Vampire

Heiß brannte die Sonne auf die Steppe von … Sie zu nennen, verschweige ich, denn ich gab ein Versprechen. In ihrem Namen liegt ein Geheimnis, wo ich Hoffnung hege, es zu ergründen.

Schweren, schleppenden Schrittes begab sich Amina durch die einsame öde Flur. Schon lange war sie diesen Weg gegangen, der kein Ende nehmen wollte und diese Stille, die sie bedrückte, ihr die Sinne nahm. Sie bewegte sich nur noch langsam vorwärts. Der Durst quälte sie. „Du musst es schaffen, Amina“, flüsterte es, „nicht mehr weit, bald wirst du die ersten Hütten sehen. Verzage nicht.“

Ihre Gedanken waren es, die die Worte fanden und Amina aufzurütteln suchten. „Es sind Tage, oder gar Wochen? Die ich nun schon umherirre in dieser trostlosen Einöde. Zu schwach ist mein Herz, um noch weiter zu gehen. Zu trocken die Kehle, um weiter zu atmen. Das Feuer brennt in meiner Brust, sie schreit nach Wasser, Wasser“, seufzte Amina. „Nein Blut, Blut sollst du trinken, es ist das Leben“, flüsterte eine dumpfe Stimme. Amina sank in sich zusammen, sie blieb leblos liegen. Nacht war es, als Amina erwachte. Leicht hauchte der Wind seinen Atem über das dürre Steppengras. Es war, als wolle er, gleich auf einer Harfe, spielen. „Fliehe von hier“, klang die Melodie des Windes. „Die Strahlen des Mondes werden dir den Weg weisen, Amina.“ Ein heller Schleier breitete sich auf die Steppe. Im fahlen Licht des Mondes huschten gespenstische Schatten an Amina vorüber. Ein leichtes Zittern durchdran ihren zarten Körper. „Schau in den Kristall, er liegt neben dir“ flüsterte es. Es war wie das Säuseln des Windes, der zärtlich mit den Steppengräsern spielte. Amina nahm es an sich. Schatten lagen auf den Augen, die sie anstarrten. Blondes leichtgewelltes Haar umschloss ein blasses Antlitz, aus dem alles Blut gewichen schien. Ihre Lippen, die einst so rot gewesen, hatten jegliche Farbe verloren. Amina erschrak bei jenem Anblick War sie es wirklich, sie – Amina, die ihr aus dem Kristall entgegen sah? Nein, ein teuflisches Wesen schaute sie an. Amina öffnete leicht ihre Lippen. Entsetzt betrachtete sie ihr Spiegelbild. Deutlich sichtbar zeigten sich, hinter Mundwinkel versteckt, zwei große spitze Zähne. Amina, noch immer schwach, von diesem Anblick erschreckt, brach zusammen. Der Kristall zerbrach. Ihr Schrei drang durch die Stille der Nacht. Der Wind fuhr stöhnend über das Steppengras. Gespenstische Wesen, die sich im Mondlicht bewegten, hielten inne und verloren sich im Dunkel. Ein gellendes grausiges Lachen verhallte in der Luft.

Als sich die ersten Sonnenstrahlen hinter den Wolken hervorwagten. Die Vögel ein munteres Liedchen anstimmten, da schien es, als wolle jener neugeborene Tag zum Feste aufrufen. Leise Musik ließ sich vernehmen. Doch es waren keine fröhlichen Weisen, die die Luft durchdrangen. Jeder, der sie vernahm, wurde traurig und versank in Trübsinn.

