von manch‘ großer Vergangenheit.
Seh‘ der Bewohner Ehrlichkeit,
Die mir ans Herz wuchs mit der Zeit.
Dann weiß ich: Mit nur etwas Mut
Wird sicher alles, alles gut.
Dies ist mein Land
Bin weit in meinem Land umhergegangen,
hab Seen gegrüßt und Berge steiler Hänge,
und hab die Sonnenstrahlen für dich eingefangen,
und hab gefühlt: Dies ist mein Land.
Mein Land bist du und bist mein Lied.
Dein Herzschlag geht durch alle meine Jahre,
dein Atem ist der meine,
du, meine Heimat,
meine einzig wahre.
Ich sah die Felder wogen unter reifer Frucht,
und sah die Schiffe fahren schwer von Fracht,
Ich hab für dich der Kinder Lachen mitgebracht,
und hab gefühlt: Dies ist mein Land.
Ich hab der Universitäten Geist erlebt,
und wie der Arbeiter das Wort ergreift.
Und wie die Blume an den Wegesrändern reift;
ich bring sie dir, dir, meinem Land.
Mein Land bist du, und bist mein Lied,
dein Herzschlag geht durch alle meine Jahre.
Dein Atem ist der meine,
du, meine Heimat,
meine einzig wahre.
Christa Schreiber
Patagonien
Ein Reich, das wie kaum ein zweites die Gedanken und Gefühle vieler großer Menschen beflügelt hat. Der Zauber, er ist auch heutzutage noch nicht erloschen – hinein also in die Heimat des Windes, auf also in das Land des Abenteuers, und bis an das Ende der Welt!
Eine ewige Busfahrt brachte mich tiefer in diese verlassenen Ebenen hinein.
Über einen gesamten Tag lang schipperte ich über die berühmte Ruta 40 und einen
Teil ihrer 5301 Kilometer. Hier gibt es nichts mehr, nur die endlosen Weiten
der Patagonischen Steppe. Nie zuvor in meinem Leben, hatte ich solche Horizonte
gesehen. Dieses Land ist so weit … man versteht sofort, wie sich die legendären
Gesetzlosen Butch Cassidy und Sundance Kid hier jahrelang erfolgreich
verstecken konnten. Nur die wilden Guanakos, die Stammform der Lamas,
durchstreifen hier einsam das Gras.
Als Charles Darwin im 19. Jahrhundert die Welt umsegelte, schrieb er:
„Wenn ich mir Bilder aus der Vergangenheit zurückrufe, so bemerke ich, dass die Ebenen von Patagonien häufig vor meinen Augen erscheinen. Warum haben denn nun diese dürren Wüsten sich einen so festen Platz in meinem Gedächtnis errungen? Ich kann diese Empfindungen kaum analysieren. Sie müssen aber die Folge davon sein, dass hier der Einbildung volle Freiheit gegeben ist. Die Ebenen von Patagonien sind ohne Grenzen, denn sie sind kaum zu durchqueren und daher unbekannt. Sie sind dadurch geprägt, dass sie Jahrhunderte lang so bestanden haben, wie sie jetzt sind, und es scheint keine Grenze für ihre Dauer durch künftige Zeiten zu bestehen.“
Tatsächlich sieht hier noch immer herzlich wenig nach moderner Zivilisation aus. Mein Glück war es, zeitlich wieder einmal perfekt unterwegs gewesen zu sein. Im Dezember und Januar ist Patagonien am schönsten – außerhalb dieser hiesigen Sommerzeit, kann man einige Gebiete erst gar nicht erreichen: Wege sind gesperrt, Flüsse nicht passierbar, Fähren außer Betrieb. Ich fand mich im kleinen Dorf El Chaltén ein, welches sich inmitten eines Nationalparks befindet und damit erst recht abseits aller urbanisierten Welt. Der erst 1985 gegründete Ort ist einer der jüngsten ganz Argentiniens und gilt als das Trekkingparadies des Landes. Hier soll es dessen schönste Wanderrouten geben. Für lange Zeit war diese Natur völlig unberührt. Vor gerade einmal 150 Jahren kamen die ersten Pioniere in diese Gegend. Und man erkennt schnell, warum sie blieben: dieses Fleckchen Erde befindet sich in dramatisch kraftvoller Lage; eingebettet von Bergen und Gletschern, durchströmt von den Winden der Wildnis.
Eines der ersten Dinge, die ich beim Betreten des Zimmers meiner rustikalen Herberge sah, war Jon Krakauers Buch In eisige Höhen. Ein Werk, durchtränkt von einer Stärke, wie sie oft nur die innere Notwendigkeit zum Schreiben zu geben vermag. Es musste Zeugnis abgelegt werden, nachdem der Autor als einer von nur Wenigen eine spektakuläre Besteigung des Mount Everest überlebt hatte. Ganz klar bei solcher Lektüre: im Bett neben mir lag ein Abenteurer. Hier versammeln sie sich: die Kletterer, die Bergsteiger und Wanderer; begehen mit Eisschuhen die Gletscher, spannen Laufseile über riesige Abgründe, schlafen wochenlang im Freien. Alles ist auf sie eingestellt – von Läden mit neuester Bergausrüstung bis hin zu zünftigen Hütten der Einkehr.
