Ein Lied
„Was pfeifst du da?“, fragt die ältere Frau den kleinen Jungen, der in der Sonne sitzt. In Ruhla, der kleinen Bergstadt, auf dem Marktplatz lässt es sich gut aushalten. Auf den Bänken in der Sonne. Er blinzelt sie an: „Das hat meine Oma immer gesungen – sie kannte es aus ihrer Kindheit. Sie lebt leider nicht mehr und ist bei den Engeln. Immer wenn sie am Wochenende Klöße gemacht hat, hat sie es gesungen. Ich weiß nicht wie es heißt, aber ich pfeife immer es vor mich hin, damit ich es nicht vergesse“.
Die alte Frau ist gerührt. Sie streichelt dem Kleinen übers Haar und geht zurück zu den anderen Leuten, mit denen Sie an der Touristeninformation wartet. Die Reisegruppe macht einen Stopp in der ehemaligen Uhrenstadt Ruhla. Das Uhrenmuseum stand auf dem Plan. Für die Nostalgiker. Oder besser gesagt „Ostalgiker“. Was für eine Fahrt durch die neuen Bundesländer. Spannend irgendwie. So 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Umzug in den Westen hat sich die alte Dame aufgerafft, um nochmal auf den Spuren der alten Tage zu wandeln. Im Bus geht das ja auch ganz bequem. Noch ein Foto, dann geht‘s weiter. Oberhof soll ja jetzt so schön sein. Mal schauen. Sie summt das Liedchen während der Busfahrt vor sich hin. „Wie schön denkt sich der Typ im Anzug. Ganz schnieke sitzt er neben den Älteren im Bus – Marketingrecherchen vor Ort – die Agentur braucht seine Einschätzung zu den Hot-Spots der Bustour. Muss ja sich lohnen, solche Fahrten anzubieten.
Ein paar Tage später zuhause summt er unter der Dusche das kleine Lied. Seine Frau freut sich. „Endlich gute Laune“, denkt sie. Da passt die Flasche Rosé Wein doch super zum gemeinsamen Feierabend.
Am nächsten Tag erzählt sie ihrer besten Freundin von dem romantischen Abend. „Er hat sogar unter der Dusche gesungen und war gut drauf, endlich hatten wir mal wieder eine gute Zeit zu zweit“. „Was hat er denn gesungen?“, fragt die Freundin im Kostüm. Sie fliegt gleich weiter, was für ein Stress. Die Fluglinie plant immer ziemlich eng. San Francisco steht auf dem Plan. Aber von der Stadt hat sie auch nicht so viel – keine Zeit, viel zu teuer und der Flug geht weiter. Das Lied kann die Freundin noch ganz genau nachsummen. Die Frauen umarmen sich. Zum Glück hat es dieses Mal auf ein Käffchen geklappt. Am nächsten Abend sitzt die hübsche Frau im Kostüm in einer Kneipe in Fisherman‘s Wharf, dem bekannten Hafenviertel. Die Seelöwen brüllen am Pier und es gibt leckeren Fisch zum Abendessen. Obwohl alle todmüde sind, wollten die Kollegen noch ausgehen. Die Flugbegleiter sind außer Rand und Band! Na ja, so gut es geht – der Wein war auch wieder so lecker. Da stimmt man glatt eine Liedchen an auf dem Weg ins Hotel. „Was war denn das für ein Song?“, fragt die Kollegin neugierig? „Weiß auch nicht, wo ich den her habe“, lacht die junge Frau zurück. „Was war das nur für ein Lied?“ „Wie schön!“, ruft der Kerl mit der Gitarre ihr zu. Er spielt schon den ganzen Abend. Muss sich ja lohnen, ist echt teuer hier. Er klimpert den Song ein bisschen auf seiner Gitarre. Bevor es morgen per Anhalter Richtung Mexico geht. Da will er ein bisschen chillen. Ist eh viel billiger dort an der Baja California. Und die Mädels sind echt schön da, die kommen zum Feiern dort hin. Denen muss man was bieten. Wie der dunkelhaarigen Schönheit. Wo kam sie nochmal her? Irgendwas mit Singapore? Oder so ähnlich. Aber romantisch sind sie alle. Ist doch schön, so am Strand mit der Gitarre und der Tequila Flasche. Er summt ihr das neue Liedchen vor. „Echt fresh, aus San Francisco. Weiß auch nicht, was ich daraus mache, ich bin da in einer kreativen Findungsphase“, flüstert er. Ihr gefällt es. Für eine Nacht am Strand ist das genau der richtige Soundtrack. Leider geht es morgen schon zurück. Das Jahr in Californien am College ging schnell vorbei. Die Spring Break Party am Beach von Mexico war gleichzeitig die Abschiedsparty von ihrem Austauschjahr in der USA. Mal sehen, wie es nun zuhause weiter geht. Zum Glück gibts ja die Fotos, zur Erinnerung auf ihrem Smartphone. Die schaut sie sich so oft an. Auch vom Strand und dem Typen mit der Gitarre. Hach war das schön und das war doch dieser Song … Sie summt ihn noch in der Bibliothek vor sich hin, dabei muss sie muss echt was schaffen, das Studium ist hart. “Ruhe!