Schwermütig waren die Klänge, die das Herz zerschnitten und tiefste Bitternis in den Menschen zurückließen. Wieder war ein Kindchen gestorben, schon des Öfteren hatte der Sensenmann seine knöchernen Hände nach einem unschuldigen kleinen Wesen ausgestreckt. Keiner der unglücklichen Eltern, nicht einmal ein Arzt konnte sich erklären, an welcher Krankheit die Mädchen und Jungen verstarben. Plötzlich und unerwartet, am Tag vorher noch munter spielend, wurden die Kinder tot im Bett aufgefunden. Die Ärzte wussten keinen Rat mehr. Schließlich öffnete man den Leichnam des bisher letzten Opfers, aber es wurde nichts entdeckt. Nicht eine Spur von Gift, was man vermutete. Einen Anhaltspunkt fanden sie doch. In der Leiche befand sich kein Blut, nicht ein einziger Tropfen ließ sich auffinden. Ebenso wie die anderen verstorbenen Kinder, wies jenes Opfer die gleichen Merkmale auf. Drei kleine Kreise hoben sich deutlich im Dreieck sichtbar von der bleichen Haut des Halses ab.

Leichtfüßig betrat ein blondes Mädchen, kaum 20 Jahre zählend, ein Dorf nahe der Steppe. Die Menschen schliefen. Gleich einer Katze schlich Amina um die Hütten und schaute durch die vom Mondschein erhellten Fenster. „Blut, Blut sollst du trinken“, jene entsetzlichen Worte, die sie einst vernommen, peitschten ihre Gedanken. Amina, im Leben ein braves Mädchen gewesen, verwandelte sich nun zur grausigen Bestie. Behutsam öffnete sie die Türe einer Hütte und betrat jene. Ihre Augen erblickten einen jungen schlafenden Mann. Aminas Körper vibrierte. Ihre Lippen zitterten, sie lechzten gleich einem wilden Tier nach Blut. In dem Bewusstsein, sich auf ihn zu stürzen, erwachte der Schlafende. Wie angewurzelt blieb Amina stehen. Ihre Augen funkelten. Fieber erregte ihr Gemüt. Ihre Gedanken schrien nach Blut, Amina blieb ruhig. Auf keinem Fall gab sie sich einer Entdeckung preis. Imanai blickte sie verwundert an. Wer war dieses Mädchen? Wo kam sie her? Was sollte sie? fragte sein Herz, welches sogleich beim Anblick ihrer herrlichen Gestalt in Erregung geriet. Amina stand vor ihm in einem langen weißen durchsichtigen Gewand. Trotz ihrer Totenblässe war sie schön. Sie schien einem Engel gleich. Ihre Lippen hielt sie geschlossen, sie lächelte ihn an. Obwohl ihr Wesen nichts von dem verriet, was in ihr vorging, spielten ihre Gedanken mit seinem Blut. Aminas Augen blickten gierig auf den Hals des Mannes. Langsam näherte sie sich ihm, setzte sich auf seinen Schoß und begann ihn zu liebkosen. Ihm gefiel dies wohl. Er umarmte Amina, benetzte ihr Gesicht mit brennenden Küssen. In Liebeswonne schwelgend, bemerkte Imanai nicht einmal die Kälte, die ihr Körper ausstrahlte. Unter ihren Zärtlichkeiten schloss er die Augen. Darauf hatte Amina nur gewartet. In ihrer Gier nach Blut umklammerte sie seine Arme, presste ihren Körper auf dessen Brust und suchte mit den Lippen des Opfers Hals. Jener jedoch, in dem Glauben, sie wolle ihn küssen, lag regungslos von den Fesseln ihres Körpers gebunden. Plötzlich spürte Imanai, gleich dem Biss einer Viper, einen brennenden Schmerz am Hals. Er wollte aufspringen, es gelang ich nicht. Amina lag auf seiner Brust, sie saugte sein Blut. Er versuchte die Arme frei zu bekommen, um diese Bestie in Engelsgestalt von sich zu reißen. Eine Schwäche kam über ihn. Es gelang ihm jedoch, sich von Amina zu befreien. Er schleuderte sie, gleich einem grässlichen Wurm, von sich. Amina schrie auf. Erneut versuchte sie, sich seiner zu bemächtigen. Es gelang ihr nicht.

