Geschichte

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Briefe an Jim

13.07.1937

Lieber Jim,

Wickard war ein kleines, ruhiges und abgelegenes Dorf. Dieselben Menschen, Häuser und Sitten seit etlichen Jahren und keine voraussehbare Veränderung in Sicht. Für meinen Geschmack war es immer ein wenig zu langweilig gewesen. Nie passierte etwas; nie wurde diesem verblassenden Ort auch nur ein Hauch von Farbe eingeflößt. Bis… du kamst.

Ich kann mich an jedes noch so winzige Detail unserer ersten Begegnung erinnern: Es war mitten im Sommer, die Kirschblüten an den Bäumen zeigten ihre volle Pracht und alle Bewohner hatten sich früh am Morgen auf dem Markplatz versammelt, um am sonntäglichen Gottesdienst teilzunehmen. Ich selbst war mit meinen Eltern gekommen. Das gebügelte Kleid und die geputzten Schuhe waren makellos; so, wie meine Mutter darauf bestand. Dazu noch die rosafarbene Schleife im Haar und meine sogenannte angemessene Erscheinung war fertig. Ja, meine Familie war vielleicht kleinlich und immer darauf aus sich anzupassen, doch nicht minder wie all die anderen Leute in diesem Dörfchen.

Wir saßen in der Kirche immer weit vorn, waren als Erste dort und gingen fast als Letzte. Mein Vater war ein angesehener Mann und kannte alle Bewohner. Er schätzte Höflichkeit und war ein offener Mensch, der jedoch auch von vielen beneidet wurde. Und während sich meine Eltern nach dem Gottesdienst noch mit dem Pfarrer unterhielten, verließ ich meinen Platz an ihrer Seite und lief zum Ausgang. Es war ein schöner Sommertag und ich hatte ganz bestimmt nicht vor, den Rest des Tages in diesen alten Gemäuern zu verbringen. Als ich hinaus ins Freie trat, blendete mich augenblicklich die Sonne und ich hielt inne. Es brauchte ein paar Sekunden, ehe ich wieder sehen konnte und das, was ich sah, raubte mir buchstäblich den Atem. Vermutlich war es nur das Neue und Unbekannte, dass mich nach so vielen Jahren Eintönigkeit angelockt hatte. Denn ich hatte schon immer einen Hang dazu, mehr zu erwarten, als ich letztendlich bekommen konnte, doch da standst du und vereintest alles miteinander in deiner bloßen Anwesenheit.

Diese dunklen, unergründlichen und endlos traurigen Augen fielen mir als erstes auf. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, dich so zu sehen; und all die Verzweiflung, die du ausgestrahlt hast, floss mit einem Mal auf mich über. Braunes Haar umspielte ein kantiges Gesicht und der hochgewachsene Körper war sowohl athletisch als auch drahtig. Du warst nicht viel älter als ich und gehörtest zu meiner Generation, die Wickard irgendwann am Leben halten würde und doch waren wir so gänzlich verschieden.

Ich wusste nicht, wie lange ich auf den Treppen zur Kirche gestanden und dich und deine Familie beobachtet hatte, die in ein Gespräch mit dem Direktor der örtlichen Schule vertieft war. Nur du wirktest irgendwie verloren – anwesend, jedoch warst du wiederum ganz wo anders. Wieso nur fiel es mir so schwer, mich von dir abzuwenden?

Erst einen Herzschlag später wurde mir bewusst, dass du mich ebenfalls beobachtet hattest und unsere Blicke kreuzten sich. Für einen Moment stand die Welt still. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein und das Einzige, was ich wahrnahm, war dein Geruch nach Gewürznelken und Seife, der vom Wind zu mir herübergeweht wurde. Ich wagte nicht mich zu bewegen, da ich befürchtete, dieser kostbare Augenblick könnte vergehen, wenn ich es tat. Doch jemand kam mir zuvor. Meine Eltern traten die Kirchenstufen zu mir herunter und die Hand meiner Mutter auf meiner Schulter, riss mich aus der Versuchung, zu dir herüberzulaufen. Ich hatte aufgehört zu zählen, wie oft ich mir nach diesem Tag vorgeworfen hatte, nicht einfach zu dir gegangen und „Hallo“ gesagt zu haben. Ich hätte nur zu gern gewusst, wann ihr hierhergezogen wart und warum ihr euch ausgerechnet nach Wickard verirrt hattet. Denn Fremde traf man in unserem beschaulichen Dorf recht selten.

Nur eine letzte Frage quälte mich in den darauffolgenden Tagen noch ein ums andere Mal: Wann würden wir uns wiedersehen?

In Liebe,

Deine Isa


25.09.1937

Lieber Jim,

Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick? Ich halte es für möglich. Seid unserer ersten Begegnung gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf. Egal, wo ich bin, egal, was ich tue; ich sehe nur noch dein Gesicht und diese traurigen Augen und versuche dahinter zu kommen, was sie so leidvoll wirken lässt. Vielleicht werde ich es ja nie erfahren, denn wir kennen uns nicht und es ist mir das Recht verwehrt, mehr über dich wissen zu wollen. Dennoch kann ich mich nicht davon abhalten, dir nachzuschauen, wenn sich unsere Wege kreuzen oder jemand deinen Namen sagt. Du musst wissen, ich bin nämlich nicht die Einzige, die sich fragt, wer diese neue Familie ist. In diesem Dorf machen Neuigkeiten schnell die Runde, also solltest du es den Leuten nicht zu übelnehmen, wenn sich die Gespräche über euch wie ein Lauffeuer verbreiten und urplötzlich verstummen, sobald jemand von euch ein Geschäft betritt oder über den Marktplatz läuft.

Mein ganzes Leben schon verbringe ich hier – sechzehn Jahre. Ich kenne jeden Mann und jede Frau, habe als kleines Mädchen jeden Stein umgedreht, nur um etwas Neues zu entdecken und weiß so manche Geschichte, die sicher nicht für alle Ohren bestimmt war. Nur über dich weiß ich nichts. Und das macht mich wahnsinnig. Dein Vater ist Handwerker und deine Mutter Wäscherin. Du hast insgesamt drei Brüder und lebst mit deiner Familie in einem Haus auf der anderen Seite des Ortes. Und wieder gelange ich zu demselben Ergebnis: Wer bist du?

