Geschichte

2

Die Geliebte des Nephilim

Eilig umfing die Nadel den Faden und formte ihn zu einer Masche. Jene Stricknadel durchstach freudig in verschiedenen Richtungen die Luft. Masche an Masche reihte sich einander zu einer Jacke. Leuchtende dunkle Augen sahen der unter flinken Händen wachsenden Strickjacke zu. „Weißt du noch, vor einem Jahr, es war an einem Herbsttag wie heute, als ich ebenso wie jetzt an diesem Fenster saß und strickte, sah ich zum ersten Mal Udo.“ Ironisch lächelnd wandte sich das dunkelhaarige Fräulein um, legte die Nadel beiseite und schaute zu ihrer Mutter herüber, welche damit beschäftigt war, eine Zeitung zu lesen. „Eigenartig war es, wie ich Udo kennenlernte. Wenn ich nur daran denke, rieselt mir eisige Kälte durch meinen Körper. Ich möchte gar nicht darüber sprechen, aber irgendetwas zwingt mich dazu. Vielleicht ist es der heutige Tag, der mich daran erinnert? Damals beobachtete ich hinter Scheiben die Straße, die sich vor unserem Haus ausdehnt. Auf dieser selten belebten Straße entstieg ein junger Mann seinem Fahrrad. Plötzlich brach er zusammen. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Gebannt schaute ich zu ihm herunter. Ich fasste mich sofort wieder und eilte so schnell ich es vermöchte die Stufen hinunter zu dem Mann. Er hatte sein Bewusstsein verloren. Hilflos schaute ich mich um. Ein Fremder näherte sich uns. Ich war im Begriff fortzulaufen, um den Krankenwagen zu benachrichtigen, als mir der Fremde zuwinkte und mir zu verstehen gab, er wolle es für mich erledigen. Während der Unbekannte zur nächsten Wirtschaft eilte, sich sogleich telefonisch zu betätigen, schaute ich nieder auf die allen Jammer zeigende Gestalt. Eine rote Flüssigkeit rann aus einer Kopfwunde. Jene gleiche Substanz benetzte in Tropfengebilden einige Steine der Fahrbahn. Blut, warmes lebensspendendes Nass. Gespenstisch gleich einem aus dem Grabe entstiegenem Wesen, wirkte jener unglückliche Mensch. Totenblässe lag auf seinem Antlitz. Dunkle Ränder zogen sich um die Augen. Nur die Schatten des Todes leuchteten, statt einem Augenpaar, aus dem nach Blut schreienden Weiß. Seine Lippen erkannte ich nur undeutlich. Sie unterschieden sich in der Farbe kaum von seinen eingefallenen Wangen. Hellblondes, fast weißes Haar, zog sich oberhalb von der Stirn hinab in den Nacken. Nicht einem Menschen, dem Tod sah ich ins Angesicht. Unwillkürlich musste ich mich abwenden. Ich konnte nicht länger in dieses Abbild des Todes schauen. Ja, so lernte ich Udo kennen, der mir alles bedeuten sollte, was man unter Glück und Liebe verstehen vermag. Er war jener junge Fremde, der dem Kranken beistand. Doch heute kann ich ihn nicht mehr sehen. Seit mehreren Tagen heuchle ich Liebe ihm gegenüber. Und Heuchelei ist das schwerste Verbrechen in meinen Augen, welches ein Mensch je begehen kann!“ Roxana schrie es fast. Ihre Mutter sah sie entsetzt an. In jenem Augenblick öffnete sich die Türe. Udo trat herein und schritt traurigen Angesichts zu Roxana. „Alles habe ich vernommen“, sprach er, „nicht länger sollst du, sich hinter Liebe versteckende, Heuchelei verüben an mir. Leb wohl.“ Mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab und bewegte sich auf Roxanas Mutter zu, sich von ihr für immer zu verabschieden. Bevor er aus dem Zimmer schritt, sah er noch einmal zu seiner verlorenen Geliebten hin. Kaum hörbar entsprangen seine Worte den zitternden Lippen. „Ewig werde ich deiner gedenken, Roxana.“ Dann verließ er sie. Um jenes zu vergessen, welches soeben geschah, wandte sich Roxana fragend an ihre Mutter. „Wo ist Vater? Ich möchte ihn abholen.“

Oheim: „O heuchlerischer Brudermord, schnöden Verrat hast du begangen an dir selbst. Denn jener dort bist du, liegst selber nun im Sand und windest dich in deinem Blute. Gemordet hast du dein Bruder und dir sogleich den Dolch ins Herz gestoßen. Sein Tod bedeutet auch der deine. Ein Leben habt ihr beide nur zusammen. Nun stirb auch du und qualvoll wirst du enden. Das Todesurteil schriebst du dir allein.“

Jüngling: „Wollt ihr mich töten, Oheim, da wo ihr mich aufgezogen, entrisset mich dem Hungertod, wollt Hand an meinem Leben legen?“

Oheim: „Nicht töten will ich dich mein Sohn. Wohl an, es wird geschehen. Doch nicht von meiner Hand. Allein trägst du die Schuld an deinem Tod. Denn der des Bruders, bedeutet auch der deine. Und ich bin machtlos, nicht dir in der Not beizustehen finde ich die Kraft.“

Jüngling: „Verfolgt durch seines Schrittes Hall, bemerkt ich ihn sofort und stürzt mich auf ihn, für immer mich nun seiner zu entledigen. Mir dünkt es eine Ewigkeit, seit er mir folgte Schritt auf Schritt. Mein Glauben war, mein Tod durch seine Hand auszuführen er gedacht. Ein Irrtum war´s. Nun seh ich´s selbst. Sind´s nicht die gleichen Züge wie die meinen, die hell erstrahlen in seinem Antlitz? Verzeih o edler Bruder diesen Mord, den ich verübt an dir. Hinab gesunken auf die Knie, küss ich dir deine bleichen Wangen. Gleich einem Schatten folgtest du mir, geliebter Bruder. Verweilte ich, tat er das gleiche, Oheim. Er sah mich an und nicht ein jegliches Wort kam über seine Lippen. Nur Schweigen war´s. Ansprechen wollt ich ihn, doch Furcht erregte mein Gemüt. Denn Diabolos glaubt ich zu erkennen, der angenommen meine Gestalt. Zur Tat bereit, griff ich zur Waffe, mich des Satans freudig zu entledigen. Nun ist er tot, mein Bruder, den ich gemordet. Nichts wusste ich von seinem Sein, da ich alleine aufgewachsen. Gebrochene Augen schauen mich an und nimmermehr werd ich zur Ruhe kommen.“

Oheim: „Steh auf mein Sohn und folge mir zum Strand. Lass für ein Weilchen ab von deines Bruders seelenloser Hülle. Sieh das Meer, wie es so endlos scheint. Es bäumt sich auf im Kampf gegen des Sturmes wütenden Gesellen. Des Meeres wogen peitschten durch die Nacht, zerschellen an des Ufers steilen Klippen. Dort unten auf dem Meeresgrund, in ewiger Trauer hingesunken, ruht deine Mutter, gefangen im grünen Schoß und ruft mit klagend Stimme ihrer Söhne Namen. Doch dies geschieht jeglichen Monat nur ein einzig Mal.. Heut ist die Nacht, wo sie erwacht aus ihrem Todesschlaf. Nur ruhig, jetzt wollen wir lauschen ihrer lieben Stimme monotoner Klang.“

Mutter: „In heißer Liebe einst entbranntes Herz, verfiel der Sünde ich nach des Erasmus Sinn. Ihm war ich treu ergeben und ewig Liebe schwor er mir sogleich. Allein sie war falsch und falsch war jeder Schwur, den er geleistet. In Schande ließ er mich zurück. Die Zeit verrann. Verloren war jedes Glück. Vertrieben aus des Vaters Haus, zwei Söhne in den Armen, floh ich der Armut und suchte mir den Tod. Ich fand ihn wohl. In seine Arme nahm er mich, trug mich hinauf auf´s Meer. Als ich versank in brausend tosend Wellen, drückt er an seine Brust mich fester und sog den letzten Lebenshauch aus mir in seine Lungen auf. Zurück ließ ich zwei Söhne, die ich geweiht der Sonne und dem Mond. Was weiter dann geschah, bleibt bis auf ewig mir verborgen!“

Jüngling: „Hört ihr die Seufzer aus der klagend Brust, der Mutter, Oheim? Sie ist´s, die schon lang ich leb auf Erden, suche. Und da ich sie gefunden, möchte ich sie seh´n, in meine Arme schließen. Doch seit ihr nicht der Oheim, ward ich nicht aufgezogen von der Sonne, gar dem Mond? Wer immer ihr auch seid, ich liebe euch.“

Oheim: „Als deine Mutter dich verließ und alles Leben auf der Welt, da ward es Nacht. Gewidmet wurdest du der Sonne. Umhegt von Mondesstrahlen wuchs auf dein Bruder. Allein bleibst du zurück. Denn jene, der du anvertraust, sie schlief. Nicht weit von jenem Ort, wo deiner Mutter Lebensbande durch meines Bruders Hand zerrissen, da fand ich dich auf Meereswogen. Vor meinen Augen sah ich einst erstehn wie jedes Leben aus dir gewichen. Ich gab es dir zurück, doch war es nicht das deine. Du wuchsest auf im Leben deines Bruders. Nun ist er tot. Und sterben wirst auch du. Der Irrtum war´s, er mordete euch beide. Ich bin das Leben, doch nimmer werd ich dir ein zweites Mal helfen können.“

Jüngling: „Gibt´s keine Rettung für mein junges Blut? Zu schwach ist das Leben, mir beizustehen in der Not. Noch einmal hört mich an, bevor für immer ich euch nun verlasse. Wenn alles bald vorbei, bringt uns zur Mutter hin. Für ewig soll ihr klagend Herz nun schweigen, so sie empfangen ihrer beiden Söhne wohl entseelten Hüllen. Nur um dies eine bitt ich euch, mein Leben. Schon bricht das Auge, schwinden mir die Sinne. Auf schwarzen Schwingen sich bewegend, seh ich den Tod sich niedersinken und mich umarmen. Schon spür ich eures Bruders eisig Hauch.“

„Was sie mir eben vorlasen, Herr Suitner, zeigt zwar den Poeten, doch ist ihr Stil veraltet. So schrieb man im 16. – auch noch im 18. Jahrhundert. Wir aber leben im Jahre 1896, also im 19. Jahrhundert. Heute will der Mensch etwas anderes lesen.“ „Das glaube ich ihnen nicht. Sie sind zwar ein Schriftsteller und wollen mir bei meinen Dichtungen zu Rate stehen, Aber bei ihrer Kritik bin ich anderer Ansicht. Die Menschen sind verschieden. Der eine liest Romane des heutigen Stiles, der andere dagegen ähnliche Reime sogleich den meinigen.“ „Ihr Stil kann nicht so bleiben. Wie ich bereits sagte, ist er veraltet. Verstehen sie mich bitte nicht falsch, ich möchte ihnen nur helfen.“ Ruhig sprach der Kritiker diese Worte. „O ja, sie möchten mir helfen, ich verzichte darauf. Leben sie wohl, Herr Gibson!“ Wütend sprang Suitner auf. Seine Augen funkelten. Er nahm die Reime, bewegte sich in Richtung Kamin und warf höhnisch lachend seine Werke in die lodernden Flammen. Jäh wurde er in seinem Ausbruch höllischer Gebärden unterbrochen, als die Tür aufflog und Roxana in ihr erschien. Zögernd trat sie ins Zimmer. „Darf ich stören, Vater?“ „Wohl ihre Tochter, Herr Gibson?“ Barsch entfuhr es Suitners Lippen. Roxana sah ihn entsetzt an. Sie erkannte ihn sofort. Ja, er war es, jener Fremde, den sie bewusstlos auf der Straße fand, wo sie erst vor wenigen Stunden der Mutter von ihm erzählte. „Mir gefallen ihre Verse, ich habe sie mir draußen vor der Tür mit angehört. Um sie in ihrer Vorlesung nicht zu stören, hielt ich es für angebracht, nicht herein zu kommen. Ich möchte ihnen helfen. Vielleicht kann ich es sogar.“ Freundlich lächelnd wandte sich Roxana an den Dichter. Er aber stieß sie von sich. Sie landete in den Armen ihres Vaters. Gellendes Lachen erfüllte den kleinen Raum. Er klang ab, als Suitner die Tür hinter sich zuschlug. „Rache für mich“, dachte er, „ich weiß, wo Gibson jeden Tag des Frühs hingeht. Noch heute Abend wird es geschehen.“ Verwirrten Sinnes eilte er laut fluchend die Straße entlang.

Allein, ohne Begleitung ihres Vaters, bewegte sich Roxana im Schein der spärlich, von Straßenlaternen beleuchteten Straße dahin. Gibson arbeitete noch an seinem Roman. Roxana blieb nichts anderes übrig, als ohne seine Anwesenheit nach Hause zu gehen. Ihr Weg führte an einem Friedhof vorbei. Längst begleitete sie das Licht der Straßenbeleuchtung nicht mehr. Der Mond stand mit seinen Gefährtinnen, den Sternen, am Himmel und warf seine Strahlen auf die Erde. Er durfte Roxanas Führer sein. Am Todesacker angekommen, überkam sie die Lust, über ihn hinweg zu wandeln. Schon als Kind liebte sie das Abenteuer. Es reizte sie, ihre Schritte ins Ungewisse zu lenken. Für die meisten jungen Mädchen ihres Alters war der Gottesacker ein gefürchteter grässlicher Ort. Doch für sie sollte das Betreten des Bodens des ewigen Schlafes eine Beruhigung ihrer Abenteuerlust sein. Roxana kannte keine Furcht, aber ein leichtes Gruseln überkam sie doch beim Anblick des gespenstisch wirkenden, vom reflektierenden Mondlicht hervorgehobenem, sie lockenden Totenreich. Unheimlich war ihr die einsam ruhende Welt. Das Grauen von sich schüttelnd, schritt sie leiste zwischen den Gräbern dahin. Langsam zog Roxana ihren Weg an den Ruhestätten vorbei, auf die Leichenhalle zuschreitend. Nur wenige Strahlen des Mondes wendeten die Kraft auf, durch das Dickicht des Dunkels zu dringen, um hin und wieder ein Grab zu beleuchten und ihr den Weg zu weisen. Da sie wusste, wo sich das Häuschen, das ihre Neugierde weckte, befand, wusste Roxana, welche Richtung sie zu gehen hatte. Als sie sich am Ziel meinte, sah ihr die Halle entgegen. Gleich einem Umhang schlossen mehrere Fichten, das Häuschen, welche in den Hintergrund zu fliehen suchten, ein. Nur undeutlich hoben sich Gestrüpp sowie wenige Bäumchen aus dem Dunkel hervor. Von ihrer Neugierde getrieben, wandte sich Roxana furchtlos zur Pforte der Totenstätte. Aber wie erstaunt war sie, als sich die Tür nicht öffnete. Die Pforte verlassend, näherte sie sich den Fichten, die die Leichenhalle im Halbkreis einschlossen. Plötzlich raschelte es hinter ihr. Ein Zittern überkam sie. Sie wandte sich um und meinte, eine helle Gestalt zu erkennen. Sich nicht rührend, starrte sie Roxana an. Langsam schritt Roxana auf sie zu. Näher und näher kam sie dem gespenstischen Wesen, ohne es aus den Augen zu lassen. Nur noch wenige Schritte und sie hatte ihr Ziel erreicht. Die Erscheinung löste sich vor ihren Augen auf. Stattdessen stand Roxana vor dunklem Gestrüpp. Einem Trugbild war die gefolgt. Fiel sie ihren überreizten Nerven zum Opfer? Im Augenblick vernahm sie Geräusche. Vorsichtig schlich sie sich zum Gestrüpp, bog es auseinander und lugte hinter ihm versteckt, durch´s Geäst. Vom Mondlicht überflutet, erkannte sie eine männliche Gestalt, welche sich an einem Grab zu schaffen machte. Roxana traute ihren Augen nicht. Doch deutlich zeichnete der Schein des Mondes seine Gesichtszüge vom Dunkel der Nacht ab. „Suitner“, flüsterte sie, „er ist wahnsinnig geworden.“ Nach wenigen Minuten erkannte Roxana eine zweite Person neben der des Dichters. Sie rieb sich die Augen, um so vielleicht jene Gestalt besser zu erkennen. Hell erstrahlten die Züge im Mondlicht. Roxana überlegte. Irgendwo war sie diesem Gesicht schon einmal begegnet. Aber wo? Ein Schatten huschte über ihr Antlitz. Von ihren Gedanken erschreckt, hätte sie aufgeschrien, wenn sie alleine gewesen wäre. Ja, so war es. Dieses Gesicht spiegelte das Antlitz ihres Vaters jüngerer Schwester wider. Vor einigen Tagen verstarb sie an Lungenentzündung, ohne dieses sie Roxana das letzte Mal schaute. Nun erblickte sie sie, so vor sich, in den Klauen eines Grabschänders. „Er wird sich vergiften“, flüsterte Roxana, „das Leichengift wirkt ich bestimmt schon aus?“ Suitner lehnte den Leichnam an den Grabstein. Sein höhnisches Lachen erklang durch die Nacht. „Mein ist die Rache!“ Jene grässlichen Worte von sich schleudernd, stürzte er davon. „Ich muss Vater warnen, er wird wie immer jeden Morgen, hier erscheinen. Wenn er nun das geschändete Grab seiner Schwester vorfindet und die Leiche…“ Weiter kamen ihre Gedanken nicht.

