Der Geist vom Meisenstein – Ein Märchen aus dem Thüringer Wald

Es war einmal vor langer, langer Zeit – da ereignete sich in den Wäldern rund um Ruhla, Thal und Winterstein eine sonderbare Geschichte. Mitten im Wald, am schönen Meisenstein kam es zu einer wundersamen Begegnung. Ihr müsst wissen, dass der Meisenstein einer der schönsten Aussichtspunkte im Thüringer Wald ist! Doch er liegt ein wenig versteckt, etwas abseits der Wanderwege und ist bis heute oft nur bei den Einheimischen bekannt. Von dort aus fällt der Blick weit über die Berge und den Wald. Wer einmal auf dem Meisenstein das Tageslicht anbrechen sah, ist verzaubert vom Anblick der unberührten Natur, den sanften Bäumen und dem Wind der leise durch die Wipfel zischt, als ob ein Lied erklingt, so klar und zauberhaft wie der Morgen im Wald selbst.

Vor vielen, vielen, unzählbaren Jahren machte sich ein junger Mann aus dem kleinen Ort Thal auf, um seine Arbeit im Bergwerk nahe Ruhla zu verrichten. Es war eine harte Arbeit, die wertvollen Eisenerze ans Tageslicht zu bringen. Aber vor allem war auch der Weg dorthin beschwerlich und führte bei Wind und jedem Wetter durch die Wald. Der Junge, der den Namen Kurt trug, war fleißig und half seiner Familie dabei, das Geld für das Nötigste zu verdienen. Die Eltern waren arm, seine Geschwister noch zu klein und das Leben war nicht immer freundlich. Deshalb war die Arbeit im Bergwerk ein wichtiges Zubrot, um alle satt zu bekommen. Wie so oft war Kurt mit seinen Kameraden viel zu früh unterwegs, um zu seinem Tagwerk im Bergwerg zu kommen. Die Vögel zwitscherten fröhlich und der Frühling war fast da. Überall blitzen frische, grüne Gräser hervor und ein Duft von Sonne lag in der Luft. Dick eingepackt in einen warmen Mantel stapfte Kurt mit seinen alten, löchrigen Stiefeln in den Morgen.

Doch was war das? Er war etwas abgeschlagen von seinen Kameraden, hatte noch den Traum der letzten Nacht vor Augen gehabt. Da hörte er wie durch einen Zauber ein leises Lied. Es war ein Singen, so klar und wunderschön, wie er es noch nie gehört hatte. Was mochte das sein? Von wo kam es? Oder war es gar nur der Wind, der den nahenden Frühling herbei heulte?

Kurt realisierte, dass er ohne es zu bemerken schon eine ganze Weile dem Gesang hinterher gelaufen war. Wo waren nur seine Kameraden? Und wo war der Weg, der ihn zum Bergwerk führte? War da eben nicht noch die Gabelung nach Ruhla gewesen? Aber der Gesang kam näher, Kurt kroch durch ein dichtes Gesträuch und es ging steil bergauf. Auf einmal fand er sich auf einem Felsvorsprung wieder, der ihm einen wundervollen Blick über den Wald und die Berge bot. Was für ein Anblick! Ihm stockte der Atem. Im fernen Glanz der aufgehenden Morgensonne taten sich die Berge vor ihm auf und die Schönheit der Natur lag in ihrer ganzen Größe vor ihm. Doch da war er wieder, dieser glockenhelle Gesang, der über die Baumwipfel schwang. Kurt drehte sich um und sah eine wunderhübsche, junge Frau, die auf einem der Felsblöcke saß und auf einer Zitter spielte. Sie sang ein Lied, dass er noch nie zuvor gehört hatte. Irgendwie traurig und dennoch wunderschön. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt und blickte in die Weite. Ein Hauch von Sehnsucht lag in ihrem Blick. Kurt fasste sich ein Herz und trat auf sie zu. Der Boden unter seinen Füße knirschte und die Jungfer drehte sich erschrocken um: „Wer bist du und warum störst du meinen Gesang“, fragte sie.

„Ich bin Kurt, der Bergmann, und dein Lied hat mich hier hoch gelockt. Ich wollte mit meinen Kameraden ins Bergwerk laufen und bin vom Weg abgekommen. Dein Gesang hat mich neugierig gemacht. Wer bist du und warum sitzt du hier so alleine und singst?“ Die Junge Frau blickte wehmütig in die Ferne und sprach leise: „Ich weiß es selbst kaum mehr, wer ich bin“. „Wie kann das sein?“, Kurt runzelte die Stirn und setzte sich mit ein wenig Abstand neben die Jungfer, die so zart und blasshäutig wie ein Geist erschien.