Ich glaube fest daran, dass jeder Mensch etwas an sich hat – ob gut oder böse ist mir gleich –, dass ihn zu etwas Besonderem macht. Also, Jim, was gibt es über dich zu wissen? Denn weißt du was, deine Augen haben dich schon längst verraten. Es passiert nicht ohne Grund, dass jemand so wird, wie er letztlich ist. Was hast du zu verbergen, dass dich in schlaflosen Nächten nicht loslässt? Ich verrate dir ein Geheimnis: Auch ich war einst nur ein Mädchen – freigesprochen von allen Sorgen. Doch das Einzige, was ich nicht aufhalten zu vermochte, war die Zeit und je älter ich wurde, desto weniger wurde die schützende Naivität, die von mir Besitz ergriffen hatte. Ich sah alte Dinge mit neuen Augen und erkannte die unvermeidbare Wahrheit, die sich schon immer vor meiner Nase befunden hatte und die ich einfach nicht sehen wollte.

Was machst du nur mit mir? Selbst jetzt nach etlichen Wochen, in denen ich dich eigentlich schon vergessen haben sollte, bist du derjenige, der meine Gedanken bestimmt. Es ist wie ein Spiel, dass ich einfach nicht gewinnen kann. Denn ich bin nicht der Spielmacher. Entweder raubst du mir die Luft zum Atmen oder du schenkst sie mir. Du könntest zulassen, dass ich innerlich verblute oder du rettest mich. Du entscheidest, ob sich der Sturm in meinem Inneren legt oder noch größer wird, als zuvor. Und du hast noch nicht einmal eine Ahnung davon, wie sehr sich mein Leben seitdem geändert hat.

Während ich diesen Brief schreibe, lächele ich gerade. Falls du das hier jemals lesen solltest, dann bitte ich um Verzeihung. Wahrscheinlich hältst du mich für verrückt, nachdem ich all dies niedergeschrieben, dir aber nie wirklich gesagt habe. Etwas, das an mir mehr ein Makel als eine besondere Eigenschaft ist, ist dass ich schlecht darin bin, offen über meine Gefühle zu sprechen oder sie selbst zu zeigen. Einen Ausweg habe ich darin gefunden, sie einfach aufzuschreiben. Also wenn du an diesem Punkt angelangt bist, dann versprich mir weiterzulesen. Es gibt noch so viel, dass ich dir sagen möchte, es bis jetzt jedoch noch nicht über mich gebracht habe. Unsere Geschichte hatte doch gerade erst angefangen.

In Liebe,

Deine Isa


06.01.1938

Lieber Jim,

An diesem Tag hatte sich unsere Geschichte verändert.

Es war am späten Nachmittag; die Sonne verneigte sich schon gen Horizont und kündigte deren baldigen Untergang an. Es war der Vorbote der Nacht und auch die schillernden Farben am Himmel zeugten von einem Schauspiel, das meines Erachtens im Winter am besten zur Geltung kam. Die kahlen Äste der Bäume waren von einer feinen Eisschicht überzogen, die die letzten flüchtigen Sonnenstrahlen auffingen. Auch die Wiesen, Felder und Dächer waren schneebedeckt und verzauberten ganz Wickard in eine glänzende Winterwunderwelt. Ich liebte den Winter, selbst, wenn er sich schon bald dem Frühling beugen musste und es bereits zu tauen begann. Doch ein paar Tage würden mir noch bleiben.

Jim. Ein einsamer Name und doch drehte sich meine Welt um nicht viel mehr, als um ihn.

In den letzten Monaten bekam ich dich immer häufiger zu Gesicht; in der Schule, beim Gottesdienst oder ganz unverhofft auf der Straße. Doch es war nicht annähernd genug. An diesem Abend hatte ich mich kurzerhand entschlossen, noch eine Runde mit dem kleinen Hund meiner Großeltern laufen zu gehen. Normalerweise lief ich eine ruhige Strecke durch den Wald, doch unbewusst hatten mich meine Schritte zu der Straße geführt, in der ihr gewohnt habt. Es war schon seltsam, wie sehr eine einzelne Person jemanden beeinflussen konnte. Bis vor ein paar Meter vor euer Haus wagte ich mich nicht. Zu groß war die Angst, von jemanden gesehen zu werden, auch wenn das lächerlich war. In diesem Moment machte ich mir nichts aus meinen tadelnden Gedanken, denn bisher waren ein paar scheue Blicke alles gewesen, was wir miteinander ausgetauscht hatten. Es schien mir nicht fair, mich in dein Leben zu drängen, wenn ich noch nicht einmal wusste, wie du darüber dachtest. Doch welche Möglichkeit sollte ich auch nutzen, dich kennenzulernen? Immer wenn ich mir ausmalte, wie ich dich ansprechen würde, lief alles schief und versetzte mir einen solch großen Schrecken, dass ich es lieber dabei beließ, dich aus der Ferne zu beobachten. Und als ich dort stand, immer noch wenige Meter von deinem Haus entfernt und dem aufbrausenden Schneesturm trotzend, flog die Haustür auf und offenbarte deine hochgewachsene Gestalt. Ich traute meinen Augen kaum. Das Verandalicht ging an und im Schein des flackernden Lichts, erkannte ich deinen Vater, wie er dich die Treppenstufen hinunter in den Schnee stieß. Plötzlich holte er aus und traf dich mit voller Wucht am Kinn. Nur mit Mühe konnte ich einen Schrei verhindern und hielt mir schnell die Hand vor den Mund. Meine Augen weiteten sich immer mehr und jede Faser meines Körpers schrie danach, zu dir zu eilen, um dir zu helfen. Doch ich war wie erstarrt. Egal, was ich vorhatte zu tun, meine Füße gehorchten mir einfach nicht und so musste ich voller Angst abwarten, bis dein Vater von dir abließ und wieder im Haus verschwand.

Mit dem kleinen Terrier an meiner Seite gab ich mich kurz darauf dem Verlangen hin, zu dir zu rennen und mich neben dir im Schnee hin zu knien. Als ich dir jedoch ins Gesicht blickte, wurde mir mit einem Mal schwindelig von dem ganzen Blut und ich war froh, mich schon am Boden abstützen zu können. Es war schwer eine Stelle in diesem entstellten Gesicht zu finden, die nicht geschwollen oder blutig war.