“, wird sie ermahnt. Es ist immer so streng hier. Aber man will ja in Ruhe arbeiten. Der Typ von der Bibliotheksausleihe ist genervt. „Muss ausgerechnet hier so ein Krach sein?“ Den Lärm hat er heute Abend noch genug – da arbeitet er noch woanders, in einem Schnellrestaurant. Da geht‘s zackig zur Sache. Hier genießt er die Ruhe schon sehr. Zum Glück wird‘s zu späterer Stunde ruhiger im Fast Food Laden. Da hat er Zeit, in Ruhe aufzuräumen. Nur dieser verrückte Typ sitzt noch in der Ecke. Bestimmt wegen des W-LANs. Aufgrund des Gourmet Essens bestimmt nicht. Er summt vor sich hin: „Wo kam denn diese Melodie bloß her? Ach ja, aus der Bibliothek“, fällt ihm ein. Er summt und putzt und lacht den Reisenden an, der seine Straßenkarte quer über den Tisch ausgebreitet hat. „Kann man ja gar nicht richtig sauber machen“, denkt der Arbeitende. Und er putzt und summt laut vor sich hin – ein Lied. „Wie kurios“, freut sich der Rucksacktourist. „Ist doch was für meine Instagram-Story. So ein Ausschnitt aus dem echten Leben hier. Kommt sicher voll real rüber“. Ein kurzes Clip, und schon ist der summende Putzteufel online. Nur für einen Tag versteht sich, die Story löscht sich nach 24 Stunden wieder. „Krass, schon 200 Leute, die sich das angeschaut haben“. Auch in Moskau. Da geht das W-LAN im Hotel echt gut. Der Kumpel aus Russland besucht gerade eine Hochzeit in der Hauptstadt. Da geht was, vor allem alkoholisch! Mit Wodka im Blut singt sich´s doch gleich viel besser. Auch diesen Song, den er irgendwo gehört hat. Wo war das noch gleich? Ach egal, let‘s have a Party! Da sind auch wieder die Freunde aus Deutschland dabei. „Macht Laune, denen mal zu zeigen, wie richtig gefeiert wird“, freut er sich. Den Wodka nehmen sie mit, die wohnen in Thüringen, in Eisenach. Da war er auch schon zu Besuch, die Wartburg war echt beeindruckend. Genau so beeindruckend wie eine echte russische Hochzeit. Davon kann man sogar den Arbeitskollegen in Eisenach erzählen. „Was für ein Spaß war das! Wir haben getanzt und gesungen bis zum frühen Morgen“, erzählt den Hochzeitsgast den Kollegen. Er summt dazu dieses kleine Lied, das so einprägsam war. „Verrückt“, denkt sich die hübsche Brünette aus dem Büro, “Irgendwo her kenne ich das Lied doch“. Sie summt es mit und vergisst es später wieder. Heute steht ja noch ein Geburtstag an, da muss sie noch nach Ruhla, in diese Bergstadt. Der Neffe wird sieben Jahre alt. Zum Glück hat sie das Geschenk schon gekauft. So eine Actionfigur, keine Ahnung, was das eigentlich genau ist. Und wie er sich darüber freut am Nachmittag. „Das ist richtig cool“, lacht der Kleine. „Hör mal, das hab‘ ich heute an der Arbeit aufgeschnappt, das wird dir gefallen“, sagt die Tante, und summt ihm das kleine Liedchen vor, ein Ständchen der besonderen Art. „Woher kennst du denn Omas Lied?“, fragt der Kleine. „Omas Lied? Ich dachte, das kommt aus Moskau?“. Der Kleine schüttelt den Kopf: „Das kommt doch aus Ruhla, weißt du das denn nicht, wie soll denn ein Lied um die halbe Welt reisen können?“. Er lacht und freut sich über den schönen Tag. Und die Tante summt noch einmal diese besondere Melodie vor sich hin und denk: „Ein Lied – wie soll denn das um die halb Welt reisen? Das ist ja unmöglich“.
Dann geht sie zu den anderen Gästen. Vielleicht singen die ja noch ein bisschen mit.
Franziska Klemm (August 2019)