Glocken des Todes erklangen in der Ferne. Der Wind trug jene Töne des Schmerzes und des Leides zur Steppe, wo Amina sie empfang und von dieser Klagemelodie aus ihrem Todesschlaf erweckt wurde. Amina lauschte. Ihr Gesicht zeigte Schwermut und Trauer. Sie hasste es, zu Beginn der Nacht ins Dorf zu schleichen und gleich einem Raubtier auf Beute zu lauern. Aber irgendetwas zwang sie zur grausamen Tat. Ein leichtes Rascheln ließ Amina aufschrecken. Sie schaute in jene Richtung, wo das Geräusch herkam und erblickte im Dunkel der anbrechenden Nacht eine grässliche Gestalt, die auf sie zukam. Amina stockte der Atem. Bewegungslos saß sie zwischen den Steppengräsern. Sie glich eher einer Marmorfigur, als einem menschlichen Wesen. „Hörst du das Läuten der Glocken im Dorf, Amina?“ lachte das Untier, „es ist wieder ein Kind gestorben. Ich, ich der Vampir habe sein Blut getrunken.“ Scheußlich klangen diese Worte, die Amina ins Herz schnitten und einen brennenden Schmerz hinterließen. Aber war sie nicht selbst zum Vampir geworden? Hatte sie nicht selbst vom Blut eines Menschen gekostet? Jene Gedanken marterten ihr Hirn. Tränken rannen über ihre blassen Wangen. Sie sah dem Scheusal ins graue, tief mit Falten durchzogene Gesicht. Große vorstehende Augen starrten das weinende Mädchen an. An seinen breiten wulstigen Lippen klebte Blut. Ironisch grinsend, wurden zwei große spitze Zähne sichtbar. Statt einer Nase zeigte sich eine unförmige Masse. Seine buschigen Brauen vereinigten sich in der Mitte der Stirn zu einem kreisförmigen Gebilde. Der Haarwuchs dieses buckligen riesigen Scheusals hing wirr an seinem breiten Kopf, unter denen sich zwei große Spitze Ohren versteckten.

Amina schüttelte es beim Anblick dieser hässlichen Gestalt. Sie weinte noch immer. Doch nicht vor Angst, sondern aus Schwäche. Sie hatte nicht die Kraft, ihre eigene Blutgier zu bezwingen. „Noch diese Nacht werde ich das Blut eines Kindes trinken“, lachte er höhnisch. Es war das gleiche bösartige Lachen, was sie schon einmal vernommen, als sie jene furchtbare Entdeckung machte, wo sie zum Vampir geworden. „Schau dich um, siehst du diese Schatten, Amina?“ Ihre Augen schweiften über die Steppe, welche sich im Winde wiegte. Amina erinnerte sich, schon einmal war sie diesem gespenstischen Wesen begegnet. „Es sind die Schatten des Todes, Kinder; die zu Vampire geworden und das Blut ihrer Brüder und Schwestern trinken. Es sind die Kinder, die ich getötet. Ich, der Vampir, ich habe die Macht über Leben und Tod! Höre Amina“. Seine dumpf klingende Stimme wurde sanfter. „Vor einigen Monaten lebte ich unter den Menschen. Doch war ich stets einsam. Die Menschen mieden meine Hütte. Begegnete ich ihnen, gingen sie mir aus dem Weg. Sie fürchteten sich vor mir, vor meiner Hässlichkeit. Doch so scheußlich, wie ich jetzt aussehe, war ich nicht. Ich bemühte mich, freundlich zu ihnen zu sein. Sie verachteten mich. Eines Nachts, als Blitze vom Himmel, gleich Feuerpfeile, zur Erde schlugen. Ein gewaltiger Orkan die Hütten zermalmte die nur brennende Fackeln waren, da packten die Menschen mich. Sie richteten mich als Dämon des Bösen und verbrannten mich in meiner Hütte. Ich jedoch schwor im Angesicht des Todes, grausamste Rache zu nehmen.“ „Warum aber unschuldige Kinder?“ seufzte Amina. Ein Zittern befiel ihren Körper. „Wisse denn“, bemerkte das Scheusal, „Kinder sind das Liebste der Eltern, deshalb werde ich nur sie töten und du wirst es auch!“ fauchte er. Böse blickten seine Augen auf das weinende Mädchen. –