Ohne es zu merken, liefen mir immer mehr Tränen die geröteten Wangen hinunter. Und mehrere verstrichene Sekunden später fragte ich mich, ob es je wieder aufhören würde. Mein leises Weinen war zu einem lauten Schluchzen geworden. Plötzlich spürte ich etwas Warmes an meiner Wange, bis ich durch die verschwommene Sicht erkannte, dass es die zarte Berührung deiner Fingerspitzen war, die federleicht über meine Haut strich. Damals hast du mich gefragt, warum ich geweint habe. Und ich hielt es für die absurdeste Frage, die du in diesem Moment hättest stellen können. Nicht ich war diejenige, die geschunden am Boden lag, sondern du. Darauf habe ich nur noch mehr geweint und du warst derjenige, der mich getröstet hat.

An diesem Abend hatte sich unsere Geschichte wirklich verändert. Und nachdem ich dich mit zu mir nach Hause genommen hatte, um deine Wunden zu versorgen, hatte ich mich noch mehr in dich verliebt, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Es wäre mir lieber gewesen, wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten, doch vielleicht würde ich nun endlich mehr über den Jungen mit den schier endlos traurig wirkenden Augen erfahren.

Nichts geschieht ohne Grund. Auch nicht unsere miteinander verflochtenen Wege – ob eng beisammen oder getrennt.

In Liebe,

Deine Isa


17.11.1939

Lieber Jim,

Du hast mich gelehrt zu vertrauen, dafür einzustehen, was mir am meisten am Herzen liegt und mich nie mit dem zufrieden zu geben was ich habe, wenn es noch so viel gibt, was man eigentlich haben könnte. Das Einzige, was ich jedoch brauche, um mich schwerelos zu fühlen, ist dein wundervolles Lächeln und deine Augen, in deren intensiven Blick ich jedes Mal versinken könnte. Der bloße Gedanke an dich lässt mein Herz schon wie wild schlagen.  

Du hast dafür gesorgt, dass die letzten Monate zu den Schönsten meines Lebens wurden. Nach dieser Nacht hast du tagsüber sowie in meinen Träumen über mich gewacht, während ich deine engste Verbündete im Kampf gegen die Dämonen wurde, die dich manchmal befielen und bis zur Gänze erschöpften. Nach all den vergangenen Stunden, die wir schon miteinander verbracht hatten, nach all den unzähligen Gesprächen, in denen ich endlich hinter die sich spiegelnde Oberfläche sehen und einen Blick auf den Meeresgrund erhaschen konnte, sollten unsere täglichen Begegnungen ein Leichtes für mich sein. Doch das genaue Gegenteil war geschehen: Ich konnte noch so viel von dir und deinem früheren Leben erfahren, es war nicht annähernd genug. Jede Geschichte und jeder Gedanke, den du einst gehegt hast, war nur ein Bruchteil deiner dessen. Und um das fertige Bild zu sehen, brauchte es schon mehr als diese lächerlichen paar Stunden. Es brauchte ein ganzes Leben.

Der ständig betrunkene Vater und die liebevolle, jedoch willensschwache, Mutter, hatten einen tiefen Riss in deiner Seele hinterlassen, den ich nun versuchte wieder zu verschließen. Eine solch tiefe Narbe – verblasst und nicht mehr sichtbar, obwohl deren Schmerz noch immer spürbar war – brauchte seine Zeit, um heilen zu können.

Gerade das war es ja. Zeit. Das Kostbarste und Einzige, das wir nicht hatten. Unsere verging schneller, als ich gedacht hatte und das Geschehen der Welt ließ unsere idyllische kleine Blase zerplatzen. Immer und immer wieder zeichnet sich ein Bild vor meinen geschlossenen Augen ab: Wie dich der Soldatentrupp mit den anderen kampfesfähigen jungen Männern aus dem Dorf führte und deine Augen sich abermals mit der gleichen Trauer auszeichneten, die du bei unserer ersten Begegnung verspürt hast. Du warst ab diesem Punkt nur einer von tausenden, die in die Armee eingezogen wurden und doch schien dein Verlust am schwersten zu wiegen. Der Krieg war ausgebrochen und hatte nun auch unser kleines Dorf erreichte. So wie jedes, musste es seinen Tribut zahlen. Und du warst meiner. Es war ungewiss, wann und ob wir uns je wiedersehen würden. Bei diesem Gedanken zerbrach mir das Herz und wollte aufhören zu schlagen. Das Letzte, was mir blieb, war das Gefühl deiner Lippen auf meinen gewesen. Ein verzweifeltes und gewagtes Versprechen dafür, dass du versuchen würdest, zurück zu kommen. Zu mir.

In Liebe,

Deine Isa


24.05.1943

Lieber Jim,

Das Letzte Mal, dass ich von dir gehört habe, ist schon fast ein Jahr her. Zuletzt weiß ich, dass du in einem Lazarett an der russischen Grenze aufgenommen wurdest. Ich weiß jedoch nicht, wie sehr du verletzt gewesen warst oder ob du überhaupt noch gelebt hast. Jedes verfluchte Mal, wenn ich neue Gerüchte über den Krieg aus der Stadt höre, bringt es mich fast um. Die Sorge um dich ist alles, was mich noch bestimmt. Bei jedem fernen Donnergrollen und jeder Bombenexplosion, wird meine Verzweiflung größer. Ich bin immer noch hier in Wickard und dazu verdammt, nichts tun zu können, als auf die unebene Landstraße zu starren und darauf zu hoffen, dass du sie eines Tages gehen wirst. Bis dein Weg schlussendlich wieder zu mir führt. Aber jeder weitere Monat, in dem ich vergebens hoffe, ist eine erneute Qual. Oh, Jim, wann kommst du endlich zurück zu mir?  

Im November werden es vier Jahre, in denen wir schon voneinander getrennt sind. Kaum zu glauben, dass ich es bis hierher durchgehalten habe. Jeder Schritt ohne dich fühlt sich endlos beschwerlich an. Mein Körper bleibt jung, doch meine Seele zerfällt. Vermutlich ist das das Schicksal des gesamten Dorfes. Irgendwann sind wir nicht viel mehr als Schatten unserer selbst.

Ich sollte dir schreiben, dass dein Vater letzten Winter verstorben ist. Eine schwere Lungenerkrankung. Es waren nicht viele Leute auf der Beerdigung und ich bin mir sicher, du hättest es mir verboten, doch ich habe trotzdem einen Grabstein anfertigen lassen. Er war immerhin ein Teil deines Lebens. Deine Mutter und deine Brüder sind wohl auf. Ab und zu sehe ich sie im Gottesdienst, wenn sie für dich beten. Sie haben die Hoffnung ebenfalls nicht aufgegeben; so wie ich.