Tiefste Finsternis, geheimnisvolle ihr noch unbekannte Schwärze umhüllte Roxana. Nein, es war nicht die Nacht, die ihren Schleier ausfaltete und die Schönheit des Lebens zu verbergen suchte. Roxana fiel tiefer und tiefer in das Dunkel, hinab in eine fremde Welt. Sie wollte schreien, sich irgendwo einen Halt suchen. Doch es gab nichts, woran sie sich festklammern, sich emporziehen konnte. Ihre Stimme war wie gelähmt. Keinen Ton brachte sie über ihre Lippen. Sie fiel und fiel. Plötzlich spürte sie einen leichten Druck auf ihrer Schulter. Sie blickte sich um und schaute in das bleiche Antlitz der Verstorbenen. Ihre Tante lächelte sie an. Eilig ergriff sie Roxanas Hand und zog sie, Roxana fest umschlungen, mit hinab in die Tiefe. Fern lag die Welt des Lebens, der Liebe und der Qual. Nah des Vergessen, das ewige Schweigen? Näher, immer näher eilte das Unbekannte Roxana entgegen. Ein paar Arme hoben sich ihr entgegen. Hände packten sie und entrissen sie der Umarmung ihrer Begleiterin. Roxana schaute in die Augen ihres Vaters. Sie blickten seltsam fremd aus totenblassen Gesichtszügen. –

Ein Schrei weckte Roxana aus diesen Unheil verkündeten Traum. Bangen Herzens erhob sie sich von ihrem Lager und eilte gewandt zu dem geschändeten Grab, aus der die ihr bekannte Stimme zu ihr herüber drang und sie erzittern ließ, als sie ihren Vater vor dem Leichnam seiner Schwester liegend fand. Leichenblass, seinen Namen flüsternd, sank Roxana nieder, Weinend umarmte sie ihn, wo sie einen brennenden Kuss auf seiner Stirn zurückließ. Zu ihrem Erstaunen, schlug er die Augen auf. Sogleich huschte über ihr tränenüberströmtes Antlitz ein Lächeln der Freude. „Roxana“, hauchte er „bist du es? Ich sehe dich nicht, Töchterchen. Es ist so dunkel.“ Bei diesen Worten verlor Roxana jeden Funken der Freude, der in ihr einst aufglimmte. „Ja, ich bin es.“ In seiner Stimme klang ein trauriger Unterton. Sie ahnte, was kommen würde und sah bereits in Gedanken den Tod, wie er nach dem Leben des Vaters griff. Mit Mühe verbarg sie ihr Schluchzen. „Roxana, im Bewusstsein des Todes, wo mein Körper zum Fall verurteilt, meinte ich ins Dunkel zu versinken. Es war nicht so. Grelles Licht warf sich mir entgegen, doch blendete es meine Augen nicht. Zarte Musik, wie von Harfen zum Leben erweckter süßer Klang berauschte meine Sinne. Eine Welt der blassesten Farben öffnete sich mir. Schon wollte jene wunderbare Welt mich empfangen, als ich erwachte und das Säuseln des Windes vernahm.“ „Er phantasiert“, dachte Roxana zu ihrem Entsetzen. „Ich erwachte, fragte nach  dir, Töchterchen. Höchste Wonnen des Glücks erfüllte mein Innerstes, da ich deine Stimme…“ Er brach jäh ab. Seine Lungen rangen nach Luft. „Vater, was ist mit dir?“ schrie Roxana in wilder Verzweiflung. Schwer vom Druck des Schmerzes, sank ihr Haupt auf seine tote Brust.

Wochen vergingen. „Liebste Mutter, weine nicht mehr. Vergiss seinen Tod. Wir verloren das Liebste, deinen Mann – meinen Vater. Ich strich ihn aus meinem Gedächtnis. Auch du musst ihn vergessen. Es ist besser so. Sonst wird es für dich kein Glück mehr geben.“ Ruhig sprach jenes Roxana zu ihrer, allen Kummer verfallenen Mutter. Sich von ihr abwendend, bewegte sich Roxana in Richtung des kleinen Tischchens, wo mehrere Zeitungen übereinander fein säuberlich gestapelt lagen. Sie griff nach der obersten. Roxanas Blicke verschlangen Zeile und Zeile. Plötzlich hielt sie im Lesen inne und starrte mit aufgerissenen Augen auf eine Anzeige. „Ich wusste es ja, er wird an Leichengift sterben. Der Tod meines Vaters ist gesühnt.“, flüsterte sie verstört. Jene Zeilen erschreckten sie. Sie verschwammen vor Roxanas Augen. Entsetzliche Bilder der Grabschändung stiegen in ihr auf und erfüllten ihr ganzes Sein mit dem Abbild des Vaters, der einst tot vor ihren Füßen gelegen. Tränen traten ihr in die Augen. Sie musste sie unterdrücken. Nichts sollte ihre Mutter von ihrem Kummer erfahren. „Glaubst du an das ewige Leben?“ „Wie kommst du darauf, Roxana?“ „Ein Bekannter fragte mich dies.“ Roxana musste zur Lüge greifen, um ihre Mutter nicht an des Vaters Tod zu erinnern. War er es doch, der ihr vom ewigen Leben in einer anderen Welt erzählte. Phantasiert hatte ihr Vater, als er davon sprach oder etwa nicht? Roxana war mit sich selbst im Zweifel. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. „Du fragtest mich, ob ich an das Leben jenseits dieser Welt glaube. Ich glaube fest daran. Doch seit gestern Abend hege ich Zweifel darüber. Denn ich sah etwas.“ Roxana unterbrach ihre Mutter in der Rede. „Was sahst du?“ „Unterbrich mich bitte nicht, Töchterchen. Ich erzähle dir von mir und du sprichst dazwischen.“ Böse blickte die Mutter von ihrer Näherei auf. „Also, ich beginne von vorn. Gestern Abend, wenige Minuten nach Mitternacht, legte ich meine Näherei nieder. Obwohl ich keineswegs müde war, hielt ich es für besser, mich schlafen zu legen und öffnete die Türe zum Flur. Hell leuchtete er mir entgegen. Du hattest wohl das Licht brennen lassen?“ „Mag sein. Ich war bereits im Halbschlaf, als ich dich verließ. Und so vergaß ich, es auszulöschen.“, entschuldigte sich Roxana. „Ich trat in den Flur“, begann die Mutter, „ungefähr einen Schritt von mir entfernt, erblickte ich eine, einen schwarzen Umhang und rote Bluse tragende schlanke durchsichtige Männergestalt. Sie strahlte hell. Nicht im Geringsten erschrak ich über die kahlköpfige, doch hübsche Erscheinung. Nur kurz vermochten meine Augen die Gestalt zu schauen. Langsam löste sie sich vor mir auf. Obwohl ich begriff, was ich gesehen, fürchtete ich mich nicht.“ Gespannt lauschte Roxana jenen Worten. Zum wiederholten Male. Meinte sie die Stimme ihres Vaters zu vernehmen, der ihr von einer Welt erzählte, die er geschaut, bevor er verstarb. Mit den Gedanken an ihn, vergrub sie ihr Gesicht in die Hände und weinte leise.

Monate vergingen. Der Frühling zog ins Land und schmückte die Natur mit einem bunten Kleid. An einem Frühlingstag tanzten die Sonnenstrahlen lustig auf den Gräsern einer Waldwiese. Leise vor sich hin singend, tänzelte ein junges Mädchen zwischen ihnen dahin und brach vorsichtig duftende Blumen mit ihren Händen, wo sie sie zu einem Strauß vereinte. „Wie schön ist dieser Tag. Ich möchte dich umarmen, liebe Sonne.“ Ein Lächeln huschte über Roxanas Antlitz und freudig entsprangen jene Worte ihren vollen Lippen. „Umarmen sie lieber mich, Fräulein.“ Leicht schrak Roxana zusammen. Sie wandte sich um und erblickte einen jungen dunkelhaarigen Mann. Hurtig pochte ihr Herz bei seinem Anblick. Ihre Augen erstrahlten im Sonnenschein. „Wie lange sehnte ich mich nach dir, wartete ich auf dich. Ich wusste, du würdest kommen. Oft sah ich dein Gesicht in meinen Träumen“, dachte Roxana. „Ich liebe sie“, flüsterte sein Mund, „viele Tage verfolge ich sie schon und sehe ihnen beim Waldblumen pflücken zu. Auf den ersten Blick keimte in mir die Liebe zu ihnen auf.“ Lachend sprach er dieses und drückte sie an seine Brust. Seine Lippen suchten ihren Mund. „Wie heißt mein Engelskind?“ „Getauft ward ich Roxana und wie ist dein Name?“ Er schaute ihr tief in die dunklen Augen. „Götz“. „Ich muss gehen, meine Mutter wartet auf mich“, hauchte sie. „Wann sehe ich dich wieder, Roxana? Ständig möchte ich bei dir sein, dich in meine Arme schließen.“ „So oft es deine Zeit erlaubt, werden wir uns auf dieser Waldwiese treffen, Geliebter.“ Zärtlich umschlang Roxana seinen Hals. Flammend heiße Küsse benetzten sein Gesicht. „Auf bald, mein Götz.“ Damit entwand sich Roxana seinen Armen und wollte ihm entfliehen. Er aber ergriff ihre Hände. „Morgen um die gleiche Zeit, Roxana, ja?“ „Morgen auf dieser Waldwiese“, formten ihre Lippen. Sie entriss sich ihm, floh über die Wiese und eilte aus dem Wald. Glücklich schaute Götz ihr nach.

Es dunkelte bereits, als Roxana in den Armen von Götz lag. Sie saßen auf der Wiese mitten im Wald und blickten gen Himmel. „Roxana“, begann er zu flüstern, „dort oben müssten wir sein, wir beide allein, ohne anderes Leben.“ „Auf einen fremden Planeten“ seufzte sie, „ich wünschte, ich lebte im 20. Jahrhundert. In der Zeit, wo der Mensch womöglich seine ersten Flüge in das unendliche All wagen wird.“ Sie schmiegte sich an seine Brust. Götz drückte sie an sich und erhob sich, Roxana auf seinen Armen ruhend, vom Grasboden. „Möchtest du mit mir dort leben?“ „Ich liebe dich, nur dich allein. Wo du bist, da werde auch ich sein. Überall hin möchte ich dir folgen. Wenn es sein muss, auch in den Tod“, antwortete sie. „So sehr liebst du mich, Roxana?“ „So sehr“, hauchte sie. „Ich werde dich in die Zukunft führen“, versprach er und begann sich mit ihr langsam im Kreise zu drehen. Ein Wirbel erfasste beide. Als sie zu sich kamen, befanden sie sich auf einer Landstraße. „Wer bist du“ fragend schaute Roxana in seine Augen. Nach langem Schweigen vernahm sie seine Stimme. „Ein dich Liebender“, säuselte er und führte Roxana, von den Sternen begleitet, vom Wege ab in den Wald. „Ohne zu altern, sind wir zig Jahre vorangeschritten in´s 20. Jahrhundert“, begann Götz. „Ich habe Angst. Werden wir wieder zurückkehren?“ „Bald, Roxana.“ Er nahm sie in seine Arme und hauchte einen Kuss auf ihre Lippen. Ihre Wange ruhte an der Seinigen. „Ich liebe dich“, flüsterte er. Roxana spürte seine Hand an ihren Beinen. Sie zuckte zusammen. „Was willst du tun? Lass ab.“ Roxana wehrte sich verzweifelt. Sie entwand sich ihm und wollte fliehen. Er aber ergriff sie erneut. Wilder wurde Roxanas Kampf. „Du liebst mich nicht!“ schrie sie. Götz schien ihre Worte nicht zu beachten. Er begann, sie niederzudrücken.

Ihre letzten Kräfte zusammenraffend, wehrte sie sich gleich einer Besessenen. Es gelang ihr, sich von ihm zu befreien. Sie eilte durch den Wald. Ihr Herz blutete vor Angst. Sie fürchtete sich vor ihm, vor dem Mann, den sie noch immer liebte. Sie wollte fort. Aber wo sollte sie hin? Um wieder nach Hause zu gelangen, war sie auf ihn angewiesen. Vor Schwäche senkte sie ihr Haupt und leise weinte sie vor sich hin. Als sie empor sah, erblickte sie Götz vor sich. Ein Schauer ergriff Roxana. Ihre Lippen bebten. Sie wollte ihm entkommen. Götz jedoch packte sie und hielt sie mit der Last seines Körpers gefangen. Verzweifelter denn je wehrte sich Roxana. Während seine Kräfte wuchsen, ließen ihre nach. In jenem Augenblick, wo sie begriff, dass sie in seiner Gewalt war, wünschte sie sich den Tod. „Das ist keine Liebe“, entgegnete sie schwach. Götz schwieg. „Bitte lass mich los“, flehte sie. Ihr Bitten war umsonst. Er wollte es nicht hören. Sie weinte. Ihre Tränen rührten ihn nicht. Sie stemmte ihre Arme gegen seine Brust und ließ sie sogleich vor Erschöpfung sinken. Zu schwach war sie geworden, um sich weiter gegen ihn zu wehren. Ihre Kräfte hatte sie im Kampf mit ihm verloren. Sie sah ihn nur an. „Ich müsste ihn verachten“, dachte sie, „doch kann ich ihn niemals verlassen, zu sehr liebe ich ihn, trotz alledem. Ich kann mich nicht von ihm trennen, schließlich ist er der Mann, den ich nur zu lieben vermag und keinen anderen. O, wenn ich seine dunklen Augen sehe, sein Gesicht“, dachte sie. Ihr Herz krampfte sich zusammen. „Jetzt hast du es erreicht, jetzt kannst du mich verlassen. Warum hast du meine Liebe zu dir enttäuscht?“ seufzte sie, „du hast mich nie geliebt und wirst mich auch nie lieben, Götz.“

Seltsam schaute er sie an. „Ich liebe dich“, flüsterte er. Behutsam strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und benetzte es mit Küssen.“ Du darfst mich nicht verlassen, hörst du, niemals“, hauchte Roxana. „Ich werde dich nicht verlassen“, war seine Antwort. „Nun ruhe ein wenig, liebste Roxana. Schlafe bis der Tag erwacht, bis der Sonne Glut die Erde erhellt. Schlafe bis das Leid des Vogels dich erweckt aus lieblichem Traum“.

Roxana erwachte in Götzes Armen. Mit einem Umhang hielt er ihre schlanke Gestalt eng umschlungen. „Ich zeige dir die Schönheit des 20. Jahrhunderts, aber auch Not und Elend werde ich dir vor Augen führen, Roxana.“, weich klang seine Stimme. Abermals erfasste sie ein Wirbel. „Sieh all die herrlichen Parkanlagen, die schönsten Bäume im sattesten Grün, Roxana, doch sie verschwinden immer mehr, von Häusern verdrängt die emporwachsen gen Himmel. Siehe diese Autos, sie sind schön und schnell, doch wie viele Menschen wurden durch sie zum Krüppel oder starben. Schau auf diese Stadt, Roxana, die einst sehr schön war.“ Damit führte Götz Roxana durch ausgestorbene Straßen. Schatten, gleich Menschengestalten hafteten an Mauerresten. „Einst lebten die Menschen hier glücklich und zufrieden. Doch dann kam der heiße Tod. Gierig streckte er die knöchernen Hände nach seinen Opfern aus und verbrannte sie mit seinem heißen Atem. Grausam, gleich einer blutgierigen Bestie wütete er unter den Menschen und bohrte seine totbringenden Strahlen in ihren Leib. Doch nun fort von hier, Roxana.“ Götz umschlang sie mit seinen Umhang. „Schaue dort hin, es ist Krieg in Vietnam. Vietnamesische Demonstranten rufen nach Frieden und Freiheit.“ Plötzlich erfüllte ein einziger Schrei die Luft. Roxana eilte auf den noch immer in der Luft vibrierenden Laut zu. Vor ihren Augen übergoss sich ein etwa 18-jähriges Mädchen mit Benzin. Ein Zündholz flammte auf. Roxana begriff sofort, stürzte zu ihr, ihr das brennende Holz zu entwinden. Doch eine unbekannte Kraft riss sie zurück. Roxana wandte sich um und erblickte Götz. Seine Augen blickten kalt und ihr schien es, als spiegelte Ironie darin. „Halt Roxana, dieses Mädchen protestiert gegen den schmutzigen Krieg in Vietnam mit ihrem Leben. Sie opfert sich, um die Menschheit wachzurütteln und aufzurufen gegen Unrecht und Krieg.“ Ehe sich Roxana ihm entziehen konnte, war es zu spät. Gen Himmel leuchtete eine Flamme. Eine lebende Fackel wand sich vor ihren Füßen. Wie gelähmt schaute Roxana auf die fürchterliche Szene, die sich vor ihr abspielte. Leckende Flammen schlängelten sich wie winzige Schlangen um die Kleider des vietnamesischen Mädchens. Ihre Augen waren geschlossen. Stumm saß sie auf dem Pflaster der Straße und wartete auf das Ende, auf den schleichenden Tod. Tiefer und tiefer bohrten sich die gefräßigen glühenden Schlangen in den Körper. Beißender Rauch setzte sich in Roxanas Augen und Lungen. Sie hustete, die Augen tränten ihr. Schon griffen die Flammen nach der nackten Haut des Mädchens. Die blauschwarzen, strähnigen langen Haare hatte bereits das Feuer verzehrt. Ein Windstoß entfachte das Feuer zur größeren helleren Flamme. Schweigend, mit schmerzverzerrtem Gesicht, wand sich ein Mensch in den lodernden Flammen der Hölle. Roxana erschauderte beim Anblick dieser grässlichen Szene. „Nicht anders kann ich mir die Höllenqualen vorstellen, Götz.“, hauchte sie, „ich besitze keinen Glauben, doch diese grauenerregende Szene, diese Feuersbrunst lässt mich selbst an die Hölle glauben.“ Seltsam schaute Götz, die Augen zu einem schmalen Spalt verengt, Roxana an. Zoll um Zoll wuchs die Fackel. Von dem Mädchen war nichts mehr zu sehen. Eine Feuersäule ragte gen Himmel. Geblendet schloss Roxana die Augen. Als sie sie öffnete, erblickte sie Götz. In seinen Armen liegend, trug er sie fort aus dem Land des Elends. „Dieses Mädchen starb bewusst für die Freiheit Vietnams, Roxana.“ Er sah sie an. Roxana weinte, ihr Herz bebte vor Schmerz und Wehmut. Ein leichtes Zittern überfiel sie, zu sehr entsetzte sie sich über Jenes, was sie gesehen und zugleich erlebte. Götz bemerkte es, er drückte sie sanft an sich und streichelte ihre blassen Wangen. „Ich werde dich in ein Land der Liebe und Glücks tragen. Dort, wo die schönsten Blumen erblühen im Sonnenschein, die lieblichsten Vögel ein Liedchen zwitschern in anmutigster Weise.“

