Es war zu der Zeit, als es noch Lebensmittelmarken gab.
Wir waren neben Vater und Mutter drei Geschwister, die, wie viele andere Menschen zu der Zeit, immer hungrig waren. Das wichtigste und auch begehrteste Lebensmittel war für alle das Brot. Es war, wie fast alles, rationiert, und wenn es dem Monatsende zuging, in fast allen Familien kaum noch vorrätig.
Wenn wir am Küchentisch saßen und jeder auf seine Scheibe Brot wartete, konnte ich am traurigen Blick meiner Mutter sehen, wie gern sie jedem von uns so viele Scheiben Brot hätte geben wollen, bis er satt war; aber diese Zeit ließ das nicht zu.
Das Endstück des Brotes – das sogenannte Knützchen – erhielt immer der Vater und oft beneideten wir ihn darum.
Mutter schnitt die Scheiben möglichst dünn, denn ein Brot musste bei fünf Personen eine ganze Woche vorhalten.
Um mich trotzdem am Duft frischgebackenen Brotes ergötzen zu können, erbot ich mich immer, das Brot einzukaufen, und zwar in der Bäckerei gleich neben unserer Wohnung. Ich gab dort die abgeschnittenen Brotmarken ab, erhielt jeweils ein frisches noch warmes Brot und versuchte möglichst lange in der Bäckerei zu bleiben, denn bis zum Laden nebenan schafften es die Brote nie, zu sehr warteten die Hungrigsten auf den nächsten Schub dieses köstlichen Lebensmittels.
Für mich war der Duft des frischen Brotes wie ein Geschenk. Ich bewunderte die vielen Brote, wie sie aus dem Backofen geschaufelt wurden; Vierpfünder, Dreipfünder, Zweipfünder und, auf die sah ich ganz besonders begehrlich, kleine, runde, glänzende Einpfünder. Und ich wünschte mir, nur einmal in meinen kurzen Leben ein solches kleines, glänzendes, warmes Einpfundbrot allein für mich zu besitzen. In Gedanken biss ich in die knackige, warme Kruste und verzehrte diese Köstlichkeit ganz allein und auf einmal.
Mein Geburtstag rückte heran, und trotz geringer Möglichkeiten, uns Kindern zum Geburtstag ein kleines Geschenk zu machen, fragte mich meine Mutter, was ich mir denn wünsche. Sie wusste, dass unsere Wünsche nie ein Ausmaß annahmen, die ihre Möglichkeit, sie zu erfüllen, überschritten. Sie musste mich mehrfach fragen, was ich mir denn nun wünschte, ich aber zögerte, weil mir dieser heimliche Wunsch so ungeheuerlich vorkam, dass ich mich nicht getraute, ihn zu äußern.
Aber meine Mutter blieb hartnäckig. Schließlich offenbarte ich ihr, dass ich mir zu meinem Geburtstag ein kleines rundes Brot wünsche. Mutter ließ mich nicht spüren, was sie von meinem Wunsch hielt. Sie selbst kam nicht wieder darauf zurück, und ich sah meinen sehnlichsten Wunsch nie in Erfüllung gehen.
Einige Tage vor meinem Geburtstag fragte sie mich, ob ich sie denn nach Eisenach begleiten wolle; den Grund dafür nannte sie nicht. Ich sollte also mit ihr nach Eisenach pilgern ohne zu wissen, was sie tatsächlich dort vorhatte, hoffte aber, dass sie Lebensmittel zu kaufen beabsichtigte, denn in der Kreisstadt wurden die Lebensmittelmarken immer mehrere Tage vor denen in Ruhla aufgerufen. Wir machten uns auf den Weg.
Schon in Wutha war ich am Ende meiner Kräfte, denn alles musste per Pedes bewältigt werden. Busse gab es noch nicht und die Bahn fuhr schon lange nicht mehr. Meine Mutter sah, dass ich den Weg bis nach Eisenach nicht schaffen würde, und, wie immer, fand sie eine Lösung. Sie bat eine Familie in einem Haus an der Wegstrecke, mich zu beherbergen, bis sie mich auf dem Rückweg wieder abholen würde. So geschah es. Man setzte mich im Vorgarten des Hauses auf eine Bank, die freundliche Frau versorgte mich mit Pfefferminztee, und ich harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Nach Stunden kam meine Mutter mit vollen Einkaufstaschen aus Eisenach zurück gepilgert. Aus den Einkaufsbehältnissen roch es verführerisch – da ahnte ich bereits, warum sie mich überhaupt auf diese beschwerliche Wanderschaft mitgenommen hatte.
Ich konnte es kaum erwarten, traute mich aber nicht, sie zu fragen – bis sie aus einer der Taschen mein Geburtstagsgeschenk herausnahm: Ein kleines, rundes, bräunlich-glänzendes, warmes Einpfundbrot! Sie hielt es mit beiden Händen und übergab mir, wie in einem Zeremoniell, diese kleine Kostbarkeit! Ich durfte auf dem langen Weg bis nach Ruhla dieses Geschenk für mich ganz allein aufessen, so, wie ich es mir erträumt hatte. Ich tat es mit so viel Genuss, wie ich vordem nie eine solche Kostbarkeit zu mir genommen und sie genussvoll verzehrt hatte.
Selbst heute noch, wenn ich an einer Bäckerei vorbeigehe – und es gibt leider nur noch wenige Bäckereien, die ihr Brot selbst backen – den Duft frischgebackenen Brotes rieche, denke ich an das Geburtstagsgeschenk und ich empfinde unendliche Dankbarkeit gegenüber meiner Mutter, die mir in der schweren Zeit diesen sehnlichsten Wunsch erfüllte.
Christa Schreiber