Eines will ich dir sagen, Jim Hoeffer, ich wurde in eine Familie hineingeboren, in der es gang und gebe ist, dass man seine Versprechen hält. Und ich spüre deinen Kuss nach all den Jahren noch so intensiv auf meinen Lippen, als wäre es erst gestern gewesen. Du wirst zu mir zurückkommen und das sage ich mit all dem Kummer, den ich je gelitten habe! Ich werde auf dich warten, Geliebter. Auch wenn es noch weitere vier Jahre dauern sollte. Erinnere dich an meine Worte; jedes Mal, wenn du die Augen schließt, werde ich bei dir sein und sollte es dein letztes Mal bleiben.

Für immer dein,

Isa


Sommer 1946

Die Front stand still und der Krieg war vorbei.

Für die Meisten war ein Wunder geschehen, für Jim war es die langersehnte Erlösung. Nach etlichen Monaten der Kriegsgefangenschaft, war auch er endlich heimgekehrt. Sein geschundener Körper sehnte sich nach Ruhe, doch sein Herz brauchte nichts dringender als sie. Wie oft hatte er doch nachts wachgelegen, weil seine Gedanken um nichts anderes gekreist waren! Und nun war er so kurz davor seine ausgebrannte Seele durch einen Blick auf sie zu heilen. Es war wie damals, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren; die vom Wind verwehten Kirschblüten, das gleisende Sonnenlicht und im Hintergrund die alten Kirchengemäuer. Das Bild hatte sich jedoch verändert: In der westlichen Fassade prangte eine riesige, klaffende Öffnung und während die eine Hälfte der Flügeltür komplett zerstört worden war, hing die andere noch gerade so in den Angeln. Nur Isa war das einzig Beständige inmitten eines wütenden Sturmes.

Als er vor sie trat, blieb sie mitten auf den Kirchenstufen stehen. Ihre Augen weiteten sich und ihr Gesicht bot ein Schauspiel aus den unterschiedlichsten Emotionen, dennoch konnte er sowohl seine Vergangenheit und Gegenwart als auch Zukunft in ihren Augen lesen.

Für Martha und Theodor Sowada.

12

Damien

Früher war ich still. Ich habe nichts gesagt.
Ich habe alle Beleidigungen und Mobbingattacken stillschweigend über mich ergehen lassen. Ich habe alles einfach geschehen lassen.
Ich war sehr schüchtern.
Oft habe ich geweint. Oft hatte ich Angst. Angst vor dem nächsten Schultag.
Angst vor neuen Beleidigungen. Angst vor ihnen.
Ich wollte nicht dort hin.
Oft war ich traurig und habe mich allein gefühlt.
Ich vermisste etwas. Ich vermisste Jemanden.

Heute bin ich stärker als früher. Heute sage ich etwas, wenn sie mich beleidigen oder ärgern. Heute habe ich Freunde, auf die ich mich verlassen kann. Heute habe ich eine beste Freundin, der ich alles anvertrauen kann, die immer ein offenes Ohr für mich hat.
Trotzdem fühle ich mich manchmal allein. Manchmal muss ich einfach weinen.
Wie aus dem nichts muss ich weinen.
Ich vermisse Jemanden. Ich vermisse ihn. Ich habe ihn zwar nie gesehen, trotzdem vermisse ich ihn.

Vor Kurzem wurde mir das erste Mal wirklich bewusst, dass ich ihn kannte. Ich verbrachte vier Monate mit ihm. Vier Monate verbrachte ich mit ihm, bevor er starb.
Ich lernte diese Welt allein kennen. Dank ihm durfte ich leben. Dank ihm konnte ich diese Welt kennenlernen, musste aber bald feststellen, dass diese Welt nicht so wundervoll war, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Ich frage mich oft, wie es wäre, wenn er leben würde.
Er wäre hier.
Er wäre bei mir, an meiner Seite.
Er wäre für mich da.
Er wäre ein Teil von mir.
Er wäre mein Zwillingsbruder.

7

Bruno lernt fliegen

Bruno war gerade in die erste Klasse gekommen. Er war schon total aufgeregt, denn heute war seine erste Sportstunde. Er liebte Sport über alles – für ihn stand fest, das wird sein Lieblingsfach.

Die Sportstunde begann. Seine Sportlehrerin ließ sie alle auf eine Bank setzen. Nun stellten sie sich vor, den Namen, wo sie wohnen und welchen Sport sie am liebsten machen. Es war gar nicht so leicht abzuwarten bis man dran war. Denn die Wörter wollten immer ganz schnell aus Bruno raus. Endlich war er dran. So erzählte er, dass er seit drei Jahren Ski Alpin fährt und schon an vielen Wettkämpfen teilgenommen hat. Aber eigentlich möchte er, so wie die Großen im Verein, mal von der Schanze springen. Das wäre soooooo cool.

Als er 5 Jahre alt war, war es endlich so weit. Er, Bruno, durfte endlich mal springen. Es war einfach cool. Im Bauch hat es mächtig gekribbelt und er war nervös. Viele Fragen schossen ihm durch den Kopf. Würde er den Schanzentisch treffen? Was ist, wenn er stürzt? Steht er den Sprung? Jetzt war es soweit. Bruno schnallte die Sprungskier an. Schob seine Sprungbrille ins Gesicht. Vorsichtig schob er sich auf den Balken. Nun saß er da, voller Vorfreude. Er bekam vom Trainer noch ein paar Anweisungen. Jetzt konnte er starten. Vor lauter Anspannung rutschte Bruno auf dem Balken hin und her. Jetzt bekam er freie Bahn. Bruno rückte sich zurecht. Beugte sich nach vorne, ging noch mal durch was der Trainer zu ihm gesagt hatte und … ließ los. Schnell waren die Skier in den Spuren. Da kam der Schanzentisch und … er sprang mit voller Kraft ab. Leider zu spät. Schon war er sicher gelandet und stand den Sprung. Das Ausfahren hatte er oft geübt. Es war sein allererster Sprung. Das war cool. Er schnallt die Skier ab und rannte die Treppen hoch. Es war ein cooles Gefühl gewesen. Er wollte noch mal Springen und wollte auch nicht wieder aufhören. Seine Mama und sein Trainer lobten ihn für den tollen Sprung. Er durfte noch drei Mal Springen. Die Zeit ging viel zu schnell rum. Es sollte vorerst dabei bleiben. Deswegen wurde er traurig.

