Eigene Gedanken

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Graue Welt

Er schraubt seinen Füller auf, nimmt die leere Patrone heraus, schneidet sie auf und entnimmt ihr fast professionell die kleine Glaskugel. Bis heute ist ihm unklar, was sie darin eigentlich verloren hat. Sie gleitet durch die Rillen auf seiner Handfläche und verliert immer mehr und mehr ihre nachtblaue Farbe, bis sie schlussendlich fast durchsichtig ist. Nachdem sie dreimal auf- und abgesprungen ist, rollt sie nun in einer leichten Rechtskurve auf die Tischkante zu. Es fällt ihm schwer, der flüssigen Bewegung der Kugel zu folgen, denn die zwei Stunden Schlaf, die er letzte Nacht hatte, reichten wie immer nicht aus, um sich auch nur halbwegs auf die Welt um ihn herum zu konzentrieren. Als die Kugel den Abgrund erreicht und kurz davor war, im grauen Nichts des altmodischen Linolbodens zu verschwinden, konnte er sich plötzlich voll und ganz auf sie konzentrieren. „Bin ich diese Kugel?“, fragt er sich. „Habe ich im Lauf meines Lebens all meine Farbe verloren und bin jetzt einer wie alle?“, geht es ihm durch den Kopf. Genauso gut hätte er daran denken können, wie man die Fallgeschwindigkeit oder die Zeit, die die Kugel benötigt, um den Boden zu erreichen, berechnen kann. Doch ist es nicht genau das, was einen grau macht? Ruckartig schießt er unter den Tisch, um die kleine Glaskugel vor dem Verschwinden in der Unendlichkeit zu bewahren. Die ganze Klasse schrickt auf, schaut ihn an und fängt an zu lachen. Er könnte jetzt vor Scham im Boden versinken, doch das Gelächter der Klasse scheint auf eine unsichtbare Wand zu treffen. Als er seine Faust öffnet und sieht, dass er sie gefangen hat, beginnt er zu lächeln.

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Grundbedürfnis

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Muss ich erklären, aus welchem Werk ich diesen Satz zitiert habe? Nein. Bestimmt nicht.

Welche Menschen sind denn gemeint? Nur die Deutschen? Die Europäer? Welche Europäer? Die reichen? Die weißhäutigen? Fragen, die man sich angesichts der jetzigen Situation ruhig einmal stellen darf!

Aber, kommen wir auf etwas Allgemeines, Grundsätzliches zurück: Was braucht der Mensch zum Leben? Er muss seinen Hunger, seinen Durst stillen können, eine Schlafstatt und, wenn es geht, ein Dach über dem Kopf haben. Dann braucht er noch eine Arbeit, mit der er seine Grundbedürfnisse und vielleicht noch etwas mehr befriedigen kann. Er braucht Freunde und Partner, die er sich selbst sucht, die ihn schätzen, und eine Familie, in die er hinein geboren wird, die ihn schützt und ihm beisteht. Im Normalfall.

Alles andere – dieses mehr oder weniger protzige Eigenheim, das zusätzliche Wochenendhaus, die ein, zwei, drei Autos pro Familie, den Urlaub in weit entfernten Gegenden, das Pferd, die Yacht, den protzigen Schmuck und die Rolex, die dicken Konten, 312 Fernsehprogramme – darauf kann man verzichten. Darauf müssen die meisten Menschen auf der Welt sogar verzichten.

Wir leben hier in Mitteleuropa in einem sagenhaften Reichtum, der nicht nur in unserem Klima, sondern auch zum Teil in unserer Kolonialgeschichte begründet liegt. Mit den Augen eines Flüchtlings betrachtet, ist hier bei uns der Himmel auf Erden, das Schlaraffenland.

 Wir müssen nicht zu jeder Stunde des Tages um unser Leben fürchten. Wir müssen uns nicht verstecken, weil gewalttätige und mordende Banden durch unsere Heimat marschieren, alles mit Hass und Krieg überziehen, die primitive Infrastruktur zerschlagen und sogar vor unseren Kindern nicht Halt machen.

Wir müssen nicht täglich ein paar Kilometer durch wüstenähnliches Land laufen, um Wasser zu holen. Wir müssen nicht Brennholz sammeln, um überhaupt wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zubereiten zu können. Alles Selbstverständlichkeiten für uns.

Ein Gedanke kommt mir in diesem Zusammenhang: Was bewegte eigentlich viele unserer eigenen Landsleute früher, die DDR zu verlassen und ihr Glück im Reiche der West-Mark zu suchen? Ausschließlich politische Gründe? Das wage ich zu bezweifeln!

Und sie mussten sich damals nur für 20 Pfennig in die Berliner S-Bahn setzen. Wenigstens bis 1961.

Wie viele Menschen sind eigentlich in den letzten Jahren im Mittelmeer ertrunken? Im Versuch, the United Kingdom über den Eurotunnel zu erreichen, umgekommen?

Ich muss an Willy Brand erinnern, der schon vor ein paar Jahrzehnten darauf aufmerksam machte, dass nicht der Ost-West-Konflikt das Problem der Zukunft sein würde, sondern der Gegensatz zwischen Nord und Süd!

Wir, vor allem unsere Politiker nahmen diese Warnung nicht ernst. Jahrzehntelang steckte man den Kopf in den Sand! Man machte weiter so, wie bisher! Wird schon nicht so schlimm werden!

Schließlich liefen ja etliche Projekte in der Dritten Welt, oder? Wer hat denn daran verdient? Hat irgendjemand einmal Kontrolle ausgeübt? Wahrscheinlich nicht. Es waren Pflaster auf Beinbrüche, wie man so sagt!

Und jetzt ist es soweit. Der Süden kommt, um sein Recht auf ein normales Leben, auf Grundbedürfnisse einzuklagen.

Von oben her national diesbezüglich nur Gesetze zu erlassen und die Folgen den Ländern, Landkreisen, Gemeinden und vor allem den ehrenamtlichen Helfern zuzuschieben, ist wahrlich keine Lösung!

Der Aufstand der Armen dieser Welt ist ein globales Problem!

Willy Brand hatte Recht! Fangen wir endlich an zu teilen!

Was braucht der Mensch zum Leben?

Und:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

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