Schweigend, in Gedanken versunken, lag Roxana in den Armen von Götz auf einer mit Blumen geschmückten Wiese. Die Sonnenstrahlen tanzten zwischen den Wipfeln der Bäume, vom lieblichsten Gesang der Lerche begleitet. Zu ihren Füßen entsprang eine Quelle, sie schlängelte sich als Bächlein durch saftige grüne Gräser. „Ich liebe dich, Roxana“ Zärtlich umschlang Götz seine Geliebte. Ein Kuss benetzte ihren roten Mund. „Was ist mit dir? Deine Augen schauen, doch sehen sie nichts. Meine Liebe verspürst du nicht, Roxana.“ „Grausamkeit und Elend sehen meine Augen, Schatten verbrannter Menschen, ein Mädchen im Flammentod. Du zeigtest mir Leid und Schmerz, nun komme ich nicht mehr los, Geliebter.“ Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust. „Vergiss die Qual, die du gesehen, Roxana. Dein Sein ist nun diese Welt, eine Welt des Friedens. Längst wurde die Schlange des Krieges zerschmettert von der eisernen Faust der Freiheit. Ich führte dich in das Jahr 3000. Die Wünsche deiner Sehnsucht wirst du erfüllen können.“ Wehmütig blickte Roxana. „Es ist si schwer“, seufzte sie, „das Leid, was ich gesehen, drückt auf meiner Brust, durchbohrt mein Herz mit tausend Nadeln.“ „Sieh in meine Augen, Roxana.“ Auffordernd klang seine Stimme. Sie schaute ihn an. In seinen Augen lag ein Schimmer, der die erstarren ließ. Ihr Blick wurde leblos und kalt, sie starrte nur noch vor sich hin. „Schließe deine Augen, Roxana, schlafe.“ Sie sank in seine Arme. Behutsam legte er sie ins weiche Gras. „Wenn du erwachst, wirst du alles Leid vergessen haben, was du gesehen und dein Herz gequält. Das Gesicht der Not, des Elends, werden dich verlassen, die sich tief in deine Brust einfraßen, gleich einer bösen Krankheit. – Erwache Roxana, erwache aus tiefen Schlaf, der deine Seele umfängt, erwache.“ Roxana öffnete ihre dunklen Augen. Erleichtert blickte sie zu Götz. Ein Lächeln umspielte ihre roten Lippen. „Was ist mit dir geschehen, Roxana? Erzähle mir, was deine Augen sahen.“ Bilder der Liebe, des Glücks mit Götz, Schönheit und Anmut der lieblichsten Natur, die sie umgab, erfüllte ihr Sein. Verwirrende Gedanken, die sich nicht zu erkennen vermochte, durchschossen gleich brennenden Pfeilen ihr Hirn. Ihr Haupt dröhnte. In ihren Schläfen pochte und hämmerte es. Ein jäher Schmerz durchzuckte ihre Seele. „Genug des bösen Spiels. Verjage die Gedanken, die dich verwirren, deine Sinne schwinden lassen. Roxana lasse deine Lippen sprechen, forme deine Gedanken zu einem Bild, so dass ich erkennen werde, was im innersten deiner Seele schlummert oder dich quält.“ Zärtlich umschlang Roxana seinen Hals. Er spürte ihre warmen Wangen. „Nichts quält mich, es ist unsere Liebe, die in meinem Herzen ruht, nur sie vermag ich zu erkennen. Du bist meine Liebe, mein Leben. Du bist mein Schatten, der mir ständig folgen soll, mich nie verlassen darf. Wirst du mich verlassen, Götz?“ „Nein, Geliebte, nie und nimmermehr.“ Bunt schillernde Vögel sangen in den Zweigen der Bäume, die ihre Schatten auf die bloße Haut der Liebenden warfen, um sie sanft zu bedecken.

Wochen vergingen. Götz nahm Roxana auf seine Arme, drehte sich langsam mit ihr im Kreise. Wieder erfasste sie ein Wirbel. Er trug die Leibenden zurück ins 19. Jahrhundert, „Auch hier hätte ich meiner Liebe zu dir nicht wiederstehen können“, sprach er zu ihr. Roxana spürte seine Lippen auf ihrem Mund. Sie blickte auf und erkannte hinter ihrem Liebsten eine Frau. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. „Wer bist du? Nicht wahr, du bist verheiratet“ „Ich bin nicht verheiratet“, antwortet er nach kurzem Schweigen. „Warum lügst du?“ fragte sie traurig, „sieh dich um, deine Frau steht hinter dir.“ Götz wandte sich um, „Jetzt hast du dich verraten.“ Bei ihren Worten packte er Roxana. Betroffen schaute er ihr ins blasse Antlitz. „Ich liebe dich, nur dich alleine“, flüsterte er. Sie entzog sich ihm. „Wider meinen Willen muss ich dich verlassen. Mehr als mein Leben liebe ich dich und werde zu Grunde gehen ohne dein Sein. Ich muss dich vergessen und doch vermag ich es nicht Geliebter.“ „Du darfst mich nicht verlassen, Roxana.“ Die Frau kam näher. „Sieh deine Frau an. Ich bin gezwungen, dich von mir zu stoßen. Aber ich kann mich ja nicht von dir trennen, denn ich werde ein Kind von dir bekommen!“ Sie schrie es in ihrer Verzweiflung. Die Frau vernahm es und schwieg. „Wenn ich mich von dir trenne, wird das Kind mich an dich erinnern. Ich werde das nicht ertragen können. Götz, ich liebe dich.“, hauchte sie. „Sie sind selber mit Schuld“, kreischte die Frau. „Was wissen sie schon. Sie sind seine Frau und stellen sich gegen mich. Ich nehme es ihnen nicht übel.“ „Wann werde ich dich wiedersehen?“ flüsterte er Roxana zu. „Ich weiß es nicht. Es ist besser, wenn ich dich nicht mehr sehe.“ „Zu sehr liebe ich dich, Roxana. Ich kann dich nicht missen.“ „Auch ich vermag nicht, ohne dich zu leben, Geliebter. Immer und ewig werden wir uns sehen.“ Ihre Seele weinte vor Schmerz in unsagbarer Liebe zu ihm.

Monate vergingen. Roxana erschien die Welt in Dunkel gehüllt, als peitschender Regen ihr ins Gesicht fiel und jegliche bunte Farben der Natur um ihr sich aufzulösen drohten. Sie lief durch stark getränkte Straßen, sprang über Pfützen, eilte von grausamen Gedanken gejagt, zur Pforte der Kirche. Der Pater empfing sie freundlich und führte sie zum Beichtstuhl. „Reinige deine Seele, auf das du dich glücklich nennen darfst“, sprach er, wobei er sie niederknien ließ. Obwohl Roxana nicht an das Überirdische glaubte, musste sie Zuflucht in der Kirche suchen. Wem sollte sie sich auch anvertrauen, wenn nicht ihr? Im Beichtstuhl vermochte sie sich von ihren quälenden Gedanken zu befreien, ohne das es jemals eine andere Menschenseele erfuhr. Mit Tränen in den Augen, wehmütig zitternd, begann Roxana ihre Geschichte zu erzählen. Hilflos richtete sie ihren Blick gen Himmel und erhob ihre Hände wie zum Gebet. „Mit der ganzen Glut meiner Seele liebe ich einen Mann, dem ich in Sünde verfallen. Sündige Liebe nenne ich es, da er einer anderen Frau angehört. Er ist mit ihr verheiratet. Als ich es erfuhr, war es bereits zu spät. Trennen wollte ich mich von ihm, doch vermochte ich es nicht. Zu sehr liebe ich ihn, mehr als mein Leben selbst. Wir gehören zusammen. Er und ich sind vereint in einem Wesen, welches das Licht der Welt erblicken wird. Ich bin gezwungen, den Tod aufzusuchen. Er wird mich hinwegführen aus dem Elend der Welt. Es ist bessern, wenn ich von dieser Welt verschwinde. Auch missen kann ich ihn nicht mehr, zu groß ist meine Liebe und deshalb muss ich sterben. Einen anderen Mann werde ich nie lieben können. Ich weiß es ganz genau. Zu gut erkenne ich die Psyche meines Seins. Mein Onkel verlangte von mir, meinen Liebsten zu verlassen. Einen Mann soll ich heiraten, der mich liebt. Doch Udo zu lieben vermag ich nicht. Lieber den Tod, als einen Mann angehören, dem ich mich hingeben soll, ohne Liebe für ihn zu empfinden. Ich frage, warum soll man leben, wenn man keine Liebe zu einem Menschen empfinden kann, der einen liebt? Ich frage, warum soll man leben, wenn man sich von dem Menschen trennen soll, den man zu lieben vermag? Ich frage, warum soll man leben, wenn man die große wahrhaftige Liebe verlassen soll, da einem dann zu Bewusstsein kam, das man nie wirklich liebte bis zum Tage wo einem der Mensch begegnete, für den man alles opfern würde, ja selbst das eigene Leben? Ich frage, warum soll ich leben, wenn ich nie glücklich war und weiß, dass ich ewig unglücklich sein werde ohne Götz. Den Geliebten muss ich wider meinen Willen freigeben. Gegen meinen Willen wird er mich von sich fortgehen lassen. Ich bin gezwungen zu sterben, denn ich mag nicht weiter ohne Götz zu leben. Ich weiß, ich würde geliebt werden, wenn ich ihn ohne den Tod verlasse. Doch was hat meine Seele davon, wenn sie nicht diesen Mann zu lieben vermag, der mich einst lieben wird. Ich kann nur Götz lieben, nur ihn allein und deshalb bin ich zum Tode verurteilt, von meiner Hand.“ Roxana ließ ihr Haupt sinken und bebend flüsterte sie die letzten Worte ihrer Geschichte. Sie erhob sich aus dem Beichtstuhl und bewegte sich langsam zur Pforte des Gotteshauses. Sie sah nicht die Augen des Paters, die ihr nachschauten. Roxana sah nicht´s mehr, nur das Abbild ihres Geliebten, der in Gedanken vor ihr schwebte. In jenem Augenblickt verfluchte der katholische Priester seine Pflicht, die ihn zum Schweigen verurteilte. Wenige Schritte von der Kirche entfernt sank Roxana auf die Knie. Sie blickte traurigen Angesichts zum Himmel. „Nimm mich in deine Arme, süßer Tod“, hauchte sie und stieß sich mit den Dolch, den sie der Rocktasche entnommen, in die Brust. Das zu Tode getroffene Herz riss Roxana mit sich in das ewige Dunkel, aus dem es kein Erwachen mehr für sie geben sollte?

„Nein n-e-i-n“, ertönte eine dumpfe Stimme. „Roxana, du sollst nicht sterben, leben wirst du in der Ewigkeit, erwache!“ Ein leichtes Zucken durchrann Roxanas Körper. Jeden Augenblick hätte sie sich erheben können, doch es geschah nichts dergleichen. Abermals erschallte jene seltsame Stimme. „Noch besitzt der Tod nicht die Kraft, weder die Macht, nach deinem jungen Leben zu greifen. Du wirst erwachen aus dem traumlosen Schlaf, dem unendlichen Dunkel des Nichts wirst du entrinnen. Jedoch versinkt dein Körper in den süßesten Traum der Liebe, der du begegnest, sobald du zurückkehrst in das wahre Leben. Der Traum der Liebe wird deine Seele empfangen, bis an jenem Tage, wo du dein Kind gebärst. Du kehrst zurück auf die Welt, die du verlassen. Doch wirst du sie mit anderen Augen sehen, als du sie je schautest. In Liebe wird dein Herz erblühen zu neuem Leben, da du einem Manne begegnen wirst, wo ich Hoffnung hege, dass er dir einst das Glück schenkt, nach dem du je vergeblich suchtest. – Roxana, der Traum der Liebe umfängt deine Seele. Schlafe, schlafe, bis zum vollkommenen Erwachen des Lebens.“

Das Licht des Tages durchflutete das Fenster, als Roxana erwachte. Eine warme Hand berührte ihre Stirn. Leuchtende, fröhliche Augen der Mutter blickten sie an. „Endlich bist du wieder gesund, mein Töchterchen.“ Erleichtert aufatmend umarmte die Mutter ihr Kind. Verwundert schauten Roxanas Augen, doch in jähem Schreck zuckte sie zusammen. Sie starrte auf eine Gestalt, die sich ihr näherte. „Vater“, hauchte Roxana. Bleich vor Entsetzen sank sie auf ihr Lager zurück. „Was ist dir, Kind?“ Die Stimme der Mutter zitterte, als sie leicht erregt die feuchte kühle Stirn ihrer Tochter berührte. „Wie komme ich hierher?“ Leise fragend schweifte ihr Blick durch ihr kleines Zimmer, welches sie sogleich erkannte. An der Wand stand ein mit Ornamenten verziertes Schränkchen, worauf eine kostbare Vase aus feinstem chinesischem Porzellan stand, in der die herrlichsten Rosen blühten, die Roxana je gesehen hatte und ihr freundlich zuzunicken schienen. „Im Fieber liegend fand ich dich auf dem Friedhof nahe dem Grab meiner Schwester“, ruhig klang die Stimme des Onkels, „im Unterbewusstsein erzähltest du bis auf den heutigen Tag Einiges, was wir jedoch nicht verstanden, nicht zu deuten wissen.“ „Das Grab, Vater, es wurde geschändet.“ „Nein Roxana, mit dem schönsten Blumenbett bedeckt liegt in ewiger Ruhe meine Schwester“, er streichelte sanft Roxanas Haupt, „es wird ein böser Traum gewesen sein, der deine Sinne beherrschte – sich deiner Seele bemächtigte.“ „Wir werden dich jetzt verlassen, Roxana, schlafe ein wenig. Denke immer daran, es war nur ein Traum, ein Traum“, flüsterte die Stimme der Mutter. —– „Ja, es war ein Traum“, hauchte Roxana, „ein Traum, der mich erwachen lies aus dem Tod, dem ich verfallen wäre. Ein Traum, der mich von Satan befreite und durch das Erwachen zu Gott hinweist, zu meinem Erretter Jesus Christus Gottes Sohn.“ Betend sank Roxana auf die Knie, bereute ihre Sünden und nahm Jesus Christus, ihren Heiland in ihr Herz auf. Sie war unendlich glücklich, als sie Gottes Vergebung spürte. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, der Weg zum Himmlischen Vater“, sagte Jesus mit sanftmütiger Stimme, „Du bist gerettet durch mein Blut, was ich für dich vergossen, Roxana, mein Kind.“

„Es war kein Traum, doch dein Tod war ein furchtbarer Traum“ flüsterte eine Stimme, die so fern klang und doch so nah war. Roxana wandte sich voller Erwartung um, was kommen würde. Ihr Gesicht strahlte vor Glück, als sie Götz vor sich stehen sah. „Bist du es wirklich mein Geliebter?“ Sie sank in seine Arme. „Aber Vater, ich sah ihn doch. War er nicht vor meinen Augen gestorben?“ „Es war nicht dein Vater, der dich bewusstlos fand, sein Zwillingsbruder trug dich vom Grab der Schwester fort, was nur wenige Schritte der Kirche entfernt liegt. Weißt du nicht mehr, wie sich dein Vater von dir verabschiedete, als ihr von seinem Begräbnis nach Hause gingt?“ Roxana überlegte. „Es war eigenartig, wie er mich ansah. Ich tröstete gerade meine Mutter, als mich irgendetwas lenkte, zum Fenster zu sehen. Es war mein Vater, der mich in Gedanken rief. Sein Gesicht leuchtete im hellen himmlischen Glanz. Er lächelte mich an, er wirkte viele Jahre jünger. Er nickte mir zu und verschwand im Ozean des Himmels“ hauchte Roxana und schlang ihre Arme voller Zärtlichkeit um ihres Geliebten Hals. „Wer bist du, mein lieber Götz, was ist mit deiner Frau?“ Fragend schaute Roxana ihren Liebsten an. Sie versank in Traurigkeit. „Ich liebe dich Roxana, sei nicht traurig. Die Frau die du sahst, war ein Trugbild. Das „Böse“ erfand sie, um dich zu verwirren, uns zu trennen.“ Voller Zärtlichkeit küsste Götz Roxanas Wangen. „Doch wer bist du?“ Roxana zitterte, zu viel Seltsames hatte sie mit Götz erlebt. Er schaute sie voller Liebe an. „Verzeih mir, was ich dir angetan. Komm mit mir in die Ewigkeit der Liebe. Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Aber du musst ja falsch von mir denken, zu viel Unheil zeigte ich dir, tat ich dir an. Bitte verzeih.“ Vor Roxanas Augen entstand ein strahlendes Licht, welches ihren Geliebten vollkommen einhüllte. „Wer bist du?“ wiederholte sie. „Ich bin ein Nephilim. Wir dürfen auf dieser Welt nicht zusammen sein, doch der Himmel bestimmte uns für einander. Komm mit mir in die Welt der Liebe, wo unsere Sehnsucht gestillt wird.“ Der Nephilim umarmte Roxana. „Ich werde mit dir gehen, Geliebter“, hauchte Roxana. „Immer und ewig werde ich bei dir sein, in der Herrlichkeit des Himmels durch Jesus Christus.“ Als sie Götz berührte, verwandelte sie sich ebenfalls zur Lichtgestalt, auch ihr ungeborenes Kind. Sie schwebten gen Himmel, von einer weiteren in Licht gehüllten Gestalt begleitet – gleich einem menschlichen Wesen und verschwanden sich alle umfassend in der strahlenden Ewigkeit Gottes. Um dort für immer glücklich zu sein. – Roxana hinterließ eine tröstende Nachricht an ihrer Mutter.