Jedes Kind erzählte und da war die erste Stunde vorbei. Nach einiger Zeit kam seine Sportlehrerin auf ihn zu und fragte ihn, ob er denn immer noch Springen möchte. Mit leuchtenden Augen schaute er sie an – Jaaa! Das wäre echt toll. Kurz darauf wurde Bruno von seiner Mama abgeholt. Da kam die Sportlehrerin auf sie zu und erzählte ihr von den Gesprächen mit Bruno. Bruno war nervös, weil er nicht wusste, wie seine Mama darauf reagieren würde. Nun stellt die Lehrerin die Frage, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte. Mama gab ihre Handynummer an die Lehrerin weiter. Diese wollte sich mit dem Sprungtrainer unterhalten. Sie hielt ihr Wort und hatte sich mit dem Trainer unterhalten. Im nächsten Sportunterricht war er da und schaute Bruno zu.

Am nächsten Tag rief er Brunos Mama an. „Ich war bei Bruno im Sportunterricht und möchte ihn gern trainieren.“ Brunos Mama war total erstaunt.

„Können Sie heute um 16:00 zur Schanzenbaute „Alte Ruhl“ kommen?“

„Leider nein.“ Denn sie hatten schon etwas vor. „Und am Donnerstag zur gleichen Uhrzeit?“ „Ja, das geht.“ „Bitte mit Langlaufsachen.“ Bruno konnte es kaum fassen, er durfte zum Schnuppertraining. Aber er war enttäuscht, denn er dachte, dass sie Springen. Die 2 Tage zogen sich und wollten nicht vergehen. Endlich war es so weit. Er durfte mitmachen. Schnell machte er die Hausaufgaben und zog sich um. Dann ging es los. Er quasselte die ganze Fahrt auf seine Mama ein. Sie machten einen Deal. Wenn es ihm gefällt, darf er weiter machen. Aber da es mitten in der Alpinsaison war, wurde diese wenigstens noch beendet. Damit war Bruno einverstanden. Glücklich sprang er aus dem Auto. Der Trainer erwartete sie bereits. Er hatte schon Schuhe, Skier und Stöcke dabei. Nun ging es los. Es war ein ganz anderes Gefühl als beim Alpine. Die Skier waren dünn und hatten keine Eisenkanten. Nach kurzer Zeit hatte er den Dreh raus und lief als ob er noch nie was anderes gemacht hätte. Der Trainer war sichtlich erfreut, und fragte ob er nächste Woche wiederkommen wolle. Da wäre auch Sprungtraining. Voller Begeisterung stimmte er zu. So wurde nach einem Sprunganzug und Schuhen gesucht. Alles war perfekt. Mit voller Ausrüstung traten sie den Heimweg an.

Zuhause angekommen erzählte er seinem Papa was er alles erlebt hatte. Sein Papa war überrascht von den vielen Sachen. Am Abend wäre Bruno am liebsten mit Skiern ins Bett gehen.

Nun stand er im Auslauf, im Sprunganzug, Schuhen und Helm. Bereit zur ersten Abfahrt. Wieder fühlten sich die Skier anders an. Sie waren breiter und länger. Ihm wurde erklärt worauf er achten soll – Po oben halten und Arme gestreckt lassen. Sein Herz klopfte. Nun ließ der Trainer in los und er rutschte hinunter. Er überlegte: Wie war das? Bei den Tannenzweigen, Po runter und ausfahren. So tat er es und kam zum Stehen. Das war toll. Bruno beeilte sich nach oben zu kommen. Das machte Spaß. Danach stand für ihn fest: er möchte die Sportart wechseln.

Die Zeit verging, er trainierte fleißig. Es klappte von Mal zu Mal besser. Der Winter verging, das bedeutete für Bruno, bald durfte er das erste Mal springen.

Nun war es so weit. Diesmal mit Sprungskiern an den Füßen. Bruno krabbelte auf den Balken. Zog die Brille ins Gesicht und lauschte den Ansagen von seinem Trainer.

Eric Langert

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Ein Lied

„Was pfeifst du da?“, fragt die ältere Frau den kleinen Jungen, der in der Sonne sitzt. In Ruhla, der kleinen Bergstadt, auf dem Marktplatz lässt es sich gut aushalten. Auf den Bänken in der Sonne. Er blinzelt sie an: „Das hat meine Oma immer gesungen – sie kannte es aus ihrer Kindheit. Sie lebt leider nicht mehr und ist bei den Engeln. Immer wenn sie am Wochenende Klöße gemacht hat, hat sie es gesungen. Ich weiß nicht wie es heißt, aber ich pfeife immer es vor mich hin, damit ich es nicht vergesse“.

Die alte Frau ist gerührt. Sie streichelt dem Kleinen übers Haar und geht zurück zu den anderen Leuten, mit denen Sie an der Touristeninformation wartet. Die Reisegruppe macht einen Stopp in der ehemaligen Uhrenstadt Ruhla. Das Uhrenmuseum stand auf dem Plan. Für die Nostalgiker. Oder besser gesagt „Ostalgiker“. Was für eine Fahrt durch die neuen Bundesländer. Spannend irgendwie. So 30 Jahre nach dem Mauerfall und dem Umzug in den Westen hat sich die alte Dame aufgerafft, um nochmal auf den Spuren der alten Tage zu wandeln. Im Bus geht das ja auch ganz bequem. Noch ein Foto, dann geht‘s weiter. Oberhof soll ja jetzt so schön sein. Mal schauen. Sie summt das Liedchen während der Busfahrt vor sich hin. „Wie schön denkt sich der Typ im Anzug. Ganz schnieke sitzt er neben den Älteren im Bus – Marketingrecherchen vor Ort – die Agentur braucht seine Einschätzung zu den Hot-Spots der Bustour. Muss ja sich lohnen, solche Fahrten anzubieten.

Ein paar Tage später zuhause summt er unter der Dusche das kleine Lied. Seine Frau freut sich. „Endlich gute Laune“, denkt sie. Da passt die Flasche Rosé Wein doch super zum gemeinsamen Feierabend.