Verzweifelt lief Amina ins Dorf. Nur ein Gedanke beherrschte ihren Sinn. „Ich muss die Kinder retten.“ Amina lief und lief. Der Mond war ihr Begleiter, er spendete ihr Licht auf ihrem Weg. Amina schlich an den Hütten vorbei. Sie musste vorsichtig sein, um dem Vampir nicht zu begegnen. Am Ziel angelangt, öffnete sie die Türe und stand vor dem jungen Mann, den sie des Nachts hatte töten wollen. „Was willst du, elende Schlange!“ Damit packte er Amina und war im Begriff, sie niederzuschmettern. Sie aber entwand sich ihm, sank auf die Knie und bat ihn, sie anzuhören. „Du hast die Kinder getötet, mit deinen grässlichen Zähnen saugest du ihr Blut, du bist ein Vampir!“ schrie Imanai. „Nicht ich war es“ hauchte Amina. Sie erhob sich, sah ihm fest in die Augen. Sie wagte es nicht, ihn anzurühren. Bei seinem Anblick keimte abermals die Gier nach Blut in ihr auf. Doch siegte diesmal das Gute über das Böse. „Hilf mir“, flehte sie. „Noch in dieser Nacht wird der Herrscher der Vampire das Dorf betreten. Es wird ein Kindlein suchen und es auch finden. Aber dann ist es zu spät. Nehme eine heilige Reliquie und schlage damit vor der Bestie ein Kreuz. Es genügt auch, wenn du ihn mit diesem Kleinod berührst. Sogleich wird der Vampir seine Macht, allerdings nur von kurzer Dauer, verlieren. Gehe des Tages zur Steppe, dort findest du ihn schlafend. Er wird dich nicht bemerken, denn es ist der Tod, der ihn bewacht. Des Nachts lebt er und keinem gelingt es, ihn zu besiegen. Beginne die Tat, wenn das Licht des Tages anbricht. Nehme einen Holzpflock, durchbohre damit das kalte Herz des Vampirs. Achte jedoch darauf, dass der Pflock den Körper durchschlägt. Es muss in die Erde dringen. Auch des Nachts kann es dir gelingen, das blutrünstige Gespenst für ewig zu vernichten, doch muss der Vampir der Macht beraubt sein und auf dem Boden liegen. Mein Kindchen und die anderen kleinen Geschöpfe, die einst der Bestie zum Opfer gefallen, werden in jenem Augenblick zur Ruhe kommen. Ebenso ich. Höre bitte, auch ich besaß ein Kind. Es zählte knapp drei Jahre. Eines Nachts erwachte ich durch den Schrei meines Kindes. Ich eilte zu ihm und erblickte eine Gestalt, die sich über mein Söhnchen beugte. Ich schrie auf. Der Vampir wandte sich um und wollte auch mich zustürzen, da schlug ich das heilige Kreuz. Er wimmerte und verschwand. Mein Söhnchen lag in meinen Armen, es war tot.“ Amina stürzten bei jenen Worten Tränen des Schmerzes aus den Augen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. „Ich folgte der Bestie, die das Blut meines Kindes gesaugt und es nun selbst zum Vampir geworden, um es zu rächen. Doch war ich zu schwach. In der Steppe begegnete mir der Tod, es war der quälende Durst, der mich zwang, ihm die Hand zu reichen. Ich starb im Reich des Vampirs, deshalb wurde ich seinesgleichen. Macht besitzt der Vampir keine über mich, denn ich wurde nicht sein Opfer. Mein Blut saugte er nicht. Vollende den Tod des Vampirs, rette die Kinder, erlöse mich.“ Jene Worte gesprochen, verschwand sie, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Amina lief zurück zur Steppe, in der Hoffnung, ihre Wünsche bald in Erfüllung zu sehen. Unterdessen begab sich Imanai auf die Suche nach dem scheußlichen Gespenst. Er schaute in Fenster, entdeckte jedoch nichts. Es mag wohl einige Zeit verronnen sein, als er einen Schatten wahrnahm, der hinter einer Türe verschwand. Imanai beobachtete das Scheusal. Seine Blicke schweiften durch den engen Raum. In einer Ecke ruhte auf weichem Lager ein Kindchen. Schon beugte sich die Bestie über das kleine Wesen. Zwei große Schneidezähne, wie die einer Raubkatze, zeigte der Vampir. Plötzlich spürte das Gespenst einen gewaltigen Stoß, der ihn zur Erde riss. Grausam blickten seine Augen, als er sich erhob. Jäh wandte er sich ab. Die heilige Reliquie hatte ihn im Zeichen des Kreuzes berührt. Ein Jammern wie Katzen ließ sich vernehmen, dann verschwand das Untier.