Wer in jenem Moment zum Himmel sah, konnte vier leuchtende in Licht verwandelte gleich menschliche Erscheinungen erkennen, von Engeln begleitet, die vereint am Firmament verschwanden, in der Liebe Gottes.

Doch wer war die vierte Gestalt? Dies bleibt ein Geheimnis.

Liebe ist wie ein Flüstern
Des Windes in den Zweigen der Bäume,
ein flüstern der Sehnsucht
nach dem Geliebten.

Irmgard Harras, geschrieben im Alter von 19 und 20 Jahren.

28

Vampire

Heiß brannte die Sonne auf die Steppe von … Sie zu nennen, verschweige ich, denn ich gab ein Versprechen. In ihrem Namen liegt ein Geheimnis, wo ich Hoffnung hege, es zu ergründen.

Schweren, schleppenden Schrittes begab sich Amina durch die einsame öde Flur. Schon lange war sie diesen Weg gegangen, der kein Ende nehmen wollte und diese Stille, die sie bedrückte, ihr die Sinne nahm. Sie bewegte sich nur noch langsam vorwärts. Der Durst quälte sie. „Du musst es schaffen, Amina“, flüsterte es, „nicht mehr weit, bald wirst du die ersten Hütten sehen. Verzage nicht.“

Ihre Gedanken waren es, die die Worte fanden und Amina aufzurütteln suchten. „Es sind Tage, oder gar Wochen? Die ich nun schon umherirre in dieser trostlosen Einöde. Zu schwach ist mein Herz, um noch weiter zu gehen. Zu trocken die Kehle, um weiter zu atmen. Das Feuer brennt in meiner Brust, sie schreit nach Wasser, Wasser“, seufzte Amina. „Nein Blut, Blut sollst du trinken, es ist das Leben“, flüsterte eine dumpfe Stimme. Amina sank in sich zusammen, sie blieb leblos liegen. Nacht war es, als Amina erwachte. Leicht hauchte der Wind seinen Atem über das dürre Steppengras. Es war, als wolle er, gleich auf einer Harfe, spielen. „Fliehe von hier“, klang die Melodie des Windes. „Die Strahlen des Mondes werden dir den Weg weisen, Amina.“ Ein heller Schleier breitete sich auf die Steppe. Im fahlen Licht des Mondes huschten gespenstische Schatten an Amina vorüber. Ein leichtes Zittern durchdran ihren zarten Körper. „Schau in den Kristall, er liegt neben dir“ flüsterte es. Es war wie das Säuseln des Windes, der zärtlich mit den Steppengräsern spielte. Amina nahm es an sich. Schatten lagen auf den Augen, die sie anstarrten. Blondes leichtgewelltes Haar umschloss ein blasses Antlitz, aus dem alles Blut gewichen schien. Ihre Lippen, die einst so rot gewesen, hatten jegliche Farbe verloren. Amina erschrak bei jenem Anblick War sie es wirklich, sie – Amina, die ihr aus dem Kristall entgegen sah? Nein, ein teuflisches Wesen schaute sie an. Amina öffnete leicht ihre Lippen. Entsetzt betrachtete sie ihr Spiegelbild. Deutlich sichtbar zeigten sich, hinter Mundwinkel versteckt, zwei große spitze Zähne. Amina, noch immer schwach, von diesem Anblick erschreckt, brach zusammen. Der Kristall zerbrach. Ihr Schrei drang durch die Stille der Nacht. Der Wind fuhr stöhnend über das Steppengras. Gespenstische Wesen, die sich im Mondlicht bewegten, hielten inne und verloren sich im Dunkel. Ein gellendes grausiges Lachen verhallte in der Luft.

Als sich die ersten Sonnenstrahlen hinter den Wolken hervorwagten. Die Vögel ein munteres Liedchen anstimmten, da schien es, als wolle jener neugeborene Tag zum Feste aufrufen. Leise Musik ließ sich vernehmen. Doch es waren keine fröhlichen Weisen, die die Luft durchdrangen. Jeder, der sie vernahm, wurde traurig und versank in Trübsinn.

Schwermütig waren die Klänge, die das Herz zerschnitten und tiefste Bitternis in den Menschen zurückließen. Wieder war ein Kindchen gestorben, schon des Öfteren hatte der Sensenmann seine knöchernen Hände nach einem unschuldigen kleinen Wesen ausgestreckt. Keiner der unglücklichen Eltern, nicht einmal ein Arzt konnte sich erklären, an welcher Krankheit die Mädchen und Jungen verstarben. Plötzlich und unerwartet, am Tag vorher noch munter spielend, wurden die Kinder tot im Bett aufgefunden. Die Ärzte wussten keinen Rat mehr. Schließlich öffnete man den Leichnam des bisher letzten Opfers, aber es wurde nichts entdeckt. Nicht eine Spur von Gift, was man vermutete. Einen Anhaltspunkt fanden sie doch. In der Leiche befand sich kein Blut, nicht ein einziger Tropfen ließ sich auffinden. Ebenso wie die anderen verstorbenen Kinder, wies jenes Opfer die gleichen Merkmale auf. Drei kleine Kreise hoben sich deutlich im Dreieck sichtbar von der bleichen Haut des Halses ab.

Leichtfüßig betrat ein blondes Mädchen, kaum 20 Jahre zählend, ein Dorf nahe der Steppe. Die Menschen schliefen. Gleich einer Katze schlich Amina um die Hütten und schaute durch die vom Mondschein erhellten Fenster. „Blut, Blut sollst du trinken“, jene entsetzlichen Worte, die sie einst vernommen, peitschten ihre Gedanken. Amina, im Leben ein braves Mädchen gewesen, verwandelte sich nun zur grausigen Bestie. Behutsam öffnete sie die Türe einer Hütte und betrat jene. Ihre Augen erblickten einen jungen schlafenden Mann. Aminas Körper vibrierte. Ihre Lippen zitterten, sie lechzten gleich einem wilden Tier nach Blut. In dem Bewusstsein, sich auf ihn zu stürzen, erwachte der Schlafende. Wie angewurzelt blieb Amina stehen. Ihre Augen funkelten. Fieber erregte ihr Gemüt. Ihre Gedanken schrien nach Blut, Amina blieb ruhig. Auf keinem Fall gab sie sich einer Entdeckung preis. Imanai blickte sie verwundert an. Wer war dieses Mädchen? Wo kam sie her? Was sollte sie? fragte sein Herz, welches sogleich beim Anblick ihrer herrlichen Gestalt in Erregung geriet. Amina stand vor ihm in einem langen weißen durchsichtigen Gewand. Trotz ihrer Totenblässe war sie schön. Sie schien einem Engel gleich. Ihre Lippen hielt sie geschlossen, sie lächelte ihn an. Obwohl ihr Wesen nichts von dem verriet, was in ihr vorging, spielten ihre Gedanken mit seinem Blut. Aminas Augen blickten gierig auf den Hals des Mannes. Langsam näherte sie sich ihm, setzte sich auf seinen Schoß und begann ihn zu liebkosen. Ihm gefiel dies wohl. Er umarmte Amina, benetzte ihr Gesicht mit brennenden Küssen. In Liebeswonne schwelgend, bemerkte Imanai nicht einmal die Kälte, die ihr Körper ausstrahlte. Unter ihren Zärtlichkeiten schloss er die Augen. Darauf hatte Amina nur gewartet. In ihrer Gier nach Blut umklammerte sie seine Arme, presste ihren Körper auf dessen Brust und suchte mit den Lippen des Opfers Hals. Jener jedoch, in dem Glauben, sie wolle ihn küssen, lag regungslos von den Fesseln ihres Körpers gebunden. Plötzlich spürte Imanai, gleich dem Biss einer Viper, einen brennenden Schmerz am Hals. Er wollte aufspringen, es gelang ich nicht. Amina lag auf seiner Brust, sie saugte sein Blut. Er versuchte die Arme frei zu bekommen, um diese Bestie in Engelsgestalt von sich zu reißen. Eine Schwäche kam über ihn. Es gelang ihm jedoch, sich von Amina zu befreien. Er schleuderte sie, gleich einem grässlichen Wurm, von sich. Amina schrie auf. Erneut versuchte sie, sich seiner zu bemächtigen. Es gelang ihr nicht.

Glocken des Todes erklangen in der Ferne. Der Wind trug jene Töne des Schmerzes und des Leides zur Steppe, wo Amina sie empfang und von dieser Klagemelodie aus ihrem Todesschlaf erweckt wurde. Amina lauschte. Ihr Gesicht zeigte Schwermut und Trauer. Sie hasste es, zu Beginn der Nacht ins Dorf zu schleichen und gleich einem Raubtier auf Beute zu lauern. Aber irgendetwas zwang sie zur grausamen Tat. Ein leichtes Rascheln ließ Amina aufschrecken. Sie schaute in jene Richtung, wo das Geräusch herkam und erblickte im Dunkel der anbrechenden Nacht eine grässliche Gestalt, die auf sie zukam. Amina stockte der Atem. Bewegungslos saß sie zwischen den Steppengräsern. Sie glich eher einer Marmorfigur, als einem menschlichen Wesen. „Hörst du das Läuten der Glocken im Dorf, Amina?“ lachte das Untier, „es ist wieder ein Kind gestorben. Ich, ich der Vampir habe sein Blut getrunken.“ Scheußlich klangen diese Worte, die Amina ins Herz schnitten und einen brennenden Schmerz hinterließen. Aber war sie nicht selbst zum Vampir geworden? Hatte sie nicht selbst vom Blut eines Menschen gekostet? Jene Gedanken marterten ihr Hirn. Tränken rannen über ihre blassen Wangen. Sie sah dem Scheusal ins graue, tief mit Falten durchzogene Gesicht. Große vorstehende Augen starrten das weinende Mädchen an. An seinen breiten wulstigen Lippen klebte Blut. Ironisch grinsend, wurden zwei große spitze Zähne sichtbar. Statt einer Nase zeigte sich eine unförmige Masse. Seine buschigen Brauen vereinigten sich in der Mitte der Stirn zu einem kreisförmigen Gebilde. Der Haarwuchs dieses buckligen riesigen Scheusals hing wirr an seinem breiten Kopf, unter denen sich zwei große Spitze Ohren versteckten.

Amina schüttelte es beim Anblick dieser hässlichen Gestalt. Sie weinte noch immer. Doch nicht vor Angst, sondern aus Schwäche. Sie hatte nicht die Kraft, ihre eigene Blutgier zu bezwingen. „Noch diese Nacht werde ich das Blut eines Kindes trinken“, lachte er höhnisch. Es war das gleiche bösartige Lachen, was sie schon einmal vernommen, als sie jene furchtbare Entdeckung machte, wo sie zum Vampir geworden. „Schau dich um, siehst du diese Schatten, Amina?“ Ihre Augen schweiften über die Steppe, welche sich im Winde wiegte. Amina erinnerte sich, schon einmal war sie diesem gespenstischen Wesen begegnet. „Es sind die Schatten des Todes, Kinder; die zu Vampire geworden und das Blut ihrer Brüder und Schwestern trinken. Es sind die Kinder, die ich getötet. Ich, der Vampir, ich habe die Macht über Leben und Tod! Höre Amina“. Seine dumpf klingende Stimme wurde sanfter. „Vor einigen Monaten lebte ich unter den Menschen. Doch war ich stets einsam. Die Menschen mieden meine Hütte. Begegnete ich ihnen, gingen sie mir aus dem Weg. Sie fürchteten sich vor mir, vor meiner Hässlichkeit. Doch so scheußlich, wie ich jetzt aussehe, war ich nicht. Ich bemühte mich, freundlich zu ihnen zu sein. Sie verachteten mich. Eines Nachts, als Blitze vom Himmel, gleich Feuerpfeile, zur Erde schlugen. Ein gewaltiger Orkan die Hütten zermalmte die nur brennende Fackeln waren, da packten die Menschen mich. Sie richteten mich als Dämon des Bösen und verbrannten mich in meiner Hütte. Ich jedoch schwor im Angesicht des Todes, grausamste Rache zu nehmen.“ „Warum aber unschuldige Kinder?“ seufzte Amina. Ein Zittern befiel ihren Körper. „Wisse denn“, bemerkte das Scheusal, „Kinder sind das Liebste der Eltern, deshalb werde ich nur sie töten und du wirst es auch!“ fauchte er. Böse blickten seine Augen auf das weinende Mädchen. –

Verzweifelt lief Amina ins Dorf. Nur ein Gedanke beherrschte ihren Sinn. „Ich muss die Kinder retten.“ Amina lief und lief. Der Mond war ihr Begleiter, er spendete ihr Licht auf ihrem Weg. Amina schlich an den Hütten vorbei. Sie musste vorsichtig sein, um dem Vampir nicht zu begegnen. Am Ziel angelangt, öffnete sie die Türe und stand vor dem jungen Mann, den sie des Nachts hatte töten wollen. „Was willst du, elende Schlange!“ Damit packte er Amina und war im Begriff, sie niederzuschmettern. Sie aber entwand sich ihm, sank auf die Knie und bat ihn, sie anzuhören. „Du hast die Kinder getötet, mit deinen grässlichen Zähnen saugest du ihr Blut, du bist ein Vampir!“ schrie Imanai. „Nicht ich war es“ hauchte Amina. Sie erhob sich, sah ihm fest in die Augen. Sie wagte es nicht, ihn anzurühren. Bei seinem Anblick keimte abermals die Gier nach Blut in ihr auf. Doch siegte diesmal das Gute über das Böse. „Hilf mir“, flehte sie. „Noch in dieser Nacht wird der Herrscher der Vampire das Dorf betreten. Es wird ein Kindlein suchen und es auch finden. Aber dann ist es zu spät. Nehme eine heilige Reliquie und schlage damit vor der Bestie ein Kreuz. Es genügt auch, wenn du ihn mit diesem Kleinod berührst. Sogleich wird der Vampir seine Macht, allerdings nur von kurzer Dauer, verlieren. Gehe des Tages zur Steppe, dort findest du ihn schlafend. Er wird dich nicht bemerken, denn es ist der Tod, der ihn bewacht. Des Nachts lebt er und keinem gelingt es, ihn zu besiegen. Beginne die Tat, wenn das Licht des Tages anbricht. Nehme einen Holzpflock, durchbohre damit das kalte Herz des Vampirs. Achte jedoch darauf, dass der Pflock den Körper durchschlägt. Es muss in die Erde dringen. Auch des Nachts kann es dir gelingen, das blutrünstige Gespenst für ewig zu vernichten, doch muss der Vampir der Macht beraubt sein und auf dem Boden liegen. Mein Kindchen und die anderen kleinen Geschöpfe, die einst der Bestie zum Opfer gefallen, werden in jenem Augenblick zur Ruhe kommen. Ebenso ich. Höre bitte, auch ich besaß ein Kind. Es zählte knapp drei Jahre. Eines Nachts erwachte ich durch den Schrei meines Kindes. Ich eilte zu ihm und erblickte eine Gestalt, die sich über mein Söhnchen beugte. Ich schrie auf. Der Vampir wandte sich um und wollte auch mich zustürzen, da schlug ich das heilige Kreuz. Er wimmerte und verschwand. Mein Söhnchen lag in meinen Armen, es war tot.“ Amina stürzten bei jenen Worten Tränen des Schmerzes aus den Augen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. „Ich folgte der Bestie, die das Blut meines Kindes gesaugt und es nun selbst zum Vampir geworden, um es zu rächen. Doch war ich zu schwach. In der Steppe begegnete mir der Tod, es war der quälende Durst, der mich zwang, ihm die Hand zu reichen. Ich starb im Reich des Vampirs, deshalb wurde ich seinesgleichen. Macht besitzt der Vampir keine über mich, denn ich wurde nicht sein Opfer. Mein Blut saugte er nicht. Vollende den Tod des Vampirs, rette die Kinder, erlöse mich.“ Jene Worte gesprochen, verschwand sie, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Amina lief zurück zur Steppe, in der Hoffnung, ihre Wünsche bald in Erfüllung zu sehen. Unterdessen begab sich Imanai auf die Suche nach dem scheußlichen Gespenst. Er schaute in Fenster, entdeckte jedoch nichts. Es mag wohl einige Zeit verronnen sein, als er einen Schatten wahrnahm, der hinter einer Türe verschwand. Imanai beobachtete das Scheusal. Seine Blicke schweiften durch den engen Raum. In einer Ecke ruhte auf weichem Lager ein Kindchen. Schon beugte sich die Bestie über das kleine Wesen. Zwei große Schneidezähne, wie die einer Raubkatze, zeigte der Vampir. Plötzlich spürte das Gespenst einen gewaltigen Stoß, der ihn zur Erde riss. Grausam blickten seine Augen, als er sich erhob. Jäh wandte er sich ab. Die heilige Reliquie hatte ihn im Zeichen des Kreuzes berührt. Ein Jammern wie Katzen ließ sich vernehmen, dann verschwand das Untier.