Am nächsten Tag erzählt sie ihrer besten Freundin von dem romantischen Abend. „Er hat sogar unter der Dusche gesungen und war gut drauf, endlich hatten wir mal wieder eine gute Zeit zu zweit“. „Was hat er denn gesungen?“, fragt die Freundin im Kostüm. Sie fliegt gleich weiter, was für ein Stress. Die Fluglinie plant immer ziemlich eng. San Francisco steht auf dem Plan. Aber von der Stadt hat sie auch nicht so viel – keine Zeit, viel zu teuer und der Flug geht weiter. Das Lied kann die Freundin noch ganz genau nachsummen. Die Frauen umarmen sich. Zum Glück hat es dieses Mal auf ein Käffchen geklappt. Am nächsten Abend sitzt die hübsche Frau im Kostüm in einer Kneipe in Fisherman‘s Wharf, dem bekannten Hafenviertel. Die Seelöwen brüllen am Pier und es gibt leckeren Fisch zum Abendessen. Obwohl alle todmüde sind, wollten die Kollegen noch ausgehen. Die Flugbegleiter sind außer Rand und Band! Na ja, so gut es geht – der Wein war auch wieder so lecker. Da stimmt man glatt eine Liedchen an auf dem Weg ins Hotel. „Was war denn das für ein Song?“, fragt die Kollegin neugierig? „Weiß auch nicht, wo ich den her habe“, lacht die junge Frau zurück. „Was war das nur für ein Lied?“ „Wie schön!“, ruft der Kerl mit der Gitarre ihr zu. Er spielt schon den ganzen Abend. Muss sich ja lohnen, ist echt teuer hier. Er klimpert den Song ein bisschen auf seiner Gitarre. Bevor es morgen per Anhalter Richtung Mexico geht. Da will er ein bisschen chillen. Ist eh viel billiger dort an der Baja California. Und die Mädels sind echt schön da, die kommen zum Feiern dort hin.  Denen muss man was bieten. Wie der dunkelhaarigen Schönheit. Wo kam sie nochmal her? Irgendwas mit Singapore? Oder so ähnlich. Aber romantisch sind sie alle. Ist doch schön, so am Strand mit der Gitarre und der Tequila Flasche. Er summt ihr das neue Liedchen vor. „Echt fresh, aus San Francisco. Weiß auch nicht, was ich daraus mache, ich bin da in einer kreativen Findungsphase“, flüstert er. Ihr gefällt es. Für eine Nacht am Strand ist das genau der richtige Soundtrack. Leider geht es morgen schon zurück. Das Jahr in Californien am College ging schnell vorbei. Die Spring Break Party am Beach von Mexico war gleichzeitig die Abschiedsparty von ihrem Austauschjahr in der USA. Mal sehen, wie es nun zuhause weiter geht. Zum Glück gibts ja die Fotos, zur Erinnerung auf ihrem Smartphone. Die schaut sie sich so oft an. Auch vom Strand und dem Typen mit der Gitarre. Hach war das schön und das war doch dieser Song … Sie summt ihn noch in der Bibliothek vor sich hin, dabei muss sie muss echt was schaffen, das Studium ist hart. “Ruhe!“, wird sie ermahnt. Es ist immer so streng hier. Aber man will ja in Ruhe arbeiten. Der Typ von der Bibliotheksausleihe ist genervt. „Muss ausgerechnet hier so ein Krach sein?“ Den Lärm hat er heute Abend noch genug – da arbeitet er noch woanders, in einem Schnellrestaurant. Da geht‘s zackig zur Sache. Hier genießt er die Ruhe schon sehr. Zum Glück wird‘s zu späterer Stunde ruhiger im Fast Food Laden. Da hat er Zeit, in Ruhe aufzuräumen. Nur dieser verrückte Typ sitzt noch in der Ecke. Bestimmt wegen des W-LANs. Aufgrund des Gourmet Essens bestimmt nicht. Er summt vor sich hin: „Wo kam denn diese Melodie bloß her? Ach ja, aus der Bibliothek“, fällt ihm ein. Er summt und putzt und lacht den Reisenden an, der seine Straßenkarte quer über den Tisch ausgebreitet hat. „Kann man ja gar nicht richtig sauber machen“, denkt der Arbeitende. Und er putzt und summt laut vor sich hin – ein Lied. „Wie kurios“, freut sich der Rucksacktourist. „Ist doch was für meine Instagram-Story. So ein Ausschnitt aus dem echten Leben hier. Kommt sicher voll real rüber“. Ein kurzes Clip, und schon ist der summende Putzteufel online. Nur für einen Tag versteht sich, die Story löscht sich nach 24 Stunden wieder. „Krass, schon 200 Leute, die sich das angeschaut haben“. Auch in Moskau. Da geht das W-LAN im Hotel echt gut. Der Kumpel aus Russland besucht gerade eine Hochzeit in der Hauptstadt. Da geht was, vor allem alkoholisch! Mit Wodka im Blut singt sich´s doch gleich viel besser. Auch diesen Song, den er irgendwo gehört hat. Wo war das noch gleich? Ach egal, let‘s have a Party! Da sind auch wieder die Freunde aus Deutschland dabei. „Macht Laune, denen mal zu zeigen, wie richtig gefeiert wird“, freut er sich. Den Wodka nehmen sie mit, die wohnen in Thüringen, in Eisenach. Da war er auch schon zu Besuch, die Wartburg war echt beeindruckend. Genau so beeindruckend wie eine echte russische Hochzeit. Davon kann man sogar den Arbeitskollegen in Eisenach erzählen. „Was für ein Spaß war das! Wir haben getanzt und gesungen bis zum frühen Morgen“, erzählt den Hochzeitsgast den Kollegen. Er summt dazu dieses kleine Lied, das so einprägsam war. „Verrückt“, denkt sich die hübsche Brünette aus dem Büro, “Irgendwo her kenne ich das Lied doch“. Sie summt es mit und vergisst es später wieder. Heute steht ja noch ein Geburtstag an, da muss sie noch nach Ruhla, in diese Bergstadt. Der Neffe wird sieben Jahre alt. Zum Glück hat sie das Geschenk schon gekauft. So eine Actionfigur, keine Ahnung, was das eigentlich genau ist. Und wie er sich darüber freut am Nachmittag. „Das ist richtig cool“, lacht der Kleine. „Hör mal, das hab‘ ich heute an der Arbeit aufgeschnappt, das wird dir gefallen“, sagt die Tante, und summt ihm das kleine Liedchen vor, ein Ständchen der besonderen Art. „Woher kennst du denn Omas Lied?“, fragt der Kleine. „Omas Lied? Ich dachte, das kommt aus Moskau?“. Der Kleine schüttelt den Kopf: „Das kommt doch aus Ruhla, weißt du das denn nicht, wie soll denn ein Lied um die halbe Welt reisen können?“. Er lacht und freut sich über den schönen Tag. Und die Tante summt noch einmal diese besondere Melodie vor sich hin und denk: „Ein Lied – wie soll denn das um die halb Welt reisen? Das ist ja unmöglich“.