Hoch stand die Sonne am Himmel, als ein junger Mann durch die Steppe schritt. In einer Hand hielt er einen Holzpflock. Um seinen Hals hing eine heilige Reliquie, es war ein kleines Kreuz mit glitzernden Steinen besetzt. Von Ferne erkannte Imanai das Scheusal, wie es im Schein der Sonne lag und schlief. Er schritt vorwärts. Dürre Halme brachen unter seinen Füßen. Näher kam er dem Schlafenden. Er betrachtete ihn und entdeckte die spitzen Zähne des Vampirs. Mit jäher Wut hob er den Holzpflock, ihn durch das Herz der Bestie zu rammen. Da erkannte er Amina. Sie lag nicht weit entfernt von dem grässlichen Blutsauger. In ihren Armen schlief ihr Kind. Er beugte sich über die und küsste ihre kalten Lippen. Tränen standen in seinen Augen. Er hatte sie lieb gewonnen. In dem Bewusstsein, Amina für immer zu verlieren, blutete sein Herz vor Wehmut. Doch es musste sein. Die Menschen sollten endlich von dem blutgierigen Gespenst befreit werden. Imanai vernahm einen seltsamen hellen Klang der in den höchsten Tönen die Luft erzittern ließ. Kalter Atem streifte sein Gesicht. Seine Augenlieder wurden schwer vom Druck des Schlafes. Imanai kämpfte gegen die Müdigkeit. Zu schwach waren seine Sinne, um den Kampf zu bestehen. Er sank auf das dürre Gras. – „Fliehe diesen Ort“, Amina war es, sie weckte Imanai mit diesen Worten. „Es wird Nacht, fliehe bevor das Gespenst erwacht und dich tötet.“ „Es wird mir nichts geschehen, siehst du dieses Kreuz?“ Er zeigte auf seine Brust, wo die heilige Reliquie ruhte. „Es wird mich schützen.“ „Ich sehe nichts, Imanai.“ Ein rascheln ließ Amina aufschrecken. Der Vampir war erwacht und kam auf die beiden zu. Imanai griff nach dem Kreuz. Entsetzen spiegelte sich in seinem Gesicht. Die Reliquie war fort. „Lass mich von deinem Blut trinken, Imanai, doch nur zum Schein.“ Er sah sie an, diese Augen konnten nicht lügen. Imanai sank auf sein Lager zurück, Amina hing an seinem Hals. Zu gerne hätte sie von diesem köstlichen Wasser des Lebens getrunken.