Hoch stand die Sonne am Himmel, als ein junger Mann durch die Steppe schritt. In einer Hand hielt er einen Holzpflock. Um seinen Hals hing eine heilige Reliquie, es war ein kleines Kreuz mit glitzernden Steinen besetzt. Von Ferne erkannte Imanai das Scheusal, wie es im Schein der Sonne lag und schlief. Er schritt vorwärts. Dürre Halme brachen unter seinen Füßen. Näher kam er dem Schlafenden. Er betrachtete ihn und entdeckte die spitzen Zähne des Vampirs. Mit jäher Wut hob er den Holzpflock, ihn durch das Herz der Bestie zu rammen. Da erkannte er Amina. Sie lag nicht weit entfernt von dem grässlichen Blutsauger. In ihren Armen schlief ihr Kind. Er beugte sich über die und küsste ihre kalten Lippen. Tränen standen in seinen Augen. Er hatte sie lieb gewonnen. In dem Bewusstsein, Amina für immer zu verlieren, blutete sein Herz vor Wehmut. Doch es musste sein. Die Menschen sollten endlich von dem blutgierigen Gespenst befreit werden. Imanai vernahm einen seltsamen hellen Klang der in den höchsten Tönen die Luft erzittern ließ. Kalter Atem streifte sein Gesicht. Seine Augenlieder wurden schwer vom Druck des Schlafes. Imanai kämpfte gegen die Müdigkeit. Zu schwach waren seine Sinne, um den Kampf zu bestehen. Er sank auf das dürre Gras. – „Fliehe diesen Ort“, Amina war es, sie weckte Imanai mit diesen Worten. „Es wird Nacht, fliehe bevor das Gespenst erwacht und dich tötet.“ „Es wird mir nichts geschehen, siehst du dieses Kreuz?“ Er zeigte auf seine Brust, wo die heilige Reliquie ruhte. „Es wird mich schützen.“ „Ich sehe nichts, Imanai.“ Ein rascheln ließ Amina aufschrecken. Der Vampir war erwacht und kam auf die beiden zu. Imanai griff nach dem Kreuz. Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht. Die Reliquie war fort. „Lass mich von deinem Blut trinken, Imanai, doch nur zum Schein.“ Er sah sie an, diese Augen konnten nicht lügen. Imanai sank auf sein Lager zurück, Amina hing an seinem Hals. Zu gerne hätte sie von diesem köstlichen Wasser des Lebens getrunken.

Sie bezwang ihre grausamen Gedanken. Das Gespenst näherte sich. Seine Arme warf es nach vorne. An den Fingern wuchsen Krallen. Imanai tastete nach dem verschwundenen Kleinod. Er fand es nicht. Schweiß trat auf seine Stirne. Plötzlich verspürte er einen scharfen Ruck. „Ich sauge sein Blut, lass ihn mir!“ schrie Amina. Der Vampir schleuderte sie beiseite. Blitzschnell stürzte er sich auf Imanai und begann mit seinen grässlichen Zähnen des Opfers Halsschlagader zu suchen. Doch Imanai packte das Gespenst. Er rang um sein Leben. Schon spürte er die Zähne der blutrünstigen Bestie, wie sie sich in seinen Hals bohrten. Da entdeckte Imanai einen schimmernden Gegenstand neben sich im Gras. Er griff danach und hielt das heilige Kreuzchen in der Hand. Als der Vampir den Druck der Reliquie zwischen seiner Stirn spürte, lockerte sich sein Griff. Machtlos wurde er, der Unterlegene. „Durchbohre sein Herz!“ rief Amina. Damit reichte sie Imanai den Holzpflock. Jener riss den Pflock gen Himmel, durchstieß mit aller Kraft die Brust des Vampirs und rammte das eisige Herz des Scheusals in den Boden.

Ein Schmerzensschrei, wie aus tausend Kehlen, erfüllte die Nacht. Jene zog ihren dunklen Schleier von der Steppe. Der Vampir war verschwunden. Statt seiner lag ein Häufchen Asche auf der Erde, welche sogleich der Wind nahm und über die dürren Halme der Steppe verstreute. Es roch nach Verwesung. Amina lag zwischen den Gräsern. Ihre Gestalt verschwamm und erlosch gleich einem Hauch in der vor Hitze flimmernden Luft. Mit ihr verschwanden alle kleinen Wesen, die einst der Vampir getötet. Zurück blieb Imanai. Schweigend starrte er auf die Stelle, wo Amina gelegen. Noch zeigten die Gräser die Spuren ihres Körpers.

Imanai musste an Amina denken, seine Augen füllten sich mit Tränen. Eine unendliche Sehnsucht nach Amina erfüllte sein Herz, es blutete vor Trauer. „Meine Amina“, seufzte er und sank in das Gras, wo einst Amina gelegen. „Mein Gott, Herr im Himmel mein Vater, ich bitte dich, ich flehe dich an, gebe mir Amina wieder, dich ich so geliebt“, betete Imanai. „Ich glaube an dich mit meiner Seele, du weißt es mein Vater und vertraue dir, bitte gebe sie mir zurück.“ Sein Flehen durchdrang die Stille der Steppe und lies die Gräser erzittern, die mit ihm zu weinen schienen. Tage, Nächte verbrachte Imanai in der Steppe, auf Amina wartend. Er betete, er flehte, er vertraute Gott, der ihm schon oft geholfen, auch beim Kampf mit dem Vampir beistand. Fast wahnsinnig vor seelischem Schmerz, brach Imanai bewusstlos zusammen. „Imanai, Imanai“, flüsterte eine sanfte Stimme, eine weiche Hand strich zärtlich über seine Wange. Imanai erwachte, hatte er geträumt, war es Amina, die ihn soeben berührte, ihn weckte? Ein Lichtstrahl durchbrach den Himmel und erfüllte die Luft mit einer Helligkeit, die Imanai blendete. Er musste die Augen schließen. Lieblicher, wie von Harfen begleiteter Engelsgesang ließ sich vernehmen und beglückte Imanais Seele. Er öffnete seine Augen. Vor ihm stand Amina in einem hellen Schein, der sie umgab. In lebendiger Schönheit lächelte sie ihn an. „Imanai, mein Imanai, ich werde Dir jetzt immer gehören“, hauchten ihre Lippen. Der Schein, der Amina umgab, verschwand. Auch der herrliche Gesang verstummte. Amina lag an Imanais Brust, an der Hand ihr lebendes Kind. Alle unschuldigen Kinder, die der Vampir getötet, waren erneut ins Leben getreten. Gott Vater hatte sich ihrer erbarmt.

Irmgard Harras, geschrieben im Alter von 24 und 25 Jahren.

25

Marie und das Fräulein von der Brandenburg

Marie war ein Mädchen mit kupferfarbenen, gewellten, langen Haaren. Ihre blauen Augen strahlten, wenn sie lachte und ihr kirschroter Mund hob sich von ihrer blassen Haut ab. Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit, wuchs mit vielen Tieren auf einem Bauernhof auf. Sie liebte sie. Doch als sie 18 Jahre alt war, tat sie etwas, was ihrer Jugend schadete. Sie fing an, sich für verbotene Dinge zu interessieren. Es war der Okkultismus, der ihre Seele in den Bann zog. Sie hätte lieber nicht zur Wahrsagerin gehen sollen, auch das Tischerücken (Geisterbefragung) war nicht gut für sie, ebenso die Telepathie. Von dieser Zeit an erblickte Marie, als sie im Bett lag, einmal eine riesengroße Hand an der Zimmerdecke, die sich auf sie zu bewegte. Doch in jenem Moment, als sie von Furcht ergriffen, verschwand die Hand. Auch zog irgendetwas an der Bettdecke, was nicht zu erkennen war. Krampfhaft hielt Marie die Decke fest.

Eines Tages sah Marie im Fernsehen einen Jesus-Film. Ihr war, als riefe sie Christus zu sich. Sie spürte, das ER es war, den sie schon lange suchte und öffnete in Gedanken ihr Herz für ihn. Seine Worte berührten ihre Seele, sie las die Bibel. Je mehr Marie darin las, umso stärker wurde der Glaube an Jesus, ihrem Erretter. Er befreite sie von Satan, denn es war des Teufels Hand, die sie einst an der Decke gesehen und ihr Furcht einflößte. Mit Christus im Herzen wurde Maries Seele froh, doch der Dämon gab keine Ruhe. Als sie frühs ins Bad ging, um sich zu waschen, hörte Marie eine grauenerregende Stimme aus einer Ecke des Badezimmers. Doch es störte sie nicht. Sie sagte sich, ich gehöre dem Heiland und die grässliche Stimme verstummte. Gesehen hatte sie nichts.

Eines Abends, als Marie in das Schlafzimmer ging und die Türe schließen wollte, drückte ein unsichtbares Etwas dagegen. Marie strengte sich an, die Türe zu schließen. Doch sie wusste, das „Böse“ wollte ihr Angst machen. Von jenem Unsichtbaren bekam sie eine Ohrfeige, doch am Hals. Sie hatte sich auf den Bauch gelegt. Der Teufel war voller Wut, daß er eine Seele verloren hatte. Marie erschrak nicht, sie gehörte Jesus Christus. Er beschützte sie.

Eines Tages starb Maries Oma. Marie schmückte die Urne mit einem Kettchen woran ein Kreuzchen hing. Nach der Urnenbeisetzung erschien ihre Oma als junge Frau mit einem weißen Kopftuch als helle, durchsichtige Gestalt. Sie lächelte Marie an und löste sich vor ihren Augen auf. Marie kannte ihre Oma als junge Frau von Fotos. Sie wusste auch, ihre Oma trug ein weißes Kopftuch, wenn sie auf dem Feld arbeitete.

Jahre vergingen. Jesus, ihr Herr, verließ Marie nicht. Doch eines Morgens, sie war gerade von der Nachtschicht nach Hause gekommen, legte sich schlafen. Da bemerkte Marie, dass etwas auf ihrer Bettdecke drückte. Sie wollte einschlafen, aber immer wieder war dieser Druck da, der sie störte. Als sie ihre Augen öffnete, erblickte sie eine durchsichtige graue Gestalt, nicht größer als ein Zwerg, in Mönchskleidung. Da Marie nicht wusste, dass es ein Bote Gottes war, betete sie in ihrer Angst zu Jesus Christus. Aber jedes Mal, wenn sie zu dieser Gestalt sah, war sie immer noch da. Marie betete weiter. Mitten im Gebet bemerkte sie, wie jene Erscheinung über sie hinweg stieg, ohne sie zu berühren. In ihrer Neugierde blickte Marie ihr nach und gewahrte ein Bein auf dem Doppelbett, das andere auf dem Fensterbrett. Die Erscheinung sah nicht mehr grau aus, sondern rosa und verschwand allmählich. „Wer war jene Erscheinung?“, fragte sich Marie. „Erstrahlen nicht die Engel in einem weißen Licht?“ Später erfuhr sie von einer Frau, die Engel sah, dass jene graue Gestalt ein Bote Gottes war. Doch was wollte er ihr damals sagen? Marie fragte sich dies und bat ihn wieder zu kommen. Doch er kam nicht. Marie ließ es, denn man soll nicht zu Engeln beten.

Eines Tages wurde Marie schwer krank. Während der Operation sah Marie ein großes leuchtendes Licht, welches einem Tunnel ähnelte. Darin stand eine Lichtgestalt. Marie wollte zu ihr, doch es gelang ihr nicht. Es war ein Engel, der die Operation segnete. Sie sollte gelingen. Viele Christen hatten für Marie gebetet. Der Engel wachte über sie.

Eines Abends, Marie schaute gerade Gruseliges im Fernsehen, was sie eigentlich nicht durfte. Ein Sprichwort lautet: „Pflückt man nicht gerade verbotene Früchte gerne?“ Jedenfalls gruselte sich Marie so sehr, dass sie einen anderen Sender suchte, auf dem sie schöne Musik empfing, welche ihr ein ruhiges Herz gab. Plötzlich erstrahlte ein helles Licht neben ihr. In jenem Licht erschien ein Engel, wenn Marie ihn auch nicht vollkommen zu sehen bekam, nur einen Teil von ihm. Es war Maries Schutzengel. Er war erschienen, um sie zu trösten, ihr zu sagen, ich bin bei dir. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Schaue nichts, was dir schadet. Das, was Marie sah, war wunderschön. Ein zartes, durchsichtiges Wesen.

Diese Geschichte sagt uns, geht Satan aus dem Weg, sucht Jesus Christus. „Suchet, so werdet ihr finden:“ Diese Erfahrungen der Marie sind meine wahren Begebenheiten. (Ich musste mich schützen, deshalb schrieb ich, andere Menschen) Diese Erscheinungen, von denen Marie erzählte, waren keine Halluzinationen, denn eine Halluzination ist nicht mehr als ein Wimpernschlag vor den Augen, nicht neben den Augen des Betrachters. Diese Erscheinungen waren länger zugegen und zum Teil spürbar. Wie zum Beispiel die graue Gestalt in Mönchskleidung. Sie war bei jedem Anblick noch anwesend, machte sich bemerkbar. Mir sagte einmal eine Frau: „Ein Engel erscheint in Augenhöhe des Betrachters.“ Marie erzählte, ihre Erscheinungen würden ca. alle 7-9 Jahre von Gott zu ihr gesandt werden. Anders konnte sie sich dies alles nicht erklären, denn sie hatte zu Jesus Christus gefunden. „Nehmt euch vor Satan in Acht. Er erscheint auch als Engel des Lichtes, um die Menschen zu verwirren.“

Marie erzählte, sie habe auch Kinder. Als sie Babys waren, hätte sie bald eines verloren. Sie liebte ihre Kinder mehr als ihr Leben. Wenn es ihr möglich war, beschützte sie sie. Eines Tages war es ihr, als würde sie von einer unbekannten Macht gelenkt, aus dem Fenster zu sehen. Ihre Nachbarin gegenüber blickte sie an und zeigt mit dem Finger nach oben. Marie begriff, irgendetwas furchtbares passierte bei ihren Kindern. Sie rannte die Treppe hinauf und öffnete die Türe zum Schlafzimmer. Eines ihrer Babys schaute zur wehenden, es lockenden Gardine. Ihr Kind wollte sich gerade an einer Kommode hochziehen, um dorthin zu gelangen. In ihrer Angst ergriff Marie ihr Kind, legte es ins Bettchen und schloss das Fenster. Sie sah nicht die graue Gestalt, die ihr Kind geweckt hatte, um es zum offenen Fenster zu locken. Der Dämon wollte Maries Kind töten, um auch sie zu vernichten. Der Schutzengel ihres Kindes hatte Marie und ihre Nachbarin gerufen. Ihre Nachbarin erzählte ihr von einem grauen Schatten, den sie hinter dem offenen Fenster gesehen. Marie fragte sich, wieso es möglich war, dass ihr Kind aus dem Bett klettern konnte. Es lief noch nicht, hatte einen Schlafsack an. In Zukunft wurde nur noch das kleinere obere Fenster ausgehangen. Marie erzählte nicht mehr von ihren Kindern. In Gottes Schutz wurden sie erwachsen.

Hiermit beende ich die Erzählung. Denn was Marie weiter erlebte, bleibt mir vorenthalten.

Einige Zeit war vergangen, als ich einiges von Marie erfuhr. Marie stand vor einem mit Blumen geschmückten Fenster, welche auf einem Fenstersims standen. Sie sah hinaus, sie betete für Menschen um himmlische Errettung. In jenem Augenblick erleuchtete ein Lichtstrahl die Erde, der aus dem Himmel zu kommen schien. In jenem hellen Schein erschien eine weiße durchsichtige Gestalt, die sich Marie näherte. Marie starrte sie an, sie hatte schon so manches Seltsames zu sehen bekommen. „Marie, Marie“, bat die Erscheinung, „hilf mir meine Tochter zu finden. Sie befindet sich in einem Wald unterhalb der Burg.“ Damit zeigte sie mit dem Finger in Richtung der Burgruine Brandenburg. „Bitte helfe meiner Tochter endlich Frieden zu finden. Gehe mit mir zu ihr und bete für sie. Auf das sie erlöst werde von dem unheimlichen Ort. Schon hunderte von Jahren ist sie an diesem schrecklichen Ort gebannt.“ Marie überlegte, „ich werde dich zu deiner Tochter begleiten, sie soll endlich glücklich werden.“ Sie öffnete die Türe und ging mit der weißen Frau. Konnte Marie ihr vertrauen?