Dann geht sie zu den anderen Gästen. Vielleicht singen die ja noch ein bisschen mit.

Franziska Klemm (August 2019)

28

Abschied vom Garten

Ein letzter klarer Sonnenstrahl wärmt heute meine Glieder,
der Herbst färbt Blätter überall, sie fallen tanzend nieder.

Ich sitz vor meinem Gartenhaus und denk noch nicht an morgen.
Wie sieht die Welt so friedlich aus, ganz frei von allen Sorgen!

Am Himmel zieht ein Vogelpaar hoch oben seine Kreise.
Es macht sich bald wie jedes Jahr auf eine lange Reise.

Ein Mäuslein sucht im nahen Busch nach Nüssen und nach Kernen,
dass man jetzt Vorrat schaffen muss, muss jedes Mäuschen lernen.

Mein Blumenbeet – einst bunt und schön – es hat schon große Lücken.
Ich werde vorm nach-Hause-gehn die letzten Blumen pflücken.

Die Uhr schlägt fünf, nun wird es Zeit, den Garten zu verlassen,
bald macht sich Dunkelheit schon breit auf Wegen und in Gassen.

Ich bring die Blumen nun ins Haus, auf einmal wird mir klar,
dass noch kein zweiter Blumenstrauß so schön wie dieser war.

Das klingt doch irgendwie altmodisch oder zu poetisch für die heutige Zeit, oder? Aber wenn man einmal innehält und sich als Teil dieser wunderschönen Natur begreift, kann man seinen Gedanken Flügel wachsen lassen.

Ich schrieb die Verse 2017 an einem wunderschönen sonnigen Herbsttag auf der Bank vor unserem Gartenhäuschen und ahnte noch nicht, dass der Abschied vom Sommer auch der vom Garten werden sollte…

Als ich neulich das Gedicht wieder in den Händen hielt, wurde mir bewusst, dass ich über Jahrzehnte mit diesem kleinen Fleckchen Natur buchstäblich verwurzelt war.

Als kleines Mädchen besuchte ich in den 1960iger Jahren öfter mit meinen Eltern meinen Opa, der in einer Bauhaussiedlung wohnte. Jede Wohnung hatte schon eine eigene moderne Toilette mit Spülung und sogar einen Balkon, wo man im Sommer draußen sitzen konnte. Der Hinterausgang führte direkt hinauf zum Wald. Rechts vom Aufgang gab es einen gemeinsamen Wäscheplatz und links für jeden Mieter noch einen kleinen Streifen Land für ein Beet, einen Platz für Brennholz oder einen Kaninchenstall. Viele Menschen lebten in der Siedlung und da waren auch jede Menge Kinder zum Spielen. Die meiste Zeit verbrachte man als Kind ja draußen und da war immer etwas los. Doch was mich genauso begeisterte, war Opas schöner Garten, nur einige Meter vom Haus entfernt. Oftmals saß ich auf der kleinen selbst gebauten Bank inmitten von Astern, Löwenmäulchen und Dahlien und wartete, bis Opa noch etwas selbst gepflücktes Obst oder ein paar Möhren oder Radieschen in einer Tüte verstaut hatte. Davon wurde auf dem Heimweg gleich gekostet.

Anfang der 1970ger Jahre zog ich mit meinen Eltern in genau diese Wohnanlage. Nun gehörten die Kinder, der Spielplatz, die Gärten und der nahe Wald zu meinem direkten Umfeld. Täglich ging es nach der Schule hinaus, denn da war immer etwas los. Oft ging es zum Spielen in den Wald.

Aus Moos und Ästen bauten wir geheime Verstecke. Auf dem Spielplatz spielten wir Völkerball, Hüpfkästchen, Gummitwist, Versteckspiele und vieles mehr. Roller, Fahrrad oder Puppenwagen waren immer mit von der Partie. Und weil man nichts versäumen wollte, wurde das Abendbrot ganz nebenbei draußen verzehrt. Auch im Winter traf man sich draußen zur Schneeballschlacht oder wir bauten eine Schneeburg, so groß, dass möglichst viele Kinder hinein passten.

Opas Garten geriet ein klein wenig in Vergessenheit für mich. Für ihn war er ein Kleinod und nach der Arbeit sein Lebensmittelpunkt. Wie stolz war er über jede Blume, die unter seiner Pflege gedieh. Mühselig versorgte er seine Schützlinge mit Wasser, was ja nicht so einfach war. Im Garten selbst gab es keine Wasserstelle. Doch zirka 200 Meter entfernt war ein kleiner Brunnen, den ein Bächlein aus dem Wald speiste. Der Weg bis dorthin war steil und beschwerlich. Wie sich Opa mühte mit Eimern und Kannen hatte ich damals nur nebenbei wahrgenommen…

Nach der Schulzeit verließ ich Ruhla für drei Jahre. Doch nach meinem Studium in Leipzig stand für mich fest, dass ich eigentlich nur in Ruhla leben wollte.

Bald wurde eine Familie gegründet. Es herrschte damals Wohnungsnot und wir waren froh, dass wir mit unserem kleinen Töchterchen eine Wohnung im Nachbareingang ergattern konnten. Ein Jahr später war mit der Geburt unseres Sohnes die Familie komplett. Mein Mann hatte schon vor der Hochzeit ein paar Quadratmeter Land pachten können, auf dem wir ein paar Hühner hielten. Dieses kleine Stückchen Erde wurde von uns oft aufgesucht. Außerhalb des Hühnerauslaufes war unter einem stattlichen Mirabellenbaum ein kleines Stückchen ebene Wiesenfläche. Dort fand sich Platz für eine Gartenbank und einen Sandkasten für unsere beiden Kinder, alles Marke Eigenbau. Wenn es im Sommer schön warm war, wurde ein Planschbecken für die Kinder aufgeblasen. Damit sie auch darin baden konnten, transportierten wir das Wasser eimerweise aus unserer Wohnung im vierten Stock über den Spielplatz dorthin. Wir haben auf diesen paar Quadratmetern schöne Sommertage verbracht. Langweilig war es nie.