Ein Zauber lag in der Luft, die so kühl und klar war, wie so ein jungfräulicher Frühlingsmorgen nur sein kann. „Mein Name ist Mariella und ich kam vor langer, langer Zeit hier her an diesen Ort“. „Das ist doch nicht möglich, du bist doch kaum 17 Jahre alt, so alt wie ich auch bin“, flüsterte Kurt. „Doch, es ist möglich, vertrau nur deiner Phantasie“, raunte Mariella, „Ich war einst sehr verzweifelt und vertraute einem Jungen, der sich der Magie des Waldes verschrieben hatte, mein einziges Erbstück an, den Ring meiner Großmutter, mit einem edlen Stein der ein zartes Veilchen formte. Mein Vaten war sehr krank und der Magier versprach mir, tief im Wald eine heilende Pflanze so besorgen, die meinen Vater wieder gesund machen würde. Ich sollt bei Sonnenaufgang am heutigen Tag vor 300 Jahren hier am Meisenstein auf ihn warten. Dort wollte er mir die Pflanze geben. Sie sei magisch, hatte er mir versprochen und niemand düfte wissen, wo sie zu finden sei“. Mariella senkte den Kopf und sah traurig aus. Kurt wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er sie trösten? Er wollte nicht aufdringlich sein. Doch sie sprach mit fester Stimme weiter: „Ich hatte einen Freund, der mich verehrte. Wir wurden einander versprochen, als wir noch kleine Kinder ware. Er sollte immer auf mich acht geben und er hatte bemerkt, dass ich ganz früh durch das Dorf schlich um in den Wald zu laufen. Er folgte mir heimlich und sah, wen ich hier am Meisenstein zu treffen gedachte. Voller Eifersucht und ohne auf eine Erklärung zu hoffen, trat er hervor und glaubte an einen Betrug, der durch nichts wieder gut zu machen sei“. Kurt schluckte und wusste schon, was dann geschah. „Er stürzte sich voller Eifersucht auf den, der mir die heilende Pflanze versprach und ein Kampf entbrannte. Ich wollte mich dazwischen werfen und ….“, sie konnte kaum mehr sprechen, „Ich rutschte über den steinigen Felsen tief bergab ins Tal. Was dann geschah, habe ich nur noch gefühlt. Ein tiefer, heller Schrei durchfuhr mich und der Junge, der die heilende Magie beherrschte, rief einen wilden Zauber aus. Doch es war alles verloren“. „Ich verstehe gar nichts mehr“, sagte Kurt berückt, „Warum bist du jetzt hier“? „Der Zauber sollte mir die Schmerzen nehmen, die der scharfkantige Fels verursachte. Doch er hat mich auch an diesen Stein gebunden. Ich bin verwunschen. Und ich darf für immer in den tiefen Abgründen des Meisensteins für Frieden sorgen – indem ich mit meinem klaren Gesang, der fast klingt, wie der zarte Wind, den Wandersleuten eine Warnung gebe – die Natur nicht zu unterschätzen und dem Felsen Respekt zu zollen“. „Warum kann ich dich jetzt sehen?“, fragte Kurt erstaunt. „Einmal in hundert Jahren darf ich hinaus kommen und das Sonnenlicht noch einmal spüren und mich zurücksehnen, in mein Leben hier in meiner Heimat“. Tränen rollten über ihr Gesicht. Kurt nahm sie in dem Arm, um sie zu trösten und glaubte nicht, was er gerade gehört hatte. Das konnte doch nicht sein! Das war ein Scherz, eine Illusion? Oder doch nicht? Sie streichelte ihm über die Wange und flüsterte: „Aber nur einmal hat mich bisher so ein gutes Herz wie du hier gefunden. Bleib so tapfer und ehrlich und nimm den Zauber des Meisensteins mit zurück in deine Welt“. Sie gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn und begann das traurige Lied weiter zu singen. Kurt wischte sich vor Rührung eine Träne aus den Augen und als er die Augenlider wieder öffnete, war das schöne, traurige Mädchen verschwunden. Nur ein Hauch ihres Liedes flog noch über die Baumwipfel zum Großen Inselberg herüber. Ein Zauber lag in der Luft. Und Kurt bemerkte, dass er lächelte.

Er machte sich schnell auf den Weg zurück zu den Anderen, zurück zur Arbeit im Bergwerk. Noch ganz verwirrt miscte er sich zwischen die anderen Arbeiter. Niemand hatte bermerkt, dass er verschwunden war. Jemand drückte ihm sein Werkzeug in die Hand und sie arbeiteten tapfer an ihrem Tagwerk. Bis ihn auf einmal etwas Ungewöhliches anblitze. Tief im Erdreich fand er einen in die Jahre gekommen Ring – so edel und rein, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Ihn zierte ein zartes Veilchen, geformt aus edlen Steinen, genau so wie in der Geschichte, die ihm Mariella erzählte hatte. Oder hatte er das alles nur geträumt? Es war wie ein Wunder. Weil Kurt den Ring gefunden hatte, durfte er ihn auch behalten. Und er zierte bald die Hand seinen schönen Frau, die er nur kurze Zeit darauf beim Kirmestanz traf und bald heiratete. Sie lebten glücklich und zufrieden im Einlang mit der Natur am Waldesrand des schönen Ortes Thal. Und manchmal an klaren Frühlingstagen war es Kurt so, als hörte er diesen zauberhaften Gesang wieder durch den Wald klingen, den er einst am Meisenstein vernommen hatte. Oder war es nur der Wind?  Kurt war ihm begegnet – dem Geist vom Meisenstein, der ihm eines gelehrt hatte – an das Unmögliche zu glauben und keine Angst vor Wundern zu haben. Und wer weiß, vielleicht triffst auch du ihn, wenn du einmal dort oben am Meisenstein vorbei schaust, um den schönen Ausblick auf unsere Heimat zu genießen. Wenn du genau hinhörst, wenn der Wind weht, hörst du ihn sicher auch – diesen zauberhaften Gesang, der über die Baumwipfel weht, wenn du an Wunder glaubst!

(November 2018)

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3 Kommentare zu „Der Geist vom Meisenstein – Ein Märchen aus dem Thüringer Wald“

  1. Wow, sehr schön, besonders der zweite Teil ist dann echt märchenhaft, mir kamen ein paar Tränchen. Der Anfang ist etwas weitschweifig, eher einem Wanderführer entnommen uns klingt wie eine Hymne auf den Meisenstein. Das Wort „realisierte“ würde ich herausnehmen uns die Zither zittert nicht. Ansonsten – weiter so, Franziska.

  2. Wow, sehr schön, besonders der zweite Teil der Geschichte. Da kamen mir die Tränen! Am Beginn des Märchens ist die Schilderung rund um den Meisenstein eher wie aus einem Wanderführer entnommen.

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