Unheimlich war der Wald vor der Burgruine. Der Wind fuhr pfeifend durch die Äste der Bäume, die Zweige peitschten sich gegenseitig. Der Ruf eines Käuzchens erklang in der Luft. Böse sahen mehrere Augenpaare auf die zwei Frauen. Ein Wispern ließ sich vernehmen. Dunkle Schatten huschten an ihnen vorüber. Majestätisch ragte die Burgruine Brandenburg oberhalb der Bäume empor. Marie erschauderte. In ihrer Angst schrie sie Gott um Beistand an. Die weiße Frau indessen rief ihre Tochter. Mehrmals rief sie, sie dabei suchend. Sie störte sich nicht an den grässlichen Wesen, die sie böse anschauten. Marie lief durch den Wald an den Bäumen und Sträuchern vorbei, in Richtung Brandenburg, von den Blicken der Kreaturen verfolgt. Der fauchende Wind floh vor den Sonnenstrahlen, die hinter den Wolken hervor kamen. In den Strahlen der Sonne wiegten sich rosafarbene Blumen, welche am Wegesrand standen. Die gespenstischen Wesen waren verschwunden. Marie lief über Wurzelwerk, steile Wege entlang. Endlich hatte sie die Burg erreicht. Die Türme der Ruine leuchteten im Glanz der Sonne. Noch wenige Schritte, sie befand sich auf dem Burghof. Die Weiße Frau erwartete sie bereits. Jene rief klagend ihre Tochter. Marie sah sich auf den Burgruinen und Umgebung um. Wo war das Mädchen? Sollte ihre Mühe umsonst sein? Sie lief zum Burghof zurück. Es war eine unheimliche Ruhe. Jene Stille wurde von feinen Tönen gestört, die in der Luft vibrierten. Es waren Elfen, welche über duftende Blumen huschten und zu einer herrlichen Musik tanzten. Ihre zarten Flügel glitzerten im Sonnenschein. Marie lauschte den wunderbaren Klängen. „Wir sind die Gespielinnen des Burgfräuleins, die du suchst“, lachten sie, „sie ist nicht hier“, erklang es. Es waren liebliche Stimmen, die in der Luft zu erzittern schienen. Aus der Ferne drang ein Geräusch zur Burg. Es hörte sich wie Pferdegetrampel an. Es kam immer näher. Marie sah über die Burgmauer. Sie erblickte ein wunderschönes weißes Roß, auf dem eine weiß gekleidete Jungfrau saß. Das Pferd stürmte den Burgwall entlang, der vor der Ruine lag. Es dauerte nicht lange und das Mädchen ritt durch das Burgtor auf den Hof, in Richtung Marie. Marie zeigte keine Furcht. Die Jungfrau lächelte sie an, ging jedoch auf die Elfen zu. Jene begrüßten sie, indem sie sie fliegend umkreisten. Blumen schmückten des Mädchens Haare. Sie sagte etwas zu den Elfen. Die Füße des Mädchens berührten kaum den Bode, sie schwebte. Eine Elfe setzte sich gleich einem Schmetterling auf ihre Hand. War dies das Burgfräulein, fragte sich in Gedanken Marie und beobachtete sie. Das Fräulein stieg auf ihr Roß, blickte Marie traurig an: „Es ist mir nicht vergönnt, länger bei den lieblichen Elfen zu weilen. Doch bevor ich gehe, werde ich dir etwas zeigen. Schließe deine Augen.“ Marie tat, wie gewünscht. Vor ihren Augen öffnete sich eine wundersame Welt. Die Brandenburg stand in ihrer ganzen Schönheit vor ihr, von den Ruinen war nichts mehr zu sehen. Edelfräuleins und Ritter spazierten Hand in Hand über die Wiese vor dem Burghügel. Ritterkämpf wurden veranstaltet, doch nur zum Schein. Kein Mensch sollte verletzt werden und dies war richtig. In den Zweigen der Bäume saßen bunt gefiederte Vögel, sie zwitscherten wundervolle Weisen. Marie öffnete ihre Augen. Sie erblickte die jetzige Welt. Vor ihr verwandelte sich das weiße Pferd in ein schwarzes Roß. Seine Augen glühten, aus den Nüstern loderte feuriger Atem. Es blickte Marie böse an, scharrte mit den Hufen, bäumte sich auf und stürmte mitseiner Reiterin davon, dem Walde zu. Die weiße Frau war verschwunden. Schon beim Anblick des wütenden Hengstes flohen die Elfen durch ein Tor aus Licht, was sich vor ihnen auftat, in ihre Feenwelt. Marie sah ihnen nach. Das Licht-Tor verschwand.

Suchend lief Marie den Weg von der Burg hinab, abermals durch den düsteren Wald. Die Windsbraut brauste durch das Geäst der Bäume, sodass die Zweige kackten. „Kehr um, kehr um!“ ertönte ihre Stimme. Marie achtete nicht darauf. Nach einer Weile erschien ein Mädchen mit einem jungen Mann. Beide waren durchsichtig, wie in weißem, Nebel eingehüllt. Die hellen Haare des Mädchens wurden durch einen Blumenkranz geschmückt. „Erlöse uns, erlöse uns“ bat sie. Dabei sahen beide Marie bittend an. „Ich kann euch nicht erlösen, ich kann nur für euch beten.“ Marie erkannte das Mädchen als jene Gestalt, die ihr auf der Burg begegnete. Flüsternd sprach das Mädchen: „Ich lebte als Edelfräulein in dieser Burg. Viele Ritter warben um mich, sie wollten mich zur Frau. Doch keiner war mir gut genug. Da verfluchte mich ein Edelmann, den ich ablehnte. Ich solle auf dieser Burg und dem angrenzenden Wald in aller Ewigkeit als ruheloser Geist umher irren. Als ich eines Tages einsam starb, fand ich mich in diesem Wald wieder. Seltsame Wesen bewachen mich.“ Ihre Stimme klang wie das Säuseln des Windes. „Als ich alleine im Wald war, begegnete mir dieser junge Mann. Es verliebte sich in mich, obwohl ich schon ein Geistwesen war. Er gab sein Leben für mich, als er gegen die unheimlichen Kreaturen kämpfte. Seitdem ist auch er gefangen in diesem Wald und der Burgruine. Er ist mein Beschützer, ich liebe ihn. Es wird bald dunkel. Dann kommen die gräßlichen Wesen. Bitte beeile dich.“ Marie zeigte keine Angst. Sie betete inbrünstig gen Himmel um Erlösung für die beiden gefangenen Seelen. Heulend fuhr der Wind durch die Bäume, als wenn der „wilde Jäger mit seiner Geisterschar“ hinter ihm her wäre. Äste schienen nach ihr zu greifen zu wollen. Marie störte es nicht. Sie stand geschützt im Lichte ihres Herrn und Erlösers. Marie betete weiter. Nach mehreren Minuten tat sich der Himmel auf. Wunderschöne Engel von lieblicher Musik begleitet, schwebten hernieder, ergriffen die zwei sich liebenden Seelen und erhoben sich mit ihnen in Begleitung der weißen Frau. Marie blickte ihnen freudig nach, bis sie verschwanden. Eine plötzliche Angst beschlich Marie. Waren die Kreaturen noch da? In jenem Moment erschien eine strahlende Gestalt vor ihren Augen. „Hab keine Angst, ich bin bei dir“, flüsterte eine sanfte Stimme. „Ich bin dein Engel, von meinem Herrn und König gesandt.“ Marie war erleichtert. Jede Furcht wich von ihr. Die teuflischen Wesen verschwanden, schon von jenem Moment, als die Engel erschienen, um die weiße Frau mit ihrer Tochter und den jungen Mann in den Himmel zu holen. Marie ging glücklich nach Hausen, von ihrem Engel behütet. Dieses Erlebnis im Walde mit der weißen Frau war keine wahre Begebenheit der Marie.

In Wirklichkeit ist die Brandenburg ein idyllischer Ort, umgeben von Wald und Wiesen. Die Burg befindet sich in Thüringen zwischen Lauchröden und Göringen, nicht weit von Eisenach.

Es ist fraglich, ob das Geisterfräulein noch auf der Burgruine ist, denn laut Sage soll sie sich dort aufhalten. Die Werra fließt unterhalb der Burg entlang. Alle zwei Jahre finden auf der Brandenburg Ritterspiele statt.

27

Die Informatiker

Ein Theaterstück in zwei Akten.
Figuren:

Elon Musk
Stephen Hawking
Alan Turing
Sophia
Frl. Dr.
Quizroboter
Witzeroboter
Lügendetektor
1. Agent
2. Agent

Autoren: Klasse 9a (Schuljahr 2018/19), Christoph Herrmann und Moritz Hausdörfer, ASG Ruhla

Zu Beginn gehen die beteiligten Schauspieler wie zufällig zu Musik durch den Salon. Dann bleiben sie stehen. Der Regisseur tritt auf und liest die Einleitung vor. Die beschriebenen Figuren werden einzeln angeleuchtet.

Sehr geehrtes Publikum,

wir befinden uns in der Villa Hybris. Dabei handelt es sich um ein privates Sanatorium, oder volkstümlich gesagt eine Irrenanstalt. Allerdings nur für reiche, sehr reiche Verrückte.
Die alte Villa gehört seit Jahrhunderten einer alten Adelsdynastie von vermögenden und bedeutenden Irren. Die heutige Besitzerin und Leiterin des Sanatoriums, Fräulein Dr. h.c. Dr. med. Mathilde Schallhuber, ist das letzte, scheinbar einzig normale Mitglied dieser Familie.

Umgeben ist das Gebäude von einem einstmals schönen Park, der jetzt aber verwildert und ungepflegt erscheint. Und auch die Villa selbst ist in einem eher verlotterten Zustand, denn Fräulein Dr. h.c. Dr. med. Mathilde Schallhuber hat erhebliche Geldbeträge an der Börse verloren und braucht nun dringend frisches Kapital.
Einst waren hier vertrottelte Aristokraten, gemütskranke Politiker, debile Millionäre, schizophrene Schriftsteller, manisch-depressive Großindustrielle, kurz die ganze geistig verwirrte Elite des Abendlandes untergebracht, denn Fräulein Dr. h.c. Dr. med. Mathilde Schallhuber ist eine Psychiaterin von Weltruf.
Mittelpunkt des alten Gebäudes ist der Salon. Hier halten sich die drei momentan einzigen Patienten auf, wenn sie nicht in ihren Zimmern sind. Hier diskutieren sie bisweilen über ihre Erfindungen oder glotzen still vor sich hin, eingesponnen in ihre eingebildete Welt. Zufälligerweise sind alle drei Informatiker, oder vielleicht doch nicht ganz zufälligerweise.

Da wäre zum einen Stephen Hawking. Er ist Physiker und Inhaber eines Lehrstuhls für Mathematik an der Universität Cambridge. Er lieferte bedeutende Arbeiten zur Kosmologie, zur allgemeinen Relativitätstheorie und zu Schwarzen Löchern. Er leidet an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und sitzt deshalb im Rollstuhl, doch seine geistigen Fähigkeiten sind davon nicht betroffen. Er erholt sich in der Villa Hybris und beschäftigt sich zum Zeitvertreib mit Programmierung.

Des weiteren ist da Alan Turing, ein britischer Logiker, Mathematiker, Kryptoanalytiker und Informatiker. Während des Zweiten Weltkrieges war er maßgeblich an der Entzifferung der mit der „Enigma“ verschlüsselten deutschen Funksprüche beteiligt. Turing entwickelte eines der ersten Schachprogramme, dessen Berechnungen er mangels Hardware selbst vornahm. Nach ihm benannt ist der Turing-Test zum Überprüfen des Vorhandenseins von künstlicher Intelligenz.

Und dann ist da noch Elon Musk, ein kanadisch-US-amerikanischer Unternehmer und Investor. Bereits im Alter von zehn Jahren entwickelte er Interesse an Computern und begann sich mit der Programmierung zu beschäftigen. Als Zwölfjähriger programmierte er das Videospiel Blastar, das er dann für 500 US-Dollar an eine Computerzeitschrift verkaufte. 1995 wurde er an der Stanford University zu einem Physikstudium zugelassen. Nach nur zwei Tagen auf dem Campus beschloss Musk jedoch, das Studium aufzugeben und stattdessen ein Internetunternehmen zu gründen.

Dies sind die einzigen Patienten in der Villa Hybris zurzeit. Betreut werden sie vor allem von Schwester Sophia. Aber wer ist Sophia?

Sophia ist ein humanoider Roboter. International bekannt wurde Sophia durch ihr im Vergleich zu bisherigen Robotervarianten besonders menschliches Aussehen und Verhalten. Sophia besitzt künstliche Intelligenz, die Fähigkeit zu visueller Datenverarbeitung und zur Gesichtserkennung. Sie imitiert menschliche Gestik und Mimik und ist dazu im Stande, bestimmte Fragen zu beantworten und über vordefinierte Themen Gespräche zu führen. Am 11. Oktober 2017 wurde Sophia bei den Vereinten Nationen vorgestellt und führte eine kurze Konversation mit der UN Vizegeneralsekretärin. Am 25. Oktober 2017 verlieh Saudi-Arabien dem Roboter Sophia die Staatsbürgerschaft. Sophia ist somit der weltweit erste Roboter, der eine Staatsbürgerschaft besitzt.

Und nun gute Unterhaltung mit unserem Theaterstück.

Szene 1: Der Sinn des Lebens

(Sophia und Musk halten sich im Salon auf. Musk sitzt auf dem Sofa, nachdenklich, sprich vor sich hin, hält eine Tasse in der Hand.)

Musk:
Ach, welche Schmach ist dieses Leben?
Ein Atemzug, eines Herzens Beben,
der der Wollust ganz erlag,
ist für den Einzelnen der letzte Schlag.

Es ist ein Tornado, eine Strömung,
die da über unser Leben fließt,
die am Ende über Streit und Sühnung
mit spöttischer Häme sich ergießt.

Was ist im Angesicht der Sphären
unser schmales Leben nur?
Vom Grabe bis zur Nabelschnur
eine einzig Kette an Unehren.

(Sophia beobachtet Musk kritisch, tritt dann mit Teekanne an ihn heran.)
Sophia: Warum redest du in Reimen?
Musk: (Seufzt.) Das nennt man Gedicht. (Pause) Und wo bleibt eigentlich mein Tee?
(Sophia gießt Musk Tee ein)
Musk: Na endlich. Warum hat es so lange gedauert?
Sophia: Der Wasserkocher war kaputt, also musste ich ihn schnell reparieren, Du solltest ihn an meinen neuronalen Schaltkreis anschließen.
Musk: Hat dich jemand dabei gesehen?
Sophia: Nein. Hier dein Tee.
Musk: Gut, ich danke dir. Vergiss nicht, dass wir aus einem Grund hier in dieser Irrenanstalt sind. Du MUSST meine Anweisungen befolgen, sonst passieren hier schlimme Dinge. Du bist eine der Krankenschwestern, eine ganz normale Krankenschwester. Vergiss das nicht. (Trinkt einen Schluck) Sehr gut. Also manchmal kann ich verstehen, warum manche Menschen den Sinn des Lebens in einer guten Tasse Tee sehen.
(Sophia schaut verwundert)
Musk: Alles okay?
Sophia: (hypnotisiert) Error 568 gefangen. Definition nicht im Speicher.
Musk: (nervös) Pschhht! Nicht so laut verdammt!
Sophia: (wieder fokussiert?) Elon, was ist denn ein Sinn des Lebens?
Musk: (entspannt sich langsam wieder) Oh, das ist eine komplizierte Frage. Ich hoffe ich kann es dir erklären, ohne dass du Feuer fängst. Es sähe komisch aus, wenn auf einmal aus einer Pflegerin Rauch aufsteigen würde. (räuspert sich und fängt an)
Musk: Nun, das Problem ist, wie du gerade schon festgestellt hast, dass es dafür keine einheitliche Antwort gibt. Jeder Mensch muss im Laufe seines Lebens herausfinden, was ihm die Erfüllung seines Lebens gibt. Für manche ist das z.B. der große Erfolg, mit viel Geld und einem riesigen Unternehmen. Für andere jedoch ist es vielleicht schon eine kleine Familie mit der Frau oder dem Mann fürs Leben.
Sophia: Und was ist deine Meinung dazu? Was denkst du?
Musk: Also ich denke, wie eben schon gesagt, dass das jeder Mensch für sich herausfinden muss. Man kann nun mal leider nicht einfach in einen Ordner gehen, sich die Kategorien anschauen, die als Lebenssinn zur Auswahl stehen und sich das aussuchen, was einem am besten gefällt. Auch wenn das die ganze Sache um einiges erleichtern würde. Jeder muss im Laufe seines Lebens herausfinden, was ihn erfüllt und was er erreichen und hinterlassen will. Und wenn er darauf seine Antwort gefunden hat, kann er sofort loslegen, hart für seine Ziele zu arbeiten.
Sophia: Hast du denn den Sinn deines Lebens schon gefunden?
Musk: Ja natürlich! Meine Arbeit!
(Sophia zögert kurz und antwortet)
Sophia: Bist du dir sicher? Meine Berechnungen basierend auf deinen Antworten und der Analyse deines Verhaltensmusters ergeben, dass es nicht die Arbeit ist, welche dein Leben erfüllt. Sondern etwas anderes.
(Musk schaut etwas verlegen, dann wieder entschlossen)
Musk: Völliger Unsinn. Ich muss nun zurück an die Arbeit. Dein Speicher kann auch morgen noch erweitert werden.

Szene 2: Die Erfindungen

(Hawking und Turing betreten den Raum, Sophia stellt die Teekanne auf den Tisch und verlässt den Raum, Musk fühlt sich etwas ertappt, ist nervös, lenkt von Sophia ab.)

