Freiheit auf dem Heimweg
Die Bustüren öffnen sich vor ihr. Raus aus dem stickigen Bus. Die Bustüren schließen sich hinter ihr. Sie läuft auf der rechten Straßenseite, neben ihr fließt der kleine Bach, überall liegt Müll. Die armen Forellen, denkt sie. Und dann bleibt sie stehen. Sie hört Kraniche rufen und blickt auf. Sie ziehen über ihr. Mindestens 200 schwarze Striche, weit über ihr. Sie steht mitten auf der Straße, blickt nach oben und dreht sich. Die Kraniche sieht sie nicht mehr. Die Bücher drücken ihr in den Rücken. Im Kopf geht sie die Fächer durch, die sie morgen hat – Englisch, Chemie und Geschichte, dazwischen eine Freistunde. Chemie versteht sie nicht. Sie wäre froh, wenn sie Chemie morgen nicht hätte. Sie kommt an der Litfaßsäule vorbei. Die Theatervorstellung war vor fünf Wochen und der Zirkus ist auch schon länger weg. Sie läuft weiter. Der schwarze Hund mit dem Knick im Ohr bellt sie an und läuft am Holzzaun hin und her. Sie mag diesen Hund nicht. Noch weniger mag sie seinen Besitzer, der trinkt bei der Kirmes und beim Osterfeuer zu viel. Ach, wie sie das hasst. Sie überquert die Straße. Kickt einen Stein in Richtung Bäcker. Das Geöffnet-Schild steht auf dem dreckigen Bürgersteig. Der Geruch von Pferdemist schlägt ihr in die Nase. Sie läuft bergauf am geschlossenen Schlecker vorbei. Dort hat sie sich immer vor der Verkäuferin gegruselt. Die Räume sind leer. Jetzt muss sie 20 Minuten mit dem Fahrrad fahren, um zum Supermarkt zu kommen. Hin ist es leicht, doch bergauf mit dem Einkauf ist anstrengend. Sie liest das „Hier wache ich“- Schild. Der Schäferhund springt laut scheppernd gegen die Gitterstäbe. Sie schreckt leicht auf und verdreht die Augen. Sie läuft weiter. Der Asphalt hat hier drei Risse. Sie biegt links in die Straße ein und vorne beim grün gestrichenen Haus dann rechts. Auf dem Hausdach wächst eine kleine Birke und der Garten ist mit Hagebuttensträuchern übersät. Der Ziergarten ihrer Nachbarn sieht dagegen unecht aus. Die Nachbarin versteht keine Witze und ihr Ehemann schmeißt die faulen Äpfel in ihren Garten.
Sie macht ihre Haustür auf. Die Kraniche rufen fern im Tal. Die Haustür schließt sich hinter ihr.
Cora Berthold