Viele Routen existieren hier. Heranwagen musste ich mich gleich an eine der anspruchsvollsten, die auf den Namen „Laguna de los tres“ hört. Lange erstreckt sich der Pfad bis zu einer Stelle, an der man dem berühmtesten Berg dieser Gegend von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht: dem Fitz Roy. Benannt nach dem Kapitän der Beagle, eben jenes Schiffes, welches Darwin um die (vornehmlich südamerikanische) Welt brachte. In der Sprache der Tehuelche, der hiesigen Ureinwohner, besitzt er auch den Namen Chaltén: der Rauchende. Tatsächlich ist seine 3406 Meter hohe Spitze meist von Wolken umhüllt.
Der Weg führt vorbei an weißen Flüssen aus trinkbarem Gletscherwasser, durch dichtbewachsene Wälder mit knochigem Totholz, über riesige Lichtungen und Meere aus Gras hinweg, und schließlich hinauf zum Berg. Der Wind läuft zu seiner Höchstform auf; hier ist er ungestört. Insgeheim fragte ich mich oft, wo er wohl gerade herkam: „Weht einem jetzt der Duft der Anden um die Nase, kann man noch salzige Überreste des Stillen Ozeans aus dem Westen wahrnehmen, oder hast du gar eine noch längere Reise hinter dir compañero, und kommst weit von Süden her, aus der Antarktis?“ Selten spricht er, verrät sein Geheimnis fast nie. Freimütiger tritt da die Umgebung mit einem in Kontakt und entfaltet ihre seltsam ehrfurchtgebietende Kraft. Hier sind nicht die Alpen, mit ihrer stillen Harmonie – die Schönheit Patagoniens, sie ist eine raue.
Unterwegs begegnete mir lange Zeit keine Menschenseele, dann wieder stieß ich im Wald gleich auf ein ganzes Zeltlager. Man hatte sich an einer wichtigen Kreuzung niedergelassen, an der verschiedenste Routen zusammenlaufen. Eine Weile blieb ich dort, hatte lange und interessante Gespräche, etwa zu einem Topf Bohnen. Ein kleines Camp der Wandervögel; alle sichtbar glücklich, unter Gleichgesinnten zu sein. Obwohl es nicht sonderlich kalt war, blieb ich kurze Zeit später wie vor Eis erstarrt stehen. Am Horizont war plötzlich eine uralte, archaische Macht der Natur aufgetaucht, die mir ihre Kältewellen von fern zusandte. Mir war, als könnte ich sie direkt auf meiner Haut spüren. Der Gletscher befand sich genau zwischen zwei Bergen, und seltsam graues Gehölz ebnete den Weg zu ihm – als liege dort der Eingang zu einer fremden, gefährlicheren Welt.
Schließlich war ich am Fuße des Berges angekommen. Der letzte Kilometer der Wanderung sollte härter werden, als alle vorherigen. Unbarmherzig, über Geröll und Gestein, immer steil bergauf. Die Inkatreppen, denen ich Monate zuvor in Peru begegnete, waren zwar immer noch härter, doch auch hier kam man wirklich aus der Puste. Jetzt verstand ich, warum dieser Trail auf meiner kleinen Wanderkarte den höchsten der erreichbaren Schwierigkeitsgrade besaß. Oben angekommen, wurde man jedoch für alle Anstrengung entschädigt: Die Gipfel des Fitz Roy-Massivs, welche mit ihrer Schönheit offensichtlich nicht ohne Grund das Werbebild Nummer eins für Patagonien sind. Darunter zwei magische Bergseen, über kleine Wasserfälle vom darüber liegenden Gletscher gespeist; ein Hellblau, wie aus einer Feenwelt.
Noch schlimmer wurde dieser steile Anstieg auf dem Weg hinunter: nicht so anstrengend, doch unglaublich belastend für die Knie. Das bescherte einige Schmerzen und auch die Füße rebellierten bereits seit Längerem. Der Rückweg führte dann lange Zeit entlang eines Berghangs, was wunderbare Ausblicke bescherte und den Geist zur Ruhe brachte. Zur Abenddämmerung kam ich in mein Dorf zurück.
Eine intensive körperliche Erfahrung, doch noch mehr als das. Die Welt der Berge – warum suchen sie die Menschen wieder und wieder auf, besteigen ihre Heiligtümer sogar? Die Antworten, die ich während meiner Reise darauf bekam, waren so verschieden, wie die Menschen hinter ihnen. Einige Dinge brachen jedoch immer wieder durch. Es ist ein elementares Sich-Aussetzen, eine unmaskierte Kontaktaufnahme mit der Natur und mit sich selbst. Manch einer riskiert bewusst sein Leben, und will es doch gerade dadurch, will es gerade dort, auf diesen Gipfeln, wiederfinden.
Sebastian Garbsch