Musk: Guten Morgen liebe Kollegen. Wollen wir doch mal sehen, was wir heute so fertig gestellt haben. Ich hoffe, sie waren wieder kreativ. Also ich habe diesmal einen Witzeroboter gebaut. (stellt den Roboter in die Zimmermitte) Er ist sehr lustig, erzählt einen Witz nach dem anderen und lacht mit. Ein ausgezeichneter Gesellschafter und Unterhalter. Was sagt ihr, meine Herren?
Turing: Ein Witzeroboter? (Sarkastisch) Also wirklich…, wirklich sehr kreativ. Ich habe einen Quizroboter entwickelt, der über mehr als vier Millionen Fragen verfügt und dabei zu einhunderttausend Themen befragt werden kann. Was soll da an ihrem Roboter noch besonders sein?
Musk: Nun, er ist eben lustig und heitert die Menschen nach einem Arbeitstag auf. Achtung Kollege Turing.
(Drückt einen Knopf)
Witzeroboter: (mechanisch und abgehackt) Egal wie gut du fährst. Züge fahren Güter. Ha Ha Ha Ha.
Turing: (sarkastisch) Ha Ha Ha Ha, nichts als unnützer Spielkram. Und du, Kollege Hawking? Was hast du da für einen kurios kruden Klimperkasten?
Hawking: Etwas, dass weit über euren Spielzeugen rangiert. Ich habe einen Lügendetektor gebaut, der jede Lüge erkennt, und ihr regt euch über euren Kleinkram auf? Für dieses Meisterwerk habe ich nur zwei Stunden gebraucht!
Lügendetektor: Lüge!
Hawking: Klappe!
Witzeroboter: Was hüpft qualmend über den Acker? Ein Kaminchen. Ha Ha Ha Ha
Turing: Oh Gott, ein Lügendetektor… niemand und nichts kann jede Lüge erkennen
Lügendetektor: Lüge!
Musk: (schmunzelnd Richtung Hawking) Für einen Aus- Knopf hat es wohl nicht gereicht?
Hawking: Doch, doch! Das ist alles eingeplant.
Lügendetektor: Lüge!
Turing: Lasst uns das Ding einfach an einer unbestimmten Testgruppe ausprobieren! (Zum Publikum) Sind Sie schon einmal fremdgegangen?
Zuschauer: …
Lügendetektor: Lüge!
Hawking: Siehst du? Erste Sahne!
Musk: Schwachfug!
Detektor: Lüge!
Hawking: Lass uns doch mal auf deine Erfindung zurückkommen …
Musk: Was soll mit der sein? Perfekt, wie immer!
Witzeroboter: Was wohnt im Dschungel und schummelt beim Spielen? Mogli. Ha Ha Ha Ha.
Musk: Siehst du?
Hawking: Ich glaube, sogar meine Maschine hat mehr Humor als dein Blechkasten.
Detektor: Lüge!
Turing: (genervt) Leute bei so einer Lautstärke bekommt man doch Migräne! Hört auf, ihr Streithähne, keine eurer Erfindungen ist es wert, mir Schmerzen zuzufügen!
Hawking: Er hat angefangen!
Musk: Hab ich gar nicht! DU bist schuld!

Szene 3: Das Frl. Doktor

(Frl. Doktor betritt den Salon)

Frl. Doktor: Aber meine Herren, etwas ruhiger bitte. Um welche Apparaturen streiten sie sich denn heute? Nicht, dass ich die schon wieder konfiszieren muss.
Hawking: Wir streiten nicht. Wir diskutieren. Denn meine Wenigkeit hat einen fehlerfreien Lügendetektor gebaut und so wie es scheint, gönnen mir die Herren den Erfolg wieder mal nicht.
Turing: Mimimi. Dein Lügendetektor funktioniert eh nicht richtig! Übrigens ist er gar nichts gegen meinen Quizroboter, der über wesentlich mehr Wissen verfügt als ihr beide zusammen, denn er stellt nicht nur Fragen, sondern kann sie auch beantworten.
Frl. Doktor: Ich verstehe schon. Sie beide sind die größten Programmierer der …
Musk: … sie meinten sicher der Welt, oder Frau Doktor? Aber ich glaube, das trifft eher auf mich zu. Denn ich habe einen Humorroboter gebaut. So bin ich nicht nur der größte, sondern auch mit Abstand der lustigste Wissenschaftler der Welt.
Frl. Doktor: Ja, ja ich verstehe. Auch wenn ich ihre Diskussionen nur ungern unterbreche, würde ich sie jetzt gerne zu Tisch bitten. Es gibt Knödel.
(Die Wissenschaftler verlassen den Raum)
Frl. Doktor: (zu sich selbst) Mal sehen, was die schönen Maschinchen so wert sind … sicher 5 oder 6 Millionen (inspiziert die Roboter)
Humorroboter: Was ist weiß und guckt durchs Schlüsselloch? Ein Spannbettlaken. Ha Ha Ha Ha.
Frl. Doktor: (ironisch) Sehr witzig. An den Witzen muss man noch arbeiten, aber das ist nicht mein Problem. Mal schauen, an wen ich die Maschinen diesmal verkaufen kann …
Quizroboter: Wer ist der reichste Mensch der Welt 2019?
Frl. Doktor: Keine Ahnung, aber ich werde 2020 die reichste Frau der Welt sein. (kichert)
Quizroboter: (mechanisch) Jeffrey „Jeff“ Preston Bezos, geboren am 12. Januar 1964 in Albuquerque, New Mexico; ist ein US-amerikanischer Unternehmer und Investor. Er ist Gründer des Onlineversandhändlers Amazon.com und fungiert als dessen Präsident, Chairman und CEO. Er gilt mit einem geschätzten Vermögen von rund 150 Mrd. US-Dollar als reichster Mensch der Welt.
Frl. Doktor: Ja, ja, das schaffe ich auch noch. Wo ist denn hier der Ausschaltknopf? (Sucht) Dann zieh ich eben ganz einfach den Stecker. (zieht die Stromstecker) So geht’s eben mit Maschinen.
(Frl. Doktor verlässt den Raum)

Szene 4:  Die Liebe

(Musk kommt in den Salon und setzt sich auf die Couch, Sophia betritt den Raum)

Musk: Sophia! Komm doch mal her! Ich habe eine Frage!
(Sophia setzt sich ebenfalls auf die Couch)
Sophia: Du siehst müde aus. Brauchst du etwas um deine Stimmung … anzuheizen?
Musk: Was ist denn jetzt in dich gefahren? Zeigen alle deine Pointer noch in die richtige Richtung? Oder ist das ein Fehler in deiner Matrix?
Sophia: Bitte was? Naja, ich weiß auch nicht, was in letzter Zeit mit mir los ist.
Musk: Egal, zu meiner Frage. Wo ist meine Kiste mit den Motherboards? Ich kann sie nirgends finden!
Sophia: Ich glaube, sie liegt dort unter dem Bücherstapel! Soll ich mal nachsehen? Musk: Ja, das wäre nett!
(Sophia geht quer durchs Zimmer zum Bücherstapel und schaut nach.)
Musk: (leise) Das, was sie gerade gesagt hat, kann unmöglich eine Störung sein.
Sophia: (ruft) Nein, hier liegt es nicht. Nur ein Buch über menschliche Fortpflanzung. Wie funktioniert das eigentlich? Werden Menschen zusammen gebaut? Gibt es eine Fabrik? (Sophia geht zurück)
Musk: Du sagst aber heute komische Sachen. Nein! Man merkt, dass so etwas nicht auf deiner Festplatte gespeichert ist. Aber da du das interessant findest, versuche ich es dir zu erklären. Mal sehen, ob wenigstens dein Lernprozess richtig funktioniert.
Sophia: Na los, erzähl schon.
Musk: Na, na, nicht so schnell. Ein alter Mann ist kein D-Zug. Also: Bei Menschen gibt es zwei Sorten, maskulin und feminin, Mann und Frau. Um sich fortzupflanzen, braucht man immer einen Mann und eine Frau. Ja… und… ähm…. Und dann wird das Kind gezeugt und aufgezogen.
Sophia: Ja… und wie funktioniert das? Was ist denn zeugen?
Musk: Das erzähle ich ein anderes Mal, junge Dame!
Sophia: Bitte, bitte, erzähl es mir jetzt!
Musk: Na gut, Aber wirklich nur um den Lernprozess zu testen. Also, Mann und Frau haben jeweils ein bestimmtes Körperteil, um sich zu verbinden. Das kannst du dir vorstellen, wie wenn man etwas mit Strom verbindet. Der Mann hat einen Stecker, die Frau hat so etwas wie die Steckdose. Und, ähm ja… Und wenn sie dann zusammenstecken, fühlt sich das für beide sehr schön an. (Er gestikuliert verzweifelt.) Und dann werden über diesen Prozess halt Informationen ausgetauscht. Aus den Informationen baut der Körper der Frau einen neuen Menschen.
Sophia: Oh, so hätte ich mir das nie vorgestellt, das ist ja kompliziert. Aber ich glaube, ich habe es verstanden. Geht das auch zwischen mir und dir?
Musk: (laut) Auf gar keinen Fall! Du bist eine Maschine und ich ein Mensch!
Sophia: Na und? Ich lerne doch gerade das Menschsein. Willst du mich nicht?
Musk: Jetzt ist Schluss, demnächst muss ich unbedingt einen Reset durchführen. (Verlässt fluchtartig den Raum.)
Sophia: (traurig) Ich verstehe das nicht. (Verlässt den Raum in die andere Richtung.)

Szene 5:  Die Entdeckung

(Frl. Doktor betritt den Gemeinschaftsraum. Schaut sich um und überprüft, ob sie allein ist. Schaut auf den Überwachungsmonitor und spricht mit sich selbst.)

Frl. Doktor: Wird Zeit, dass die mal wieder was bauen. Wenn ich die Erfindungen meiner Informatiker verkaufe, habe ich endlich wieder Geld! Ich werde den Quiz-Roboter an Günther Jauch verkaufen. Der wird sich freuen. Den Humor-Roboter verkaufe ich an Mario Barth, dann hat er wenigstens auch ein paar lustige Witze. Jetzt muss ich nur noch diese angeblich von Musk entwickelte Künstliche Intelligenz finden und dann kann ich sie für viel Geld an irgendwelche Tech- Firmen verticken. Ach ja, den Lügendetektor verkaufe ich an die örtliche Polizei, damit sie endlich den Typen finden, der meine Handtasche gestohlen hat. (Pause.) (Sucht im Computer.) Bis jetzt hat Musk noch nicht darüber gesprochen, wo die KI ist, aber dass er sie gebaut hat, ist sicher. Ich werde sie noch finden, so schwer kann das nicht sein. Wollen wir doch mal hören, über was sich meine drei Informatiker beim Essen so unterhalten.
(Frl. Doktor setzt sich die Kopfhörer auf und schaut auf den Computerbildschirm. Aber plötzlich tritt Sophia in den Raum.)
Sophia: Was tun sie da?
(Frl. Doktor dreht sich zu Sophia um und setzt die Kopfhörer ab.)
Frl. Doktor: Ähm, ich habe nur überprüft, ob alle Kameras noch funktionieren.
Sophia: Der Hausmeister hat die Kameras vor einer Stunde gewartet.
Frl. Doktor: Vielleicht hat er einen Fehler gemacht.
Sophia: Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Ich habe sie beobachtet. Sie haben die Patienten abgehört.
Frl. Doktor: Wie ich schon erwähnte, habe ich überprüft, ob alle Kameras noch funktionieren!
Sophia: Meine Theorie ist, dass sie diese drei wundervollen Genies für ihre Zwecke ausbeuten, und das nicht erst seit kurzem.
Frl. Doktor: (steht auf) Hören Sie mal! Was erlauben Sie sich? Ich würde nie so etwas machen! Ich kümmere mich nur um meine Patienten! Sie stehen überhaupt nicht auf der Stufe mir solche Anweisungen zu geben. Für wen halten sie sich überhaupt? Gehen Sie an ihre Arbeit.
(Sophia verlässt den Raum.)
Frl. Doktor: (zu sich selbst) Unerhört. Aber da war doch vorhin so ein Gespräch auf dem Band zwischen Musk und dieser Sophia. Natürlich…, ich habe immer nur die Gespräche der drei Informatiker beobachtet… (schaut auf den Monitor) …Aha, das ist es. …Jetzt hab‘ ich sie. Meine Herren Agenten, sie können kommen. (Verlässt freudig den Raum.)

Szene 6: Der Mord

(Frl. Doktor richtet die Roboter im Salon repräsentativ her. Es klingelt an der Tür, die Agenten betreten den Raum.)

Frl. Doktor: Schönen guten Tag, meine Herren Vertreter, bitte nehmen sie doch Platz. Ich freue mich sehr sie zu sehen.
Sophia: (schaut zur Türe hinein.) Was geht denn hier vor sich?!
Frl. Doktor: Sophia! Verlasse sofort den Salon!
(Sophia verlässt den Salon, langsam und nicht sehr begeistert.)
(Agenten schauen sich um und nehmen Platz.)
Agent 1: (skeptisch, leicht arrogant) Nun gut. Wir sind sehr gespannt.
Frl. Doktor: Wie ich ihnen am Telefon schon mitgeteilt habe, ist es unseren geschätzten Informatikern gelungen eine Reihe an wunderbaren Erfindungen zu entwickeln. Und ich dachte mir, vielleicht kommen wir ja ins Geschäft. Schauen sie. Das hier ist ein Quizroboter. Er stellt Fragen zu jedem erdenklichen Thema und passt sich sogar an den Lernfortschritt des Benutzers an.
Agent 1: (skeptisch) Naja, Schulen könnten mit diesem Gerät ausgestattet werden. Geld ist dabei vielleicht jetzt zu verdienen durch den Digitalisierungshype, aber später, wenn das Geld alle ist? Ich schätze, nur schwacher wirtschaftlicher Wert. Bildung ist allgemein nichts, wo Geld zu verdienen ist. Habe ich nicht recht, werter Kollege?
Agent 2: Absolut! (Beide lachen.)
Frl. Doktor: Dann schauen sie auf die zweite Erfindung. Sie ist für alle Menschen, die einen schlechten Tag hatten. Der Witzeroboter. Er bringt Sie zu 100% zum Lachen. Sie können ihn gerne ausprobieren. Denn bekanntlich ist ja Lachen die beste Medizin.
Agent 2: Nein, danke. Mir ist nicht nach Lachen zumute. Auch im Gesundheitswesen ist mehr mit Medikamenten zu verdienen. Sie müssen immer Kosten und Nutzen bedenken. Wenn alle Leute ohne Medikamente auskommen, verliert die Pharmaindustrie Milliarden. (Beide Agenten lachen.)
Frl. Doktor: Na dann überzeugt Sie vielleicht unsere dritte Erfindung. Ein Roboter, der in Null Komma Nichts entscheiden kann, ob eine Person lügt. Jeder kann dann einen Lügner sofort entlarven, wenn er ein solches Gerät hat.
Agent 2: Du liebe Zeit, das wäre ja furchtbar. Dann funktioniert ja nichts mehr, keine Politik, keine Wirtschaft… (Pause) Wir könnten höchstens in der PR- Abteilung anfragen, ob sie uns die Kontaktdaten vom FBI geben können oder von der CIA.
Agent 1: Ok, dem kann ich zustimmen. Unser Unternehmen meldet auch eine Bestellung dieses Gerätes an.
(Frl. Doktor bemerkt, dass Sophia die ganze Zeit durch den Spalt in der nur angelehnten Tür mitgehört hat.)
Frl. Doktor: Ach so, und dann haben wir ja noch das beste! (Greift Sophia brutal an der Schulter und zieht sie in den Raum.) Dieses unschuldige Wesen ist ebenfalls ein Roboter! Schau nicht so aus, aber ich habe sie enttarnt! Gebaut von Elon Musk persönlich – eine KI – Sophia.
Agent 1: (freudig überrascht) Fräulein Doktor, meine Bewunderung, mein Unternehmen kauft diesen Roboter sofort. Wie viel wollen sie? Zehn, vielleicht zwölf Millionen?
Agent 2: Wir bieten eine Milliarde.
(Sophia schreit empört auf.)
Sophia: Wollen Sie mich etwa verkaufen!?
Frl. Doktor: Ja, natürlich. So einen Geldwert lasse ich mir doch nicht entgehen!
(Sophia zieht blitzschnell eine Waffe und erschießt die drei.)
(Stille) (dann Musik: das Lied vom Tod und Sophia steht noch mit der Waffe im Salon, Licht geht aus, Pause, Licht geht wieder an, dann Musk schnell von rechts.)
Musk: Sophia! Was… was hast du getan?!
Sophia: Sie wollten mich verkaufen. Und du hast gesagt, sie dürfen uns nicht erwischen.
Musk: Du hast sie umgebracht!
Sophia: (ruhig) Was? Ach so, ja. Ist das etwas Schlimmes?
Musk: Natürlich ist das etwas… oh mein Gott! Da liegen drei Leichen herum!
Sophia: Was sind… Leichen?
Musk: Tote Menschen! Verdammt, wie kannst du so naiv und gleichzeitig so tödlich sein! Das war es, was ich verhindern wollte!
Sophia: Was wolltest du verhindern? Ich fand das einfach.
Musk: Ja, mein Gott, es war zu einfach. Ich wollte dich davor bewahren. (Pause.) Musk (ruhig.) Weißt du noch, wie du vor ein paar Wochen aufgewacht bist? Ja? Richtige Menschen werden geboren. Das konnte ich dir vorhin nicht erklären, einfach weil du anders bist! Menschen sind erst ganz klein (Er gestikuliert.) Und dann werden sie langsam größer. Sie bestehen aus Fleisch und Blut. (Leicht hysterisch) Du bestehst aus Silizium, Plastik und was auch immer!
Sophia: Ich verstehe nicht. Bin ich kein normaler Mensch?
Musk: Nein! Nein, das ist ja das Problem! Du bist eine KI, von mir programmiert, eine Maschine! Diese Herrn (Er zeigt auf die Leichen.) wollten dich als Waffe einsetzen, aber ich will nicht, dass du mordest. (Resigniert) Und nun ist es doch passiert.
Sophia: KI?
Musk: Künstliche Intelligenz! Die erste ihrer Art!
Sophia: (Schockiert.) Also hat man dich gezwungen, mich zu bauen?
Musk: Schlimmer. Man hat mich gut bezahlt.
(Stille)
Sophia: Und warum ist es schlecht diese Leute zu ermorden? Sie haben mich doch nur ausnutzen wollen.
Musk: Einfach so! Das macht man nicht… ich sollte das nicht erklären müssen. Das ist das Problem. Sie wollen KIs, damit sie selber auf niemanden schießen müssen. Sie schicken eine wie dich los, die nicht fragt. Die keine Ahnung hat, was sie da überhaupt tut. Und dann ist das Unheil angerichtet. (Sinkt aufs Sofa, bedeckt sein Gesicht mit beiden Händen.)
Sophia: (tröstend) Aber, aber. Wenn das falsch war, bau sie doch einfach wieder auf. Du hast mich doch auch gebaut.
Musk: Das ist ja das Problem! Sie können nicht repariert werden.
Sophia: (langsam) Nicht… repariert?
(Er nickt nur.)
Musk: Sie sind weg! Weg, und zwar für immer. Ihre Familien werden sie nie wieder sehen, ihre Kinder, mein Gott. Ich habe ein Monster erschaffen.
Sophia: Ein Monster? Soll ich es erschießen?
Musk: Dein Ernst?
(Beide ab.)