Sie bezwang ihre grausamen Gedanken. Das Gespenst näherte sich. Seine Arme warf es nach vorne. An den Fingern wuchsen Krallen. Imanai tastete nach dem verschwundenen Kleinod. Er fand es nicht. Schweiß trat auf seine Stirne. Plötzlich verspürte er einen scharfen Ruck. „Ich sauge sein Blut, lass ihn mir!“ schrie Amina. Der Vampir schleuderte sie beiseite. Blitzschnell stürzte er sich auf Imanai und begann mit seinen grässlichen Zähnen des Opfers Halsschlagader zu suchen. Doch Imanai packte das Gespenst. Er rang um sein Leben. Schon spürte er die Zähne der blutrünstigen Bestie, wie sie sich in seinen Hals bohrten. Da entdeckte Imanai einen schimmernden Gegenstand neben sich im Gras. Er griff danach und hielt das heilige Kreuzchen in der Hand. Als der Vampir den Druck der Reliquie zwischen seiner Stirn spürte, lockerte sich sein Griff. Machtlos wurde er, der Unterlegene. „Durchbohre sein Herz!“ rief Amina. Damit reichte sie Imanai den Holzpflock. Jener riss den Pflock gen Himmel, durchstieß mit aller Kraft die Brust des Vampirs und rammte das eisige Herz des Scheusals in den Boden.

Ein Schmerzensschrei, wie aus tausend Kehlen, erfüllte die Nacht. Jene zog ihren dunklen Schleier von der Steppe. Der Vampir war verschwunden. Statt seiner lag ein Häufchen Asche auf der Erde, welche sogleich der Wind nahm und über die dürren Halme der Steppe verstreute. Es roch nach Verwesung. Amina lag zwischen den Gräsern. Ihre Gestalt verschwamm und erlosch gleich einem Hauch in der vor Hitze flimmernden Luft. Mit ihr verschwanden alle kleinen Wesen, die einst der Vampir getötet. Zurück blieb Imanai. Schweigend starrte er auf die Stelle, wo Amina gelegen. Noch zeigten die Gräser die Spuren ihres Körpers.

Imanai musste an Amina denken, seine Augen füllten sich mit Tränen. Eine unendliche Sehnsucht nach Amina erfüllte sein Herz, es blutete vor Trauer. „Meine Amina“, seufzte er und sank in das Gras, wo einst Amina gelegen. „Mein Gott, Herr im Himmel mein Vater, ich bitte dich, ich flehe dich an, gebe mir Amina wieder, dich ich so geliebt“, betete Imanai. „Ich glaube an dich mit meiner Seele, du weißt es mein Vater und vertraue dir, bitte gebe sie mir zurück.“ Sein Flehen durchdrang die Stille der Steppe und lies die Gräser erzittern, die mit ihm zu weinen schienen. Tage, Nächte verbrachte Imanai in der Steppe, auf Amina wartend. Er betete, er flehte, er vertraute Gott, der ihm schon oft geholfen, auch beim Kampf mit dem Vampir beistand. Fast wahnsinnig vor seelischem Schmerz, brach Imanai bewusstlos zusammen. „Imanai, Imanai“, flüsterte eine sanfte Stimme, eine weiche Hand strich zärtlich über seine Wange. Imanai erwachte, hatte er geträumt, war es Amina, die ihn soeben berührte, ihn weckte? Ein Lichtstrahl durchbrach den Himmel und erfüllte die Luft mit einer Helligkeit, die Imanai blendete. Er musste die Augen schließen. Lieblicher, wie von Harfen begleiteter Engelsgesang ließ sich vernehmen und beglückte Imanais Seele. Er öffnete seine Augen. Vor ihm stand Amina in einem hellen Schein, der sie umgab. In lebendiger Schönheit lächelte sie ihn an. „Imanai, mein Imanai, ich werde Dir jetzt immer gehören“, hauchten ihre Lippen. Der Schein, der Amina umgab, verschwand. Auch der herrliche Gesang verstummte. Amina lag an Imanais Brust, an der Hand ihr lebendes Kind. Alle unschuldigen Kinder, die der Vampir getötet, waren erneut ins Leben getreten. Gott Vater hatte sich ihrer erbarmt.

Irmgard Harras, geschrieben im Alter von 24 und 25 Jahren.

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