Oma war auch oft mit von der Partie. Auch sie genoss die Stunden im Grünen und freute sich, den Enkelkindern beim Spielen zusehen zu können. Für die Kinder, die nun langsam größer wurden, war auch der Spielplatz ganz nah und wir konnten sie unbesorgt ziehen lassen.

In den 1980ger Jahren hatten wir die Möglichkeit, einige Meter entfernt ein kleines Hanggrundstück zu pachten, gleich neben dem Garten von meinem Opa, der bereits seit einigen Jahren verstorben war. Erst hieß es, Ordnung zu schaffen. Es hatte sich im Laufe der Jahre dort allerhand Unrat angesammelt. Das Gelände war sehr steil, aber es gelang uns, einen ebenen Platz zu schaffen der groß genug war, um ordentliche Gartenmöbel aufstellen zu können. Oberhalb des Platzes auf der Wiese war ein riesiger Blaubeerfleck, den die Kinder im Sommer plündern konnten. Und für unseren Familienhund gab es dort viel Auslauf.

Als die Wende kam konnten wir so einiges verändern. Die Ausstattung an Gartenmöbeln wurde komfortabler, man konnte sich ja nun jeden Wunsch erfüllen, wenn man das nötige Kleingeld dazu hatte. So kamen Grill und Partyzelt hinzu, ein Indianerzelt für die Kinder und dann auch mal ein. kleines Hauszelt, wo wir ab und zu ein Wochenende verbrachten. An schönen Wochenenden ging es mit Kaffeekanne und Kuchen immer hierher.

Nun hatte es sich ergeben, dass ein weiteres Grundstück von seinen Inhabern nicht mehr genutzt wurde. Dieses lag genau zwischen dem neuen und dem alten und dort stand auch noch ein Gartenhäuschen, welches wir erwerben konnten. So kamen wir zusätzlich zu einer Campingtoilette und Gerätehaus, Beeten und viel Grünfläche zum Pflegen. Ein Teil davon war das kleine Stückchen Berghang, wo mein Opa damals seine Beete hatte. Weil nun viel mehr Arbeit für die Pflege des Geländes auf uns wartete, wurde neben Geräten für die Blumen-, Rasen- und Heckenpflege ein zweites Gerätehaus angeschafft.

Nach der Jahrtausendwende wurde die Bauhaussiedlung umfassend saniert. Viele Familien zogen damals aus, um den Baumaßnahmen zu entgehen. Da einige Jahre zuvor eine schwere Erkrankung meine Selbstständigkeit sehr eingeschränkt hatte, beschlossen wir zu bleiben. Wir hatten ja auch noch den Garten, wo man dem Baulärm mal entrinnen konnte. Unsere Kinder waren schon aus dem Haus und für uns war das eine gute Lösung. Gleich morgens, als der Baulärm begann, ging es hinaus und am Abend erst wieder zurück. Nun konnte ja alles nur noch besser werden. Der Garten wurde damals zu unserem Lebensmittelpunkt. Es hatte auch an Arbeit nie gefehlt. Schließlich war ein großes Areal in Ordnung zu halten: Rasen mähen, Hecken schneiden, Zäune reparieren, Wege säubern, Stufen erneuern, Stützmauern bauen und ausbessern- und das nicht nur im, sondern auch außerhalb des Geländes. Da war ja niemand, mit dem man die Arbeit hätte teilen können. Die meiste Arbeit blieb also für meinen Mann. Doch auch ich konnte mich nach und nach mehr daran beteiligen. Die Natur war ohnehin der beste Therapeut, das war mir klar. Ich war dankbar dafür, mich dort ohne jeglichen Druck betätigen zu können.

Inzwischen hatte sich auch die Familie vergrößert, wir wurden Großeltern. Für unsere Enkel gab es in unserem Garten viele schöne Erlebnisse in freier Natur. Oftmals traf sich die ganze Familie zu einem gemütlichen Grillnachmittag.

In der neu sanierten Siedlung indes hatte sich viel verändert. Doch eine Hausgemeinschaft wie früher gab es nicht mehr und wir wurden immer mehr zu Fremden in der uns früher so vertrauten Umgebung. Wir planten den Umzug und packten eines Tages all unsere Sachen. Den Garten wollten wir weiterhin pflegen, wenn nun auch ein ganzes Stück Weg dazwischen lag. Zu sehr hing unser Herz daran.

In den kommenden Jahren suchten wir im Sommer so oft es ging den Garten auf. Es wartete dort immer eine Menge Arbeit auf uns. Natürlich gönnten wir uns auch das eine oder andere Stündchen zum Ausruhen. Doch dann kam ja auch immer noch der Heimweg.

Mit der Zeit fiel es uns immer schwerer das alles zu schaffen und wir mussten uns schweren Herzens von dem Kleinod trennen. Zum Glück fand sich eine junge Familie, die den Garten weiterführen wollte. Uns bleiben die Erinnerungen. Diese sind genau so fest im Herzen verwurzelt wie einst die Blumen und Sträucher im Garten. Immerhin hatten in den rund 60 Jahren fünf Generationen viele schöne Erlebnisse auf diesem kleinen Fleckchen Erde.

Ich brachte die Blumen damals ins Haus, bis heute ist mir klar, dass dieser letzte bunte Strauß der allerschönste war.

Petra B.

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Himmel

Warum nur bist du männlich?
Wie eine Frau, die anderen gefallen will,
ziehst du dir immer wieder neue Kleider an
aus Schleiern, Spitzenwerk und Pelz.
Das Schmücken brauchst du.
Du Himmel, männlich.

Und manchmal gehst du nackt –
wie heute, schamlos blau und rein…
Du Himmel, männlich.

Am Morgen kleidet dich ein Rosarot,
und geht der Tag vorbei, dann hüllst du dich in Feuerpracht.
Ein Abgesang schnell vor der Nacht…
Du Himmel, männlich.

Du hältst dich nicht an diese Regel,
dass Männer Schwäche zeigen, wenn sie weinen.
Du Himmel, männlich, lässt die Tränen zu.
Mal sacht und dauernd, mal stürmisch aufgewühlt.
Du Himmel, männlich.

Dein Sternenreigen lehrt mich Demut
in einer lauen Sommernacht.
Du Himmel, männlich.

Und bist du Blei, dann liegst du schwer auf meiner Seele,
Du Himmel, männlich.

2019

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