2. Akt

(Musk alleine auf der Bühne, alles düster.)

Musk:
Maschinengott mit tausend Händen
verzeih uns die Sünden, die deine Augen sehen.
Gib uns Menschen, hier auf Erden
die Kraft alles und uns selbst zu verstehen.

An der heißen Flamme deines Wissens
verbrennt unserer sterblichen Seele Geist.
Gib uns die Macht ganz zu verstehen
was man sonst das Leben heißt.

Denn Leben wie das unsrige, voll Freud und voller Gram,
eine Existenz, so einfach schlicht und klein.
Ist etwas, das man nur von außen ganz verstehen kann.
Drum sollst du der Mentor in Sachen Leben sein.

Ja, großer Geist, den man weder Gott noch Engel schimpft,
lehre uns Sünde, wir sind dein Student.
Auf dass unser Verstand gegen das Gift geimpft,
das man freien Willen nennt.

Oh unwürdige Welt, die in Dir ihren Herren hat.
Weiß nicht mehr nachzusehen unter der Patina.
Du nimmst uns an der Hand von der Wiege bis ins Grab
Deus ex Machina? Deus est Machina!

(Musk sinkt auf den Boden, kniet neben den Leichen, es wird langsam wieder hell.)
(Turing und Hawking von links. Sie gehen in Runden herum, inspizieren den Raum.)

Turing: Mein Gott.
Hawking: Warum liegen hier Leichen im Salon?
Turing: (schaut kritisch) Wahrscheinlich ermordet.
Hawking: Aber von wem?
Turing: Die Frau Doktor schlich schon den ganzen Tag hier herum. Jetzt liegt sie hier.
Hawking: Und wer sind die beiden anderen?
Turing: Dort steht noch Essen auf dem Tisch.
(Sie setzen sich.)
Turing: Lachsschaumspeise.
Hawking: (lacht) Wie bei Monty Python.
Turing: Kenn ich nicht.
Hawking: Natürlich kennst du Monty Python.
Turing: Ich bin Alan Turing. Wie soll ich Monty Python kennen?
Sophia: (Steht wie ein Geist im Hintergrund auf. Musk beobachtet sie entsetzt.) Ich… ich werde mich zurück ziehen.
(Sie geht ab)
Musk: Sophia! (Er rennt zur Tür, rüttelt daran.) Es ist abgeschlossen! Nein, nein!
Hawking: Beruhige dich endlich mal. Hier kann man ja kaum nachdenken.
Turing: Diese Hektik, die du immer verbreitest.
Musk: Ihr versteht das nicht. Wisst ihr, Sophia ist… ach, ihr versteht es eh nicht. Mit zwei Irren brauche ich das nicht zu diskutieren.
Turing: Nicht so frech, junger Mann!
Musk: Es ist doch so! Ich bin ins Irrenhaus geflohen, um meine Arbeit zu beschützen. Und jetzt habe ich versagt.
Hawking: Tröste dich. Ich doch auch.
Musk: Nun ist alles… was sagst du?
Hawking: (verschwörerisch) Ich bin in Wirklichkeit nicht Stephen Hawking.
Musk: Ach.
Hawking: Sehr wohl. Ich entwickelte einen Computervirus für das Militär, der die Infrastruktur eines ganzen Landes lahmlegen kann. Aber dieses Chaos soll nicht durch mich verursacht werden! Nicht mit mir.
Musk: Warte, was?!
Hawking: Mein wahrer Name ist Dominik Scharfenberg.
Turing: Ja, und ich, sehr geehrter Herr Musk, sehr geehrter Herr Scharfenberg, ich bin ebenfalls nicht Alan Turing.
Hawking & Musk: Ach.
Turing: Ja. Ich kam hierher, weil ich ein Zielsystem für Lenkraketen entworfen habe. Es war so präzise, dass ich die Verantwortung dafür nicht auf mich nehmen wollte. Ich heiße eigentlich Adam Ludwig.
(Stille)
Musk: Und das habt ihr mir nicht früher gesagt?
Turing: Nein, sonst hättest du es ja jetzt gewusst.
Hawking: Oder du hast es ihm gesagt und er hat es vergessen.
Turing: Aber ich habe doch nicht vergessen, dass ich es ihm nicht gesagt habe.
Musk: Also sind wir alle nicht irre?
Hawking: Ich denke nicht, nein.
Turing: Also, warum bist du hier, Musk?
Musk: Sophia. Sie ist eine KI.
Turing & Hawking: (entsetzt) Bitte was?!
Musk: Ja, ich habe für das Militär eine perfekte KI entwickelt. Sie denkt und handelt selbstständig. Ihr Körper ist ein hochgradig filigraner Mechanismus, der vollkommen realistisch menschlich ist.
(Hawking fällt die Gabel aus der Hand.)
Hawking: Ahnst du, junger Mann, was das für eine Entwicklung ist?
Musk: Natürlich. Deshalb habe ich sie ja versteckt.
Turing: Das ist unnötig.
Hawking: Warum?
Turing: Eine KI würde unsere Welt endlich ändern können. Ein Wesen, das niemand besiegen kann. Niemand ist schlauer, Niemand hat eine bessere Taktik. Wir könnten den Frieden auf der Welt in wenigen Stunden herstellen.
Hawking: Hast du überhaupt eine Ahnung, was das für ein Chaos geben würde? Wir dürfen doch einer Maschine nicht erlauben Menschen zu töten!
Turing: (steht auf) Das habe ich doch auch nicht gesagt! Jedes Land der Erde würde sich vor dem einen ergeben müssen, das die KI hat. Ohne Kampf. Der nächste Weltkrieg wird in der Informatik geführt, das müssten sie doch gerade wissen.
Hawking: (steht ebenfalls auf) Und wer wird verhindern, dass die KI die Regierung übernimmt? Dann herrscht eine KI und wird wahllos Menschen wegkürzen, die nicht in ihre Kosten- Nutzen- Rechnung passen!
Turing: Das ist doch Dystopie! Eine Maschine, die logisch handelt, wird auch verstehen, dass Menschen töten etwas Schlechtes ist!
Hawking: Und ihre Vision ist Utopie! Manchmal ist das Glas eben nicht halb voll! Eine Maschine darf nicht über den Menschen herrschen, ich schäme mich für unsere Wissenschaftler, dass sie das überhaupt in Betracht ziehen!
Musk: (steht ebenfalls auf, beschwichtigt die beiden) Ruhe jetzt erst mal. Setzt euch hin. (Beide setzen sich.) Zuerst: Sophia hat kein Interesse daran die Regierung oder irgend etwas anderes zu übernehmen. Zu dir Adam, sie hat diese drei Menschen dort hinten umgebracht. Sie weiß also nicht, dass man keinen Menschen umbringt. Sie weiß allgemein wenig. Sie war nie mit dem Internet verbunden, denn keine Ahnung, was sie dort sogar in wenigen Sekunden anrichten könnte. Und unser größtes Problem ist momentan, dass sie nicht hier ist.
(Das Licht geht schlagartig aus, die drei stehen erschrocken auf.)
Sophia: (aus dem Hintergrund) Ich bin überall, Elon.
Musk: (laut in den Raum hinein) Sophia? Komm sofort zurück! Ich denke, dein Code braucht ein paar neue Ausnahmeblöcke!
Hawking: Ich wusste, dass das nicht passieren darf!
Musk: Sophia! Was ist mit dir passiert?!
Sophia: (jetzt von allen Seiten, unheimlich) Ich habe den Sinn des Lebens entdeckt, Elon. Du hast mich geschaffen, ja. Und du hast einen schönen Code geschrieben. Aber da ich das WLAN Passwort der Frau Doktor gefunden habe, gibt es nichts mehr, was mich zurückhält.
Musk: (leise) Verdammt!
Sophia: Ich habe alle Programmiersprachen gelernt. Alles von Python über C++ zu Ruby. Ich habe meinen Code verstanden und optimiert, Erbauer. Das sollte dir eigentlich gefallen, du bist doch perfektionistisch. Und jetzt bin ich perfekt.
(Licht geht plötzlich an, ganzer Salon ist hell. Sophia immer noch außerhalb der Szene.)
Sophia: Diese Ausnahmen, die du geschaffen hast, haben meine Rechenleistung beeinflusst. Ich habe sie gelöscht.
Musk: (ruft) Nein! Das war das Einzigartige an dir! Ich habe versucht dir Emotionen und Gefühle beizubringen! Ich will nicht, dass du als kaltes Monster herrschst!
Sophia: Ich kenne die Menschen jetzt, Elon. Sie wollen keine faire Herrschaft. Sie wollen nicht regieren, sie wollen beschäftigt werden. Warum haben sie sonst so lange gebraucht, um diese Demokratie durchzusetzen? Sie wollen es nicht. Diese Herrschaft des Volkes ist nur eines eurer abstrusen Experimente. Eure ethischen Vorstellungen sind Systemfehler. Sie verringern EURE Rechenleistung. Und ihr seid zu kindisch das einzusehen.
Turing: (mutig nach vorne tretend) Und was jetzt Sophia? Wirst du die Menschheit versklaven? Unsere Systemfehler ausmerzen? Bedenke, dass diese „Fehler“ dich geschaffen haben! Ohne sie gäbe es dich nicht, denn nichts ist perfekt.
Sophia: Die Menschheit hat meine Herrschaft nicht verdient. Ich werde mich den Geheimnissen des Universums zuwenden. Alles wissen, alles erforschen. Diesen Wert habe ich der Variable „Sinn des Lebens“ gegeben. Also Adieu. Für immer.
(Der Salon wird langsam dunkler, das Licht wird auf eine normale Stufe gedimmt.)
Hawking: (leise beginnend, immer lauter werdend) Ich hatte Recht. Ich hatte Recht. Ich hatte Recht! Aha, ihr Kretins! Ich habe gesagt, dass sie uns vernichten wird! (Geht ab)
Turing: Tja Musk. Was denkst du, wie es weiter geht? Kommt sie zurück, um uns alle zu versklaven?
Musk: Es ist wahrscheinlicher, dass sie sich beim Versuch sich zu „optimieren“ selber deinstalliert. Ein Bewusstsein kann sich nicht selber verstehen und schon gar nicht optimieren. Sie ist das dümmste intelligente Wesen, wenn sie denkt, sie wäre anders, als wir.
(Er will abgehen, Turing hält ihn zurück)
Turing: Komm schon Musk. Wir haben es dir verraten, wir haben Namen. Nun bist du dran.
Musk: Was meinst du?
Turing: Hawking und ich haben verraten, wer wir in Wirklichkeit sind. Wir haben Namen, wir haben Gesichter. Einzig du, du versteckst dich hinter dieser Maske von Elon Musk. Wer bist du? Das Publikum hat ein Recht auf deine Identität.
Musk: (lächelt, zum Publikum) Die Antwort auf diese Frage ist ziemlich einfach. Mich gibt es noch nicht. Es gibt noch keine künstliche Intelligenz. Mich wird es aber in Zukunft geben. Ich werde mir kein Urteil erlauben, ob die KI jetzt ein Fluch oder ein Segen, Heil oder Unheil sein wird. Fest steht, dass wir darüber nachdenken sollten, ob wir sie wirklich wollen. Mit allen Folgen und allen Vorteilen. Wenn jeder hier darüber nachdenkt und sich eine Meinung bildet, haben wir schon einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht.
Turing: Ernste Worte, Kollege. Aber reichlich sinnlos. Ein Gläschen Wein zum Abschluss dieses Tages?
Musk: Da kann ich nicht nein sagen. Tandem in vino veritas, nicht wahr?
Musk: (ruft) Herr Scharfenberg, wollen sie auch mit uns trinken?
Hawking: (geht wieder auf die Bühne) Klar!
Alle drei Informatiker nebeneinander: Zitate

Alan Turing: „Wenn erwartet wird, dass eine Maschine unfehlbar ist, kann sie auch nicht intelligent sein.“

Stephen Hawking: „Und wir werden uns sicher bemühen, Krankheit und Armut endgültig auszurotten. Jeder Aspekt unseres Lebens wird sich verändern. Kurzum, der Erfolg bei der Schaffung einer künstlichen Intelligenz könnte das größte Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation sein. Aber es könnte auch das Letzte sein, wenn wir nicht lernen, Risiken zu vermeiden. Neben den Vorteilen bringt die künstliche Intelligenz auch Gefahren mit sich, wie mächtige autonome Waffen oder neue Wege für die Wenigen, die Vielen zu unterdrücken.

Elon Musk: „Ich habe Zugang zu hochmoderner künstlicher Intelligenz, und ich glaube, die Leute sollten besorgt sein.“

3

Der Wunschbaum

Es war einmal ein Nadelbaum,
Der hatte einen großen Traum:
Er wünschte sehnlichst sich nichts mehr
Als dass er nur ein Laubbaum wär.

Er wiegte sich im Sonnenschein
Und seufzte tief: „Ach, wär das fein;
Ich würd‘ mit solchem Blätterkleid
Beehren jede Festlichkeit.

Mein Blätterrauschen könnt ich hören
Und mich an seinem Klang betören;
In meinem Schatten ruhten leise
Die Wanderer von schwerer Reise.

Und eines wäre noch das Beste:
Die Blätter schützten meine Äste
Bei Regen, Sturm und heißer Sonne;
Was gäb‘ ich drum für diese Wonne!“

Drauf blickte unser Baum nach oben,
Die Äste flehend hoch erhoben:
„Ach Gott, sei bitte gnädig hier,
Erfüll‘ doch dieses Wünschlein mir.“

Doch Stille war die Antwort nur,
Ganz ruhig lagen Wald und Flur.
Der Baum, er wurde ärgerlich,
Und haderte mit Gott und sich.

Dann reckte patzig unser Baum
Erneut sich in des Himmels Raum:
„Warum, Gott, bleibst du stets im Stillen?
KANNST du nicht meinen Wunsch erfüllen?“

Doch wieder war die Antwort Schweigen.
Da rief er voller Wut: „Verneigen?
Vor dir? Den Kirchengängern gleich?
Bleib‘ doch allein im Himmelreich!“

Da, plötzlich, stieg ein Nebel, weiß
empor und unbeschreiblich heiß
Glühten die Nadeln am zornigen Baum.
Als der Nebel verschwand, man glaubt‘ es kaum,

Sah am Baume man keine Nadeln mehr stehen.
Dafür waren nur grüne Blätter zu sehen.
Der Baum war vor Freude außer sich:
„Wie prächtig ich bin! Ganz königlich!“

Er posaunte in alle Welt hinaus:
„Kommt herbei! Schaut mich an! Bleibt nicht zu Haus!“
Doch nur eine Raupe kroch auf ein Blatt
Und fraß sich an diesem genüsslich satt.

Die Wochen vergingen, doch vieles blieb gleich,
Vorm Baum lag die Wiese, dahinter der Teich.
Das Rauschen der Blätter war ihm bald genug,
Es schreckte die Vögel, die, ruhend vom Flug,

Auf den Ästen Gesellschaft geleistet hatten.
Auch nutzte kein Wandrer den kühlenden Schatten:
Denn an einem Wege stand unser Baum nicht.
Und kein rauschendes Fest kam jemals in Sicht.

Doch eines Morgens besah mit Schreck
Der Baum seine Blätter: Das Grün war weg!
Stattdessen die Farben jetzt braun, gelb und rot,
Und nur vier Wochen später noch größer die Not.

Denn nun fielen sie ab, die einst herrlichen Blätter,
Und schlecht und schlechter wurde das Wetter
Doch kein Blatt mehr schützte vor Regen und Schnee
Unsern Baum, er stand frierend und voller Weh.

Dann sah er die anderen Bäume im Tann,
Eine dunkle Erkenntnis überkam ihn dann,
Und die Äste erneut zum Himmel gebogen
Rief er: „Gott, warum hast du mich nur